Angehörige der erschossenen Demonstranten aus Juliaca protestieren am 19. Juli 2023 in Lima ©Hildegard Willer

Vom Sturm auf Lima

Im Juli fanden die Proteste von Anfang des Jahres eine Fortsetzung. Doch sie waren spärlicher besucht als erwartet.

Die dritte „Sturm auf Lima“ beginnt am Nachmittag des 19. Juli auf dem Platz Dos de Mayo in der Altstadt von Lima. Gruppen aus den Vororten malen Transparente; Parteien und Abordnungen aus allen Landesteilen schwingen ihre Fahnen. „Schließt den Kongress“, „Gerechtigkeit für unsere Toten“ und „Verfassungsgebende Versammlung“ steht auf Plakaten und Holztafeln. Tröten und Trommeln befeuern die Stimmung. Lourdes Contreras, 32 Jahre, Soziologin und Bäuerin, ist aus dem nordperuanischen Cutervo angereist. Die kleine Frau mit der Brille trägt den Strohhut der „Ronderas“, der ländlichen Bürgerwehren. Sie war bereits bei den Protesten im Dezember 2022 und Januar 2023 in Lima dabei und ist nun zur dritten Demo nach Lima gereist. Um gegen die Diktatur zu kämpfen, wie sie die Regierung von Dina Boluarte nennt.

Schon seit Tagen ist die Stimmung angespannt in der Hauptstadt. Präsidentin Boluarte warnte im Voraus die Organisatoren der Proteste: „Wollt Ihr wirklich noch mehr Tote?“ und stellte damit klar, dass, falls die Polizei gezwungen sei zu schießen, dies einzig die Schuld der Demonstranten sei.

Denn seit dem 6. Dezember 2023 ist in Peru nichts mehr, wie es war, ganz egal wie sehr Dina Boluarte Ruhe und Ordnung beschwört. An jenem Tag kündigte der linke Präsident Pedro Castillo die Schließung des oppositionellen Kongresses an. Dieser drehte das Heft um, setzte Castillo kurzerhand ab- und fest und rief seine Vize Dina Boluarte zur Präsidentin aus.

Daraufhin legten die indigen geprägten Landesteile im Süden halb Peru monatelang lahm, um den Rücktritt Boluartes und die Schließung des Kongresses zu erreichen. Die neue Präsidentin schickte Polizei und Militär, die 49 Demonstranten vom Volk der Quechua und Aymara erschossen. Einige waren zufällige Passanten oder noch minderjährig. Obwohl mehrere internationale Untersuchungskommissionen der peruanischen Polizei Gewaltexzesse und der Regierung Menschenrechtsvergehen nachwiesen, wurde bis heute niemand für diese Toten zur Verantwortung gezogen.

Im Januar dieses Jahres reisten Bäuerinnen und Händlerinnen aus Südperu unter großen finanziellen Opfern in die 1000 Kilometer entfernte Hauptstadt Lima, um die Präsidentin und den Kongress zum Rücktritt zu zwingen und Gerechtigkeit für ihre Toten zu fordern. Sie mussten mit leeren Händen wieder nach Hause fahren. Und versprachen: wir kommen im Juli wieder.

Die Voraussetzungen für massive Proteste waren gut: im Juli 2023 haben bei Meinungsumfragen 80% der Befragten Boluarte abgelehnt, 90% den Kongress. 80% wollten vorgezogene Wahlen und 51% unterstützten die Anliegen der Demonstranten. Dies trotz einer massiven öffentlichen Kampagne, die die Demonstranten als Terroristen darstellte.

Doch am 19. Juli sind dann doch weniger Demonstranten nach Lima gekommen als erwartet. „Viele sind des ewigen Spiels müde: wenn Boluarte und die Abgeordneten gehen, dann gibt es wieder Wahlen und es kommt wieder der gleiche Typ Politiker an die Macht“, kommentiert Lourdes Contreras. In Peru gibt es keine gewachsenen politischen Parteien mehr, sondern ad hoc Wahlbündnisse um aussichtsreiche Kandidaten, die ihre zukünftige Macht zu klingender Münze machen wollen. Nur eine verfassungsgebende Versammlung könnte diesen Teufelskreis aufbrechen, hofft Lourdes Contreras.

Eland Vera ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität in Puno, einer Hochburg der Proteste Anfang des Jahres im Süden Perus. 12 junge Menschen wurden dort am 9. Januar dieses Jahres von der Polizei dort erschossen. Die Menschen seien immer noch empört. Die Proteste haben den alltäglichen Rassismus in Peru aufgezeigt. Noch hat sich aus der Protestbewegung keine Partei der Quechua und Aymara-Indigenen gebildet. „Aber die Bedingungen dafür sind da“, meint Vera.

Positiv sieht Vera, dass am 19. Juli auch Vertreterinnen der liberalen linken Mittelschicht aus Lima auf die Straße gegangen sind. Hier könnte sich eine neue Allianz bilden, zwischen indigenen Bauern vom Land und linken Städtern, hofft Vera. Doch noch fehlen Führungsfiguren, die das kollektive Unbehagen kanalisieren.

Gründe fürs Unbehagen gibt es genug. Boluarte und der Kongress stützen einander in ihrer Absicht, bis 2025 im Amt zu bleiben, und schwächen dafür gezielt funktionierende Institutionen zugunsten von Partikularinteressen.

Dies hat auch der grüne Abgeordnete und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Max Lucks, bei seinem jüngsten Arbeitsbesuch in Peru festgestellt. Nicht nur die Menschenrechtslage Perus sei bedenklich, sondern auch wie demokratische Institutionen zunehmend von der Regierung kooptiert und die Gewaltenteilung untergraben werden.

Doch obwohl es Gründe genug gibt zu protestieren, blieben auch am 28. und 29. Juli viele Bürgerinnen und Bürger trotz ihres Unbehagens an der politischen Situation lieber zu Hause. Die Gründe: Angst vor der Repression der Polizei; Angst vor weiteren finanziellen Einbußen vor allem bei den Demonstranten aus Südperu, die die lange Fahrt nach Lima nicht mehr unternehmen wollten. Sicher auch mangelnde Identifikation der städtischen Bevölkerung Limas mit dem Quechua und Aymara-sprechenden Süden Perus.

Die Demonstrationen in Lima waren zwar nicht spärlich besucht; der Journalist Cesar Hildebrandt sprach von einem „würdigen“ Protest. Aber das, was man sich unter einem Sturm auf Lima vorstellt, war es eben auch nicht.

Die peruanische Regierung und der Kongress mögen dies als Sieg für sich verbuchen. Doch die Menschen im Süden Perus haben einen langen Atem. Die Trauer und die Entrüstung über die inzwischen auf 50 angestiegenen erschossenen Mitbürgerinnen und Mitbürger hält an und wird sich einen anderen Kanal suchen.

Abgeänderte und aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst in der taz erschien.

Hildegard Willer