Proteste gegen Dina Boluarte im Juli 2023 in Lima ©Hildegard Willer

Ist das noch Demokratie in Peru?

Annette Brox hat während ihrer Perureise der Demokratie in Peru auf den Puls gefühlt.

„Esa democracia ya no es democracia.” Zehn Tage lang habe ich im September in Lima mit vielen Organisationen und engagierten Menschen gesprochen, mit denen die Infostelle Peru zusammenarbeitet. Und dieser Satz, der auf jeder Demonstration gegen die Regierung Boluarte zu hören ist, wurde in fast jedem meiner Gespräche zitiert. Wie steht es also um die Demokratie in Peru – ist sie wirklich keine mehr? Im Folgenden fasse ich die Beobachtungen, Analysen und Einschätzungen meiner Gesprächspartner*innen zu einem – leider ziemlich düsteren – Panorama zusammen.

Was gerade passiert: Eine autoritäre Regierung entwickelt sich weiter zu einem autoritären Regime. Dass diese Einschätzung sehr ernst zu nehmen ist, zeigen zwei neue Initiativen der Regierungskoalition.

Eine Gesetzesinitiative der Regierung sieht vor, dass schon die Information über Protestaktionen in den Medien strafbar sein soll. Das ist ein klarer Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Die kritische Presse soll als „Unruhestifterin” kriminalisiert werden.

Und Anfang September beschloss der Kongress, Ermittlungen gegen sämtliche Mitglieder der Junta Nacional de Justicia (JNJ) aufzunehmen, ohne dass es dafür begründete Anhaltspunkte gegeben hätte. Die JNJ ist für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten sowie der Mitglieder der Wahlbehörden zuständig. Ihre Mitglieder sollten offensichtlich ausgetauscht und durch regierungstreue Personen ersetzt werden. Dies wäre ein Schritt zur Aufhebung der Gewaltenteilung.

Hinter diesem Vorhaben vermutet Pilar Arroyo folgende Motive (IBC Coyuntura September 2023): Zum einen sollen die Ermittlungen gegen die regierungstreue Generalstaatsanwältin Patricia Benavides blockiert werden. Ihr wird u.a. vorgeworfen, die Ermittlungen im Fall „Cuellos blancos“ (Korruptionsskandal im Oberen Gerichtshof von Callao) behindert und auf der Grundlager falscher Anschuldigungen eine Staatsanwältin entlassen zu haben, die gegen ihre Schwester Emma Benavides ermittelte. Zweitens will die Regierungskoalition mit der Neubesetzung der JNJ die Kontrolle über die Wahlbehörden Jurado Nacional de Elecciones (JNE) und Oficina Nacional de Procesos Electorales (ONPE) gewinnen. Damit könnte sie zukünftige Wahlen in ihrem Sinne beeinflussen. Schließlich könnten mit der Neubesetzung der JNJ Ermittlungen gegen Mitglieder der Regierungskoalition wegen Korruption blockiert werden. Das Vorhaben ist also auch ein Angriff auf eine unabhängige Justiz und damit auf das Prinzip der Gewaltenteilung. Derzeit laufen gegen 47 der 130 Kongressmitglieder Ermittlungen wegen verschiedener Vergehen.

Mit „Regierungskoalition“ meinen peruanische Analyst*innen übrigens nicht eine Regierungskoalition zweier (oder mehr) Parteien, wie wir sie aus Deutschland kennen. Vielmehr geht es um ein breites Bündnis aus Regierung, Kongressmitgliedern, Parteien, Mehrheitspresse und Unternehmertun, die einen Machtblock bilden und die Politik bestimmen. Die Präsidentin wird dabei als Geisel dieser Machtgruppen angesehen, die abhängig von der Gunst dieser Koalition ist. Wird sie fallengelassen, drohen ihr Ermittlungen wegen Korruption und wegen ihrer Verantwortung für die außergerichtlichen Hinrichtungen durch Polizei und Militär während der Proteste Anfang dieses Jahres.

