Der Hafen von Callao bekommt die Rezession auch zu spüren ©Andina/difusion

Die Wirtschaftskrise und ihre sozialen Folgen

Der Artikel ist im Rahmen unserer Online-Veranstaltung „Wirtschaftliche Erholung oder Pleite? Perus Ökonomie und die sozialen Folgen“ vom 8. November 2023 entstanden. In dem Dialog mit zwei Wirtschaftsexperten aus Peru, German Alarco und Giancarlo Castiglione, beschäftigten wir uns mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krisen.

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„Wir sollten von Ghandi lernen: Was ist in der zivilgesellschaftlichen Verantwortung zu machen? –  Wir sollten, ohne gewaltsam zu sein, deutlich zeigen, dass wir sie nicht wollen.“ – German Alarco, Wirtschaftsprofessor an der Universidad del Pacifico, Lima

Zuallererst ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es verschiedene Narrative oder Lesarten zu dieser Wirtschaftskrise gibt. Im Grunde können wir zwischen dem Narrativ des privaten Sektors und dem der Regierung unterscheiden. Es ist Fakt, dass die peruanische Wirtschaftslage derzeit höchst prekär ist. Die Auswirkungen des Wetterphänomens El Niño und auch die der sozialen Konflikte Ende 2022 und Anfang 2023 sind unübersehbar.

Die nationale Produktion nimmt seit 2017 ab, ist nach einem kurzen Aufschwung 2022 wieder abnehmend. Das Bruttosozialprodukt 2023 nimmt in wichtigen produktiven Bereichen im Vergleich zu 2022 ab. Der private Konsum, die privaten und öffentlichen Investitionen nehmen 2023 ebenso ab wie die Exporte. Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit nehmen zu.

In den Visionen der Wirtschaft und sowie der Regierung wird jedoch nicht berücksichtigt, was auf wirtschaftlicher Ebene in Lateinamerika als auch weltweit geschieht. German Alarco stellt fest, dass das peruanische Narrativ sehr egozentrisch ist und dem weltweiten Geschehen wenig Beachtung schenkt. Für die aktuelle Regierung werden die Probleme nicht durch Umwelt- und Klimaprobleme verursacht, sondern wurden in der Legislaturperiode von Pedro Castillo generiert. Für den Privatsektor wiederum sind alle oder die meisten Probleme auf das Ausbleiben privater Investitionen aufgrund der sozialen und politischen Instabilität zurückzuführen.

Strukturelle Probleme

Alarco weist auf die strukturellen Probleme der Wirtschaft hin: Neben der politischen Instabilität sind dies etwa die starke Konzentration auf den kapitalintensiven Export von Rohstoffen, der wenig Beschäftigung schafft, kaum eigene Wachstumsimpulse hervorbringt bei gleichzeitig starken Schwankungen der Einkünfte aus Exporten; eine große Heterogenität in der Produktionsstruktur mit sehr unterschiedlicher Produktivität; eine geringe Steuerlast;  das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnsenkungen und Flexibilisierung der Arbeit; ein hohe Importneigung mit einer überdurchschnittlichen  Marktöffnung und einem Wechselkurs, der inländische Wirtschaftszweige benachteiligt; starke Marktkonzentration mit hoher Präsenz ausländischer Unternehmen, die die Spielräume für peruanische kleine und mittlere Unternehmen reduziert; Import von Wissenschaft und Technologie und geringe Eigeninitiative für den technologischen Wandel.

Auch internationale Faktoren spielen natürlich eine Rolle: die Verlangsamung des Wachstums der Weltwirtschaft und der Vormarsch von Künstlicher Intelligenz und Robotik; der Russland-Ukraine-Krieg mit der Folge von Inflation, Kaufkraftverlust, allgemeiner Verunsicherung sowie Ernährungs- und Düngemittelunsicherheit; neue internationale Phänomene wie Deglobalisierung, neue Produktionsketten und zunehmende Ungleichheit.

Verlangsamtes Wirtschaftswachstum

Aus all diesen internen und externen Faktoren resultiert eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die mit der Pandemie verstärkt wurde.

Die neoliberale (Wirtschafts-)Politik der letzten Jahrzehnte verschärft die Situation: Durch die Liberalisierung des Marktes und die Öffnung der Wirtschaft für den internationalen Handel wurde die einheimische Industrie geschwächt. Darüber hinaus hatte die neoliberale Politik zu einer Privatisierung vieler staatlicher Unternehmen und Dienstleistungen geführt, wie beispielsweise im Bereich der Energieversorgung oder des Gesundheitswesens, was für die Bevölkerung höhere Preise zur Folge hatte. Eine weitere Säule des Neoliberalismus ist die Deregulierung des Finanzsektors. In Peru führte dies zu einem starken Anstieg der Kreditaufnahme und einer Spekulationsblase im Immobiliensektor. Als diese Blase platzte, kam es zu einer Finanzkrise, die das Vertrauen der Investoren erschütterte und zu einem Rückgang der Investitionen führte.

Das Ende eines Wirtschaftszyklus: Rezession, geringe Einnahmen und negative Prognosen

Nach einem anhaltenden Wachstum, das es allein zwischen 2004 und 2019 ermöglichte, die Armut von 59 % auf 20 % zu senken, steht das Land nun vor einer Rezession und negativen Prognosen. Erst vor kurzem hat das peruanische Wirtschafts- und Finanzministerium eingestanden, dass die Wirtschaft in eine Rezession eingetreten ist. Alle Prognosen zeigen, dass die peruanische Wirtschaft in diesem Jahr rote Zahlen schreiben wird. Die jüngsten Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), die vom Nationalen Institut für Statistik und Informatik (INEI) veröffentlicht wurden, bestätigen dies.

Niedrige Steuern

Ein wichtiger Faktor sind die niedrigen Steuereinnahmen aufgrund der niedrigeren Wirtschaftsleistung. Aber auch Maßnahmen der Regierung und des Kongresses haben zur Senkung der Steuereinnahmen wesentlich beigetragen: Die größte Auswirkung auf die öffentlichen Kassen ist auf die geringere Erhebung von massiven Steuern wie der IGV (Impuesto General a las Ventas, Mehrwertsteuer) und der Gewinnsteuer IR (impuesto a la renta) zurückzuführen.

Durch die Senkung der IGV auf 8 % für Restaurants und Hotels gingen dem Land im letzten Jahr rund 740 Mio. S (182 Mio. Euro) verloren. Das Wirtschafts- und Finanzministerium hatte sich dagegen ausgesprochen, denn so können zwischen Oktober 2022 und Dezember 2024 1,2 Mrd. S (300 Mio. Euro) nicht mehr erhoben werden. Allein in den ersten drei Monaten der Anwendung dieses Gesetzes (zwischen Oktober und Dezember 2022) belief sich der Betrag dieser Vergünstigung auf 220 Mio. S (54 Mio. Euro), und in diesem Zeitraum erklärten 22.260 Unternehmen, dass sie diese Vergünstigung in Anspruch genommen hätten, so die Angaben der Nationalen Oberaufsichtsbehörde für Steuerverwaltung (Sunat). Das Wirtschafts- und Finanzministerium lehnte diese Maßnahme auch aus dem Grund ab, da sie nicht den kleinen und mittleren Unternehmen zugutekommt, wie es im Gesetz heißt. Denn die überwiegende Mehrheit dieser Unternehmen zahlt keine IGV, weil sie der vereinfachten Regelung (RUS, Regimen Unico Simplificado) angehören.

Das Ministerium warnte damals, dass die Maßnahme vor allem “großen Unternehmen” zugute käme, einschließlich der Unternehmen der oberen Mittelschicht und der oberen sozioökonomischen Schicht sowie der großen Franchiseunternehmen.

Niedrige Steuerquote

Peru ist eines der Länder mit der niedrigsten Steuererhebung in Lateinamerika.  Die Steuererhebung liegt im Durchschnitt bei 22 %, während sie in Peru in den letzten Jahren zwischen 14 % und 15 % schwankte. Der Durchschnitt in den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt bei 33,5 %. Dabei sind die Steuereinnahmen Grundlage für die Finanzierung von öffentlichen Dienstleistungen und Investitionen.

In einem solchen Kontext ist es umso wichtiger, dass der Staat Steuerschulden eintreibt. Und die sind in Peru erheblich: Laut der Nachrichtenplattform OjoPúblico waren es im August 2023 über 22 Mio. Soles (fast 5,5 Mio. Euro) und damit mehr, als der gesamte Etat für  Bildung im nächsten Jahr. (Zu den Steuerschulden zählen auch Schulden, die Unternehmen anfechten und die vor Gericht verhandelt werden.) Dazu beigetragen hat das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts, das den Erlass von Verzugszinsen anordnete. Dies ermutige große Unternehmen geradezu, ihre Schulden nicht zu bezahlen und Rechtsstreitigkeiten zu verlängern, so der ehemalige Leiter der Sunat, Luis Arias Minaya. Fast ein Viertel der gesamten Steuerschulden fällt dabei auf das Telekommunikationsunternehmen Telefónica del Perú. An zweiter Stelle steht das Bergbauunternehmen Minera Las Bambas S.A., dessen Muttergesellschaft die chinesische MMG Limited ist. Außerdem unter den Top Ten der Steuerschuldner: das Brauerei-Unternehmen Backus und Johnston, die Scotiabank, die chilenische Fluglinie Latam Airlines Peru sowie die Bergbauunternehmen Antapaccay, eine Tochtergesellschaft der Schweizer Glencore, und Minera Chinalco Peru, eine Tochtergesellschaft der staatlichen Aluminum Corporation of China, die das Kupferprojekt Toromocho in Junín betreibt.

Der Vorrang der Wirtschaft vor sozialen und ökologischen Fragen

Die Wirtschaft ist weiterhin mit negativen Ereignissen konfrontiert. Auf die Dürre und die höheren Düngemittelpreise im Jahr 2022, Folge des Kriegs Russlands gegen die Ukraine (mit Auswirkungen auf die Produktion im Agrarsektor), die politischen und sozialen Unruhen und den Wirbelsturm Yaku im ersten Quartal folgten im zweiten Quartal Wetteranomalien im Zusammenhang mit dem El-Niño-Küstenphänomen, dessen Intensität sogar noch größer war als vorhergesagt.

Aufgrund aufeinanderfolgender negativer Ereignisse, hoher Inflation und hoher Finanzierungskosten sind die Ausgaben des Privatsektors zurückgegangen. Das gleichzeitige Auftreten von El Niño Costero und El Niño Global lassen einen Rückgang im Jahr 2023 und sogar 2024 erwarten.

Die Düngemittelpreise hatten sