Fujimorismus 2.0?

 

Viele Kommentator*innen der politischen Krise in Peru vergleichen die derzeitige Regierung mit dem Regime von Alberto Fujimori in den 1990er Jahren und haben den Begriff „Fujimorismus 2.0″ geprägt. Im Kontext der Proteste am 19. Juli in Lima veröffentlichen wir eine Analyse von Pilar Arroyo: Welche Ähnlichkeiten, welche Unterschiede gibt es zwischen der Regierung Boluarte und dem Regime von Alberto Fujimori?

Folgende Übereinstimmungen der Regierung Fujimori und der Regierung Boluarte lassen sich beobachten:

Beide sind „Demokraturen“: Noch gibt es öffentliche Räume der Diskussion und der Bürgerbeteiligung, in denen der politische Austausch bisher überlebt hat, auch wenn Organisationen der Zivilgesellschaft, Einzelpersonen, Medien, Parteien, Kirchen und Universitäten in ihrer Tätigkeit stark eingeschränkt sind. Es besteht also eine Art Übergangsregime, das als „Demokratur“ bezeichnet werden kann.

Wenn dieser öffentliche Raum für den politischen Diskurs nicht mehr existiert, dann ist es eine Diktatur. Diesen Raum, der uns noch von der offenen Diktatur unterscheidet, gilt es mit aller Kraft zu verteidigen, um zu einer echten Demokratie zurückzukehren.

Das neoliberale Wirtschaftsmodell: Die Organisation der peruanischen Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich als “maximaler Markt” mit “minimalem Staat” zusammenfassen. Mit anderen Worten: Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung für die Grundversorgung der Bevölkerung und für eine gerechte Verteilung des Volkseinkommens, hauptsächlich durch Steuern, zurück. Alberto Fujimori führte das neoliberale  Modell in den 1990er Jahren ein. Es bestimmt bis heute die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Ordnung. Mehr als 30 Jahre später ist dieses Modell sozial und politisch überholt, aber die Regierungskoalition hält daran fest.

Die Verteidigung der Verfassung von 1993:  In der Verteidigung der “Fujimori-Verfassung“ geht die derzeitige Regierungskoalition so weit, dass sie diejenigen, die eine Verfassungsänderung fordern, als Terrorist*innen bezeichnet.  Staatsanwaltschaft und Justiz haben am 15. Februar in Ayacucho sieben Personen in Untersuchungshaft genommen und sie des Verbrechens des Terrorismus beschuldigt, weil sie eine verfassungsgebende Versammlung gefordert hatten.

Die Zerstörung der Institutionen des Landes: Alberto Fujimori hat die Autonomie des Verfassungsgerichts, der Justiz und anderer Institutionen abgeschafft, und damit auch das für eine Demokratie notwendige Gleichgewicht und die gegenseitige Kontrolle der staatlichen Gewalten. Die autoritäre und konservative Koalition, die heute an der Macht ist, tut genau das Gleiche. Sie hat einen Ombudsmann (Defensor del Pueblo) und Verfassungsrichter ernannt, die ihnen hörig sind und eindeutig verfassungswidrige Gesetze verabschieden. Und sie hat die Regeln für die Staatsanwälte geändert, um sie kontrollieren zu können. Darüber hinaus ist die Koalition bemüht, die Kontrolle über die Nationale Justizbehörde (JNJ) und die verfassungsmäßig autonomen Wahlorgane zu erlangen.

Kampf gegen den Terrorismus zur Konsolidierung der Macht: Alberto Fujimori versuchte mit voller Unterstützung der von ihm kontrollierten Medien, denen er für ihre „Loyalität” hohe Summen zahlte, jedes Anzeichen von sozialer und politischer Opposition als Terrorismus zu diffamieren. (Dieses Vorgehen wird in Peru „terruqueo“ genannt, Anm. d.Ü.)

Die aktuelle Regierung argumentiert genauso.  Alle Berichte über die Morde durch Armee und Polizei während der Proteste im Dezember 2022 und Januar 2023 stellen fest, dass die Regierung mit diesem Argument der Bevölkerung das Recht auf Protest abgesprochen hat. Und in allen Berichten wird der terruqueo durch die Behörden verurteilt und mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass keine Beweise dafür gefunden wurden, dass die Bürger*innen, die ihr legitimes Recht auf Protest wahrgenommen haben, Terrorist*innen sind oder Schusswaffen benutzt haben, wie von verschiedenen Mitgliedern der Regierungskoalition wiederholt behauptet wurde.

Systematische Menschenrechtsverletzungen: Beide Regierungen haben schwere Menschenrechtsverletzungen begangen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und daher nicht verjähren und jederzeit strafrechtlich verfolgt werden können. Beide Regierungen bringen mit ihrem Verhalten eine tiefe Verachtung der indigenen Bevölkerung zum Ausdruck. Alberto Fujimori sitzt dafür eine Haftstrafe ab. Viele glauben, dass es den Regierungsmitgliedern aufgrund ihres Verhaltens genauso ergehen wird. Fast alle Berichte internationaler Organisationen – Vereinte Nationen, Human Rights Watch, Interamerikanische Menschenrechtskommission, Amnesty International –  stellten Menschenrechtsverletzungen durch den Staat fest.

Sie werden von diversen Machtgruppen unterstützt: Alberto Fujimori verfügte nicht nur über die geballte politische Macht, sondern auch über den Rückhalt der Streitkräfte (militärische Macht), die er durch eklatante Eingriffe wie Beförderungen und Vergünstigungen aller Art zu unterwerfen wusste. Er hatte auch die Unterstützung der Mehrheit der Medien und des konservativen Teils der katholischen Kirche, vertreten durch Kardinal Cipriani und die damals zahlreichen Bischöfe des Opus Die (ideologische Macht).  Auch die in- und ausländischen Unternehmen und die internationalen Finanzorganisationen (wirtschaftliche Macht) waren mit der Umsetzung des liberalen Modells sehr einverstanden und gaben Fujimori ihre volle Unterstützung.

Die Regierung Boluarte hat die Unterstützung der politischen Macht durch ihr Interessenbündnis mit dem Kongress (dominiert von der extremen Rechten und der extremen Linken, die pragmatisch zusammenarbeiten), mit dem Verfassungsgericht, der Staatsanwaltschaft und einem großen Teil der Richterschaft. Den Rückhalt der Streitkräfte und der Nationalen Polizei sichert sie sich durch die Gewährung von Vergünstigungen.  Die Wochenzeitschrift Hildebrandt en sus 13 hat bekannt gemacht, dass diese Regierung die größten Waffenkäufe seit 40 Jahre genehmigt hat. Zudem ist die gesamte konzentrierte Presse Teil dieser Regierungskoalition. Doch im Gegensatz zu den Machtgruppen, die Alberto Fujimori unterstützten, handelt es sich heute um “eine diffuse Koalition, die eher implizit und stillschweigend als in Pakten formalisiert ist (…) Es ist eine Koalition, die bereit ist, alles für den persönlichen Vorteil zu tun”, so der Politologe Alberto Vergara.

Folgende Unterschiede sind zwischen den beiden Regierungen auszumachen:

Der erste große Unterschied zwischen der Regierung von Alberto Fujimori und der von Dina Boluarte ist die Stärke der ersteren und die Instabilität der letzteren.  Dazu kommen:

Die Art der Führung: Alberto Fujimori hat mit Hilfe von Vladimiro Montesinos in den 1990er Jahren das Regierungsbündnis auf hegemoniale Art und Weise geführt.  Im Gegensatz dazu ist die Führung von Dina Boluarte äußerst labil und wird von anderen Mitgliedern der Koalition ständig in Frage gestellt. Sie hat die Unterstützung, solange sie für die verschiedenen Interessen der autoritären, konservativen und mafiösen Koalition nützlich ist. War bei Alberto Fujimori die Regierung die Machtzentrale, so spielt bei Boluarte der Kongress diese Rolle.

Rückhalt in der Bevölkerung: Während des größten Teils seiner Amtszeit genoss Alberto Fujimori große Zustimmung in der öffentlichen Meinung.  Die Gründe dafür sind bekannt: Seine Kontrolle über die Medien in einer Zeit, als es noch nicht so viele alternative Medien gab wie heute dank des Internets. So konnte er die Festnahme von Abimael Guzmán, dem Anführer der von Sendero Luminoso, und von Víctor Polay, dem Anführer der MRTA, für sich nutzen. Er profitierte auch von der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage nach der katastrophalen ersten Regierung von Alan García. So konnte er landesweit viele Projekte umsetzen. Alberto Fujimori gelang es zudem, diese Unterstützung der Bevölkerung in die verschiedenen von ihm gegründeten politischen Parteien zu kanalisieren. Eine von ihnen ist unter der Führung seiner Tochter Keiko Fujimori zur stärksten Partei des Landes geworden.

Dass dies bei Dina Boluarte ganz anders ist, belegen eindrücklich die Zahlen der Umfragen des Instituto de Estudios Peruanos (IEP): Die Zustimmung der Bevölkerung zur Präsidentin liegt bei 12 %. 80 % fordern vorgezogene Wahlen. 81 % sind der Meinung, dass es während der Proteste zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. 71 % sagen, dass die Ordnungskräfte bei der Kontrolle der Proteste übertrieben haben. Mehr als 70 % sind der Meinung, dass ihre Grundrechte, das Recht auf Protest und das Recht auf freie Meinungsäußerung, im Land nicht geschützt sind.

Der internationale Kontext: Während der Regierung von Alberto Fujimori wurde von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere von der Europäischen Union, starker Druck in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte ausgeübt, da ein gewisser progressiver internationaler Konsens herrschte. Aus diesem Grund sah sich Alberto Fujimori nach dem Staatsstreich vom 5. April 1992 gezwungen, die Einberufung eines Demokratischen Verfassungskongresses (CCD) anzubieten, um eine neue Verfassung zu verabschieden und zu einer demokratischen Herrschaft zurückzukehren.

Heute ist der internationale Kontext durch den Vormarsch rechtsextremer Positionen gekennzeichnet. Und die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäische Union, ist mehr mit den Folgen des russisch-ukrainischen Krieges, der hohen Inflation weltweit und dem neuen “Kalten Krieg” zwischen den Vereinigten Staaten und China beschäftigt. Deshalb konnte sich die derzeitige Regierung trotz ihres schlechten internationalen Images bisher dem internationalen Druck entziehen.

Die Opposition: Die Regierung von Alberto Fujimori sah sich dem Widerstand sowohl von politischen Parteien als auch wichtiger Teile der Zivilgesellschaft gegenüber, die ihrer antidemokratischen Haltung gewisse Grenzen setzten und ihren Handlungsspielraum einschränkten.  Im Gegensatz dazu hat die derzeitige Regierungskoalition völlig freie Bahn, ihre Ziele umzusetzen.  Einerseits decken sich die Interessen fast aller im Kongress vertretenen politischen Gruppierungen (von Parteien zu sprechen wäre ein Sprachmissbrauch) der extremen Rechten (Fuerza Popular, Renovación Popular, Avanza País) und der extremen Linken (Perú Libre und der verschiedenen Gruppen, in die sie sich aufgespalten hat: Bloque Magisterial usw.) mit den Interessen der Regierung.  Auf der anderen Seite finden wir ein zersplittertes politisches Zentrum und eine völlig zersplitterte Zivilgesellschaft vor, die kaum in der Lage ist, konzertiert zu reagieren. Dies mag auf das völlige Fehlen einer Führung zurückzuführen sein, die über ausreichend ethische Autorität verfügt, um Vertrauen zu schaffen. Es mag auch daran liegen, dass es keinen neuen Diskurs gibt, der alternative Wege aufzeigt, die politischen und sozialen Forderungen der Bevölkerung aufgreift, die Hoffnung wiederbelebt und eine breite Mehrheit mobilisieren könnte, die mit der Art und Weise, wie die Regierungskoalition das Land in den Abgrund führt, nicht einverstanden ist.

Es bedarf eines ernsthaften Versuchs der demokratischen Sektoren, sich zu artikulieren, zu lernen, zusammenzuarbeiten und die Nebensächlichkeiten und Differenzen beiseite zu lassen, die uns daran hindern, eine Opposition zu schaffen, die in der Lage ist, landesweit zu reagieren. Dazu müssen wir unsere Engstirnigkeit ablegen, das Wesentliche vom Nebensächlichen unterscheiden können und das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen.

Pilar Arroyo in IBC-Coyuntura Juni 2023

Gekürzte Übersetzung: Annette Brox