Eine lange Vorgeschichte

Eine Krise der Demokratie wird in Peru nicht erst jetzt diagnostiziert. Peru befindet sich in einer Dauerkrise, und der derzeitige Demokratieabbau hat eine Vorgeschichte, die spätestens 2016 beginnt. Damals entwickelte sich aus der Fujimori-Partei der „Fujimorismus“ als eine Politikform, der sich weitere Parteien anschlossen. Seit 2016 hat der Fujimorismus wiederholt die Erfahrung gemacht, dass er keine Wahlen gewinnen kann. Als Konsequenz daraus verfolgt er jetzt eine neue Strategie, nämlich die Kontrolle über alle demokratischen Institutionen zu gewinnen. Verliert die Wahlbehörde JNE ihre Unabhängigkeit, könnte 2026 der Wahlsieg gelingen. Und selbst wenn wieder kein*e Präsident*in aus dem Fujimori-Lager gewählt würde, hätte der Fujimorismus dennoch die Kontrolle über sämtliche politische Gewalten.

Neben den staatlichen Institutionen, die die Gewaltenteilung garantieren, werden auch zivilgesellschaftlichen Organisationen angegriffen. Sie haben bereits Erfahrung mit Einschüchterung und Lähmung durch extreme administrative Anforderungen gemacht. Von tätlichen Angriffen durch rechtsextreme Gruppen auf das Büro der IDL-Reporteros haben wir bereits berichtet. Die Polizei reagierte nur sehr zögerlich.

Die Zustimmung zur Regierung und zum Kongress in der Bevölkerung ist verheerend schlecht. In der letzten Umfrage des Meinungsinstitutes IEP im Juli 2023 unterstützten ganze elf Prozent der Befragten die Politik von Dina Boluarte. Mit der Arbeit des Kongresses sind sogar nur sechs Prozent zufrieden. In vielen wichtigen Themen zeigt sich die Regierung unfähig, die Probleme zu lösen, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Dengue und bei der Reaktion auf die Zerstörungen durch das Wetterphänomen El Niño im Norden Perus. In einer Umfrage sagen 56 Prozent der Befragten, die Situation sei jetzt schlimmer als unter der Regierung Castillo, sowohl, was akute, als auch, was strukturelle Probleme angeht.

Angesichts dieser verheerenden Werte ist die Regierung sehr bemüht, international ihr Image aufzubessern, und hat dafür ein US-amerikanisches Marketingunternehmen beauftragt. Der OECD-Beitritt soll nicht gefährdet werden. Ein eher hilflose Versuch, sich international und vor der eigenen Bevölkerung gut zu präsentieren, war Boluartes Teilnahme an der UN-Vollversammlung in New York. Auf ihrem Twitterkanal veröffentlichte sie Fotos von Treffen mit US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz und schrieb dazu, dies seien offizielle Treffen gewesen, in denen „über die Stärkung der bilateralen Beziehungen“ bzw. über die „Zusammenarbeit der beiden Länder und die Unterstützung, die Peru von den USA erhält“ gesprochen wurde. Tatsächlich handelte es sich jedoch um kurze zufällige oder rein repräsentative Begegnungen ohne diplomatische Bedeutung. Dies wurde bald offensichtlich und war ein peinliches Eigentor. Ähnlich zu bewerten ist auch Boluartes umstrittener Besuch in Deutschland, Italien und im Vatikan vor wenigen Tagen. Auch hier gab es nicht mehr als repräsentative Termine, die der Präsidentin jedoch eine Bühne boten, sich als demokratisches Staatsoberhaupt zu präsentieren. Dies wurde nicht nur von der Infostelle Peru scharf kritisiert – siehe auch den Beitrag in diesem InfoPeru.

Und was macht die Opposition?

Obwohl die Ablehnung von Regierung und Kongress in der Bevölkerung so massiv ist, sind es die Proteste nicht (mehr). An der letzten Demonstration anlässlich des Angriffs auf die JNJ und die Gewaltenteilung am 16. September nahmen in Lima schätzungsweise 3.000 Menschen teil. Warum gehen nicht viel mehr Menschen auf die Straße?

Viele haben Angst vor Repression, Gewalt durch Polizeikräfte und juristischer Verfolgung. Die Regierung, Polizei und Geheimdienste schüchtern (potenziell) Oppositionelle gezielt und massiv ein.  Wer sich bei den Protesten engagiert hat oder Opferfamilien unterstützt, trifft häufig vor der eigenen Haustür auf bewaffnete Polizisten. Menschenrechtsorganisationen werden in Geheimdienstprotokollen erwähnt.

Die hohe Informalität in der Beschäftigung führt außerdem dazu, dass viele aus wirtschaftlichen Gründen nicht auf die Straße gehen, weil sie dann schlicht und einfach kein Einkommen haben. Insgesamt trägt die wirtschaftliche Situation vieler Menschen dazu bei, dass die Proteste schwach bleiben. Der Aufschrei über die horrenden Preissteigerungen bei Limetten war massiver als der über den Angriff auf die Gewaltenteilung, weil er die Menschen unmittelbarer trifft.

Die Protestbewegung ist gespalten: Anfangs haben die Menschen aus den Regionen protestiert, ohne in Lima Unterstützung zu finden. Jetzt, wo die JNJ und die Gewaltenteilung angegriffen werden, sind es vor allem Menschen in Lima, die auf die Straße gehen, aus Angst vor dem Demokratieabbau. Das wird ihnen von der Landbevölkerung als fehlende Solidarität und Egoismus ausgelegt. „Als sie uns umgebracht haben, seid ihr zuhause geblieben, jetzt – wo ihr Eure Demokratie in Gefahr seht – sollen wir mit euch auf die Straße gehen?“ Vielen Menschen aus den Regionen ist die Frage der Gewaltenteilung und der JNJ zu theoretisch und zu lebensfern, als dass sie dafür auf die Straße gehen würden.

Schließlich fehlt es auch an Persönlichkeiten, die eine große Bewegung anführen und zwischen unterschiedlichen Positionen vermitteln könnten.

Ein Grund für die niedrige Beteiligung an den Protesten ist auch der zunehmende Individualismus in der peruanischen Gesellschaft. Für viele gilt das Motto „Rette sich, wer kann.“ Es herrscht eine gewisse konservative Haltung in großen Teilen der Bevölkerung, die Angst vor Veränderung hat und bestrebt ist, das Wenige, das sie hat, zu verteidigen.

Andererseits ist es aber auch ungerecht zu sagen, die Proteste seien schwach. Die Demonstrationen im Dezember und Januar waren sehr wohl massiv, nur war die Bevölkerung von Lima kaum daran beteiligt. Dass die Proteste danach nachgelassen haben, liegt an den gerade erwähnten Gründen. Trotzdem sind sich alle einig, dass die Opposition schwach ist. Die sehr unterschiedliche Herkunft und Identität der Gruppierungen innerhalb der Proteste machen die Zusammenarbeit schwierig.

Samen der Hoffnung?

Eine Freundin riet mir im Gespräch über dieses wenig Mut machende Panorama, meinen Artikel trotz allem mit „Samen der Hoffnung“ zu überschreiben. Ich bin ihrem Wunsch nicht gefolgt, weil ich so wenig Zuversicht und so viel Sorge in meinen Gesprächen wahrgenommen habe. Aber am Ende sollen sie stehen, die kleinen Lichtblicke und Hoffnungen auf Auswege.

Wenn es Lösungen gibt, dann können sie nur von den Menschen auf der Straße kommen, sagt Glatzer Tuesta von IDL.

Wichtig ist eine kritische Gegenöffentlichkeit zur Mehrheitspresse. Die gibt es.

Unterstützung und Erklärungen aus dem Ausland sind sehr wichtig, wie etwa der Bericht der CIDH (Interamerikanische Menschenrechtskommission), UN-Erklärungen, der Bericht von Amnesty international und zuletzt zwei Erklärungen der Peruanischen Bischofskonferenz und von acht Botschaften zum Angriff auf die Gewaltenteilung. Leider war die deutsche Botschaft nicht dabei.

Bei insgesamt düsterem Panorama ist es ermutigend, dass vor allem die Autonomen indigenen Territorien sehr genau wissen, was sie wollen, und ihre eigene Agenda haben, meinen Nichtregierungsorganisationen, die mit indigenen Völkern arbeiten.

Und trotz schwindender Zuversicht starten zivilgesellschaftliche Organisationen immer wieder neue Initiativen für Menschen- und Umweltrechte, Demokratie und Partizipation. Dabei konzentrieren sich viele nicht mehr so sehr auf die Hauptstadt und die nationale Regierung, sondern auf die Regionen und auf eine Zusammenarbeit auf lateinamerikanischer Ebene. Das ist jedenfalls keine schlechte Entwicklung. Von den Initiativen werden wir in späteren Newslettern ausführlicher berichten.

Annette Brox