Jacqueline Fowks und Edith Calisaya

“Es gibt keine Seife, die das alles abwaschen kann.”

Im Rahmen einer Online-Veranstaltung hatte die Infostelle die freie Journalistin Jacqueline Fowks und Edith Calisaya von der indigenen Organisation OMABASI in Puno zum Gespräch über die politische Krise und indigenen Widerstand eingeladen.

Das folgende Interview ist eine Zusammenfassung der Veranstaltung.

César Bazán: Was hat sich an der politischen Situation in den letzten Wochen geändert?

Jacqueline Fowks: Die Demonstrationen sind weniger geworden, aber es gibt noch welche. Die Demonstrierenden werden weiter von der Polizei sehr schlecht behandelt, z.B. bei einer Demonstration der Angehörigen der Opfer in Huamanga.  Regierungsvertreter reisen jetzt öfter in die Provinzen. Sie erfahren dort eine starke Ablehnung durch die Bevölkerung. Auch in Umfragen ist die Ablehnung gegen die Regierung Boluarte weiter hoch, sie liegt bei 75 Prozent.

C.B.: Wie ist die Situation in Puno?

Edith Calisaya: Am 9. Januar gab es ein Massaker mit Toten und vielen Verletzten. Wir sind danach zweimal nach Lima gereist, um unsere Stimme dort zu erheben und unsere Rechte einzufordern. Auch dort wurden wir angegriffen. Alle Vertreter der indigenen Organisationen und Gemeinden hier haben sich gegen Boluarte gewendet. Jetzt bereiten wir die nächste Reise vor. Gerade ist Erntezeit, die warten wir ab. Dann reisen wir wieder nach Lima, zusammen mit den Vertretern anderer Regionen. Wir wollen nicht, dass unser Reichtum geraubt wird – Gold, Lithium. Wir wollen keine Umweltverschmutzung mehr, denn wir leben von der Erde. Es schmerzt uns so, dass unsere Kinder getötet wurden.

C.B.: Der dritte Marsch nach Lima wird gerade vorbereitet. Besteht die Chance, dass andere Regionen sich anschließen, um mehr Druck auszuüben?

J.F.: Ich weiß es nicht. In Puno gibt es weiter Demonstrationen und einmal pro Woche Streik. Die Angehörigen der Opfer demonstrieren immer häufiger, weil die Untersuchungen schleppend laufen und die Verletzten in den Gesundheitseinrichtungen schlecht behandelt und kriminalisiert werden. Die Protestierenden müssen außerdem Geld sammeln für die Reise- und Aufenthaltskosten und für die medizinische Behandlung.

Die Empörung ist nach den starken Regenfällen noch größer geworden, weil die Regierung nicht in der Lage war, angemessen zu reagieren. Das Land funktioniert nicht. Das könnte – neben den politischen Konflikten – die Proteste verstärken.

C.B.: Gibt es eine Aymara-Identität in den Protesten? Ist es ein indigener Aufstand?

E.C.: Wir sprechen hier verschiedene Sprachen: Aymara, Quechua und Uros. Wir haben unsere Traditionen: Die Gemeindeleitung wird immer zu zweit übernommen, ein Leiter und seine Frau oder seine Tochter. Es kann nie jemand allein die Führung übernehmen. Denn Sonne und Mond sind ein Paar, genauso wie die Pflanzen und Tiere nur paarweise existieren. Daran orientieren wir uns. Dina Boluarte repräsentiert uns nicht, deshalb kämpfen wir weiter. Delegierte aus den verschiedenen Provinzen versammeln sich und sprechen sich ab. Jetzt machen wir wöchentlich einen Streiktag und wechseln uns dabei ab, denn wir müssen ja auch arbeiten und uns um unseren Lebensunterhalt sorgen. Wir sagen vorher nicht, wann und wo wir uns treffen. Das geht ganz spontan – aus Sicherheitsgründen.

Als wir in Lima waren, hatten wir unsere Kinder dabei. Wir können sie ja nicht daheim lassen. Und sie haben uns trotzdem mit Tränengas beschossen. Sie haben kein Gefühl!

C.B.: Ist die Repression der Regierung rassistisch? Gibt es Solidarität in Lima mit Euch?

E.C.: Wir wurden als Terroristen bezeichnet. Und dann hieß es, die Drogenhändler finanzieren uns. Und dann, dass Evo Morales und Bolivien uns Waffen geliefert hätten. Das macht uns wütend. Weil wir unsere Kinder mit nach Lima genommen haben, wurden wir vom Bildungsminister diskriminiert, er hat uns mit Tieren verglichen. Die Parlamentarier behandeln uns genauso. Wir fragen uns, wen haben wir da gewählt? Wir fordern die Wiedereinsetzung von Castillo als Präsidenten. Das System ist kolonialistisch und imperialistisch. Wir gelten als unfähig.

Als wir in Lima waren, hatten wir kein Geld. Da haben wir Unterstützung von anderen Provinzen, z.B. aus Arequipa und Ica, bekommen. Dann haben sie uns unterstellt, wir würden von Drogenhändlern finanziert. Nein, das ist unser Verständnis von gegenseitiger Unterstützung. Es wurde in den Gemeinden gesammelt. Keine Partei, kein Kapitalist hat uns unterstützt. Und in Lima haben uns Leute unterstützt, z.B. mit Schlafplätzen in der Universität San Marcos.

C.B.: Viele Protestierende fordern Neuwahlen. Warum wollt Ihr dagegen die Rückkehr von Castillo ins Präsidentenamt?

E.C.: Wer kandidiert denn bei den Wahlen? Das Geld! Wer wird uns dann regieren: wieder die Rechte, die Korrupten. Deshalb: Erst soll Castillo wieder Präsident werden, dann soll es eine verfassungsgebende Versammlung geben. Die aktuelle Verfassung ist zu wirtschaftsfreundlich. Das verschmutzt unsere Böden und unser Wasser und bedroht unser Leben. Die Unternehmen rauben uns unseren Reichtum, das wollen wir nicht mehr zulassen. Wir wollen ein würdiges Leben. Denn wir haben viel Wissen und Kenntnisse, wir sind viele Professionelle – und so wollen wir behandelt werden!

C.B.: Welche Rolle spielen das Militär und andere staatliche Institutionen in diesem Konflikt?

J.F.: Die Polizisten haben Bonuszahlungen bekommen, nachdem sie Demonstrierende getötet haben. Das Militär spielt eine wichtige Rolle, die Militärspitze äußert sich im Sinne des Regierungsdiskurses und stigmatisiert die Demonstrierenden.

Die Generalstaatsanwältin hat eine Medaille aus den Händen von Lopez Aliaga, dem ultrarechten Bürgermeister von Lima, entgegengenommen. Und sie führt die Untersuchungen im Sinne der Präsidentin. Sie hat zwar eine Sonderkommission für die Ermittlungen eingerichtet. Aber in dieser Kommission hat nur ein Mitglied Erfahrung in Menschenrechtsuntersuchungen, alle anderen sind Vertraute der Staatsanwältin.

Das Justizministerium hat Geld an die Opferfamilien ausgezahlt. Aber es gibt keine Transparenz, wer Geld erhalten hat.

Es gibt eine „autoritäre Koalition“ zwischen Regierung, Kongress, Militär, Polizei und Justiz, und natürlich auch den Wirtschaftsunternehmen und der Presse von Lima.

Das einzige Gegengewicht ist die staatliche Ombudsstelle Defensoría del Pueblo. Gerade wird versucht, auch sie auf die Seite der Regierung zu ziehen.

C.B.: In diesen Tagen kommt der Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH heraus. Wird das die Regierung beeindrucken? Welche Rolle spielt das internationale Image für die Regierung?

J.F.: Die Regierung hat viel Geld für eine Image-Kampagne ausgegeben, die ein US-amerikanisches Unternehmen entwickelt hat. Dazu sagte jemand: „Es gibt keine Seife, die das alles abwaschen kann.“ Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell hat im Europaparlament sehr kritische Fragen zur staatlichen Gewalt bei den Protesten gestellt und einen Dialog über Neuwahlen gefordert. Und die spanische Regierung hat die Lieferung tödlicher Waffen nach Peru untersagt, solange es gewaltsame Unterdrückung gibt. Ansonsten ist die Haltung der Regierungen wenig klar. Am meisten Zurückhaltung gab es von Seiten der USA.

C.B.: Wie siehst Du die Zukunft?

J.F: Peru ist so wenig vorhersehbar. Es ist besser, gar keine Vorhersagen zu treffen, nicht einmal über mögliche Szenarien. Haben im Parlament die politischen Spannungen ein größeres Gewicht oder doch das Bestreben, die eigenen Interessen weiter zu sichern? Viele Parlamentsmitglieder wollen die Zeit nutzen, um ihre persönlichen (wirtschaftlichen) Interessen zu sichern.