Ariana Kana ist zur Aktivistin geworden, weil sie die Auswirkungen des Bergbaus und der Diskriminierung am eigenen Leib erlebt hat.
Und zwar von Kindesbeinen an. Aufgewachsen in der indigenen Gemeinde Huisa in der Provinz Espinar in Cusco (Südperu), engagiert sie sich heute auch als frisch gewähltes Mitglied des Gemeinderats dafür, dass die Bevölkerung von Espinar Zugang zu Grundrechten wie sauberem Wasser erhält.
Wenn Ariana unterwegs ist, schleppt sie oft eine schwere Tasche mit sich herum. Und sie war viel unterwegs in letzter Zeit, in den Monaten vor den Regionalwahlen. Am 2. Oktober wurde die 37-Jährige in den Gemeinderat von Espinar gewählt – eine positive Überraschung, war doch der Hauptkandidat ihrer Partei kurz vor den Wahlen disqualifiziert worden. Aus Gründen, die nicht transparent gemacht wurden, wie Ariana betont. «Ich kann dazu nur sagen: Seltsam, dass ausgerechnet derjenige Kandidat von den Wahlen ausgeschlossen wurde, der sich für die Rechte der Bevölkerung einsetzte. Der Gegenkandidat, der für Bergbau und den so genannten Fortschritt eintrat, wurde dagegen problemlos zugelassen.» Ein umso größerer Triumph also ist der Wahlsieg, der aber auch eine große Verantwortung mit sich bringt. Vier Jahre Amtszeit dürften nicht ausreichen, um die grundlegenden Veränderungen umzusetzen, die Espinar so bitter nötig hätte.
Ein Blick in die 10 Kilo schwere, bunte Tasche an Arianas Schulter enthüllt aber keine Dokumente oder Propagandamaterial, sondern eine Tracht, deren Stoffe einer Farbexplosion ähneln: Sorgfältig gestickte Blumen und Ornamente in allen Farben des Regenbogens leuchten einem von Rock, Schultertuch und Hut entgegen. «Dabei handelt es sich um eine Festtracht, die wir nur zu speziellen Anlässen tragen», erklärt Ariana. «Die Alltagstracht ist schlichter und weniger farbig, doch jeder Distrikt hat ein eigenes Design.
Ariana hat in Arequipa Ernährungswissenschaften studiert und in ihrem Beruf gearbeitet, bis sie auf Grund der gesundheitlichen Probleme ihrer Mutter in die Gemeinde Huisa zurückgekehrt ist. Nun verdient sie ihren Lebensunterhalt mit Ernährungsberatungen und Workshops, die sie online durchführt.
In den Wahlkampfmonaten hat Ariana gelernt, auch vor großem Publikum selbstsicher aufzutreten und ihren Punkt klarzustellen. Oft tut es weh, ihr zuzuhören. Denn sie erzählt von ihrer Kindheit und davon, wie die Bergbauaktivitäten in nächster Nähe ihrer Gemeinde immer mehr überhandnahmen. Wie man nicht mehr ins Dorf gehen konnte ohne Gefahr zu laufen, dass einen auf dem Feldweg Steine trafen, die sich bei den Sprengungen lösten. Und wie der Bergbau – entgegen aller Versprechungen – weder Fortschritt noch Arbeitsplätze brachte, sondern nur die schleichende Vergiftung aller Lebensquellen, und die Entzweiung der Gemeinden. Ariana schließt oft die Augen, wenn sie spricht, als ob alles Erlebte von Neuem an ihr vorüberziehen würde. Ihr Gesichtsausdruck wechselt zwischen Bitterkeit, Wut und wilder, blühender Hoffnung, trotz allem etwas bewirken zu können.
Zwischen zwei Welten
Wie viele junge Indigene bewegt sich Ariana zwischen zwei Welten – der dörflichen Gemeinschaft, in der Traditionen gepflegt werden, und der Großstadt, wo das sogenannte moderne Leben spielt und Politik gemacht wird. Doch die indigene Identität kann man nicht nach Belieben an- und ablegen. Man trägt sie in Herz und Geist mit sich, egal wo man ist. Denn sie verbindet einen nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit seinen Ahninnen und Ahnen – und mit deren Territorium. «In einer indigenen Gemeinschaft geboren zu werden, ist etwas ganz Besonderes», sagt Ariana, «doch das versteht man erst, wenn man in eine andere Realität versetzt wird. Ich erinnere mich, dass wir praktisch nichts aus der Stadt brauchten. Wir bauten unsere Nahrungsmittel an, meine Mutter webte die Decken, mit denen wir uns zudeckten, und stellte Kleidung aus Schafwolle her. Geheizt haben wir mit Feuer, das mit dem Dung der Kühe und Schafe entzündet wurde.» Dass ihre Lebensweise und die jahrhundertealten indigenen Traditionen nicht für alle zum Alltag gehören, erfahren die Kinder in der Regel erst beim Eintritt ins öffentliche Schulsystem. «In der Schule lernten wir, dass es einen Weihnachtsmann oder einen Gott im Himmel geben soll. Doch was für andere Kinder Weihnachten war, war für uns die Zeremonie, in der wir der Pachamama Gaben darbrachten. Wir dankten Mutter Erde, jedem Hügel und jedem Berg für all die guten Dinge, die sie uns zum Leben gaben, und brachten ihnen Respekt entgegen.»
In einer Gemeinschaft aufzuwachsen bedeutet zu lernen, wie man harmonisch zusammenlebt – nicht nur mit der Natur, sondern auch mit anderen Menschen. «Meine Eltern und die ganze Familie unterstützte sich gegenseitig, egal ob wir etwas hatten oder nicht. An den Tagen, an denen wir Gemeindearbeit leisteten, bauten wir zum Beispiel Mauern für den Friedhof oder die Schule, oder Bewässerungskanäle.» Aus dieser Welt, in der alles im Einklang scheint, herausgerissen zu werden, ist für viele indigene Kinder ein Schock. Dazu kommt, dass die Sprache, die man spricht, plötzlich nichts mehr Wert sein soll, genauso wenig wie der Nachname, den man trägt. Auch wenn man wie Ariana die Nachfahrin einer angesehenen Frau war, die einst die Gemeinschaft mitbegründet hatte. Und auch wenn Arianas Nachname, Kana, gleichzeitig der Name ihres Volkes ist. Das alles spielt keine Rolle mehr, wenn man in die Schule gesteckt wird und einen alle blöd anschauen, weil man Quechua spricht. «Sie sagten uns, wir müssten jetzt Spanisch sprechen und unsere Muttersprache vergessen. So erfahren wir schon als Kind, was es bedeutet, in einem Land zu leben, in dem es nicht nur große soziale Unterschiede gibt, sondern Diskriminierung zur Tagesordnung gehört.»
Ariana war die erste Frau aus ihrer Gemeinde, die zur Universität ging. Doch ein Teil von ihr fühlte sich immer fremd unter den anderen Studierenden, denn es gab so viel, was sie nicht mit ihnen teilte. «Obwohl wir alle Peruaner waren, konnte ich mit ihnen nicht über meine Erfahrungen sprechen, darüber, was ich zu Hause erlebte, aß und tat. Denn sie gaben mir ständig zu verstehen, dass es falsch war, dass es nicht genügte und dass ich lieber nicht darüber sprechen sollte.» Viele versuchen sich anzupassen, um dazuzugehören und auch weil sie denken, dass sie sonst beruflich keine Chance haben. Dies führt oft zur Entfremdung von der Familie und den Gemeinschaften. Doch Ariana vertraute ihrem Bauchgefühl, das ihr sagte: «Das ist nichts für mich, am Wochenende auszugehen und zu trinken, Stöckelschuhe und kurze Kleider zu tragen, statt mit meiner Familie zu kochen und Musik zu hören. Dabei fühle ich mich nicht wohl.» So schaffte sie etwas, was nicht viele schaffen: eine höhere berufliche Ausbildung abzuschließen und sich in der städtischen Gesellschaft zu behaupten, ohne die Verbindung zu ihrer Herkunft zu verlieren. Sie tritt in beiden Kontexten selbstbewusst und sicher auf. Dies ermöglicht ihr, eine Brücke zu schlagen und die Interessen der indigenen Gemeinden auch vor nationalen und internationalen Gremien zu vertreten.
Von den Behörden im Stich gelassen
Die größte Herausforderung in der Provinz Espinar sind die gravierenden Konsequenzen des Bergbaus, unter denen die Gemeinden seit vier Jahrzehnten leben: Verschmutzung von Gewässern, Luft und Boden bis zu dem Punkt, dass keine Landwirtschaft mehr möglich ist, sowie die starke Schwermetallbelastung der Menschen, die zu Krebs und anderen Krankheiten führt. «Nach der Schule spielten wir mit unseren Freunden oder Cousins am Fluss», erinnert sich Ariana. «Damals gab es noch Forellen, die hier inzwischen auf Grund der Verschmutzung längst nicht mehr leben können. Aber an einigen Stellen begann sich das Wasser bereits zu verfärben, und es bildete sich ein bleifarbiger Belag, so dass wir nicht mehr auf den Grund sehen konnten. Wir dachten, dies sei natürlich, und spielten mit den Wasserschichten. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es toxisches Abwasser aus dem Bergwerk war und wir uns mit Arsen, Blei und Quecksilber vergifteten.» Doch dann begann plötzlich das Vieh zu sterben und die Leute wurden krank. Im Fluss gab es keine Frösche und Fische mehr. 2020, mitten in der Pandemie, war Arianas Mutter plötzlich halbseitig gelähmt. Bei medizinischen Untersuchungen kam heraus, dass sie unter großer Schwermetallbelastung litt. Sie hatte Arsen, Blei, Kadmium und weitere Substanzen im Blut, die dazu führten, dass ihr Zentralnervensystem zu versagen begann. «Sie wäre fast gestorben und wir versuchten, Hilfe zu bekommen. Die Bergbaugesellschaft sagte, darum solle sich die Gemeinde kümmern, doch hier hatten viele das gleiche Problem und keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Ich gelangte an die Ombudsstelle «Defensoría del Pueblo», doch sie sagten mir, sie könnten nur bei Problemen mit staatlichen Stellen helfen und nicht, wenn es um private Unternehmen ginge. Dann rief ich das Frauenministerium an, aber dort hieß es, sie kümmerten sich nur um Fälle von häuslicher Gewalt. Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte, bis wir Hilfe von einer NGO bekamen. Damals begann ich mit dem Aktivismus und meinem Engagement für die Verteidigung der Umwelt- sowie der Menschenrechte. Denn ich verstand, dass es unzählige Familien in dieser Situation gibt, die einfach von allen Behörden im Stich gelassen werden.
Nicole Maron
Nicole Maron (*1980) ist eine Schweizer Journalistin und Autorin. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Bolivien und Peru. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind umwelt- und sozialpolitische Themen wie Flucht und Migration, globale Gerechtigkeit, Konzernverantwortung, Dekolonisierung und Menschenrechte. In ihrem kürzlich erschienenen Dokumentarfilm «Das Blut des Flusses» zeigt sie die Auswirkungen des Bergbaus auf und erinnert an die große Verantwortung, die der Globale Norden hat – nicht nur als Hauptverbraucher der globalen Ressourcen, sondern auch als Sitz der transnationalen Konzerne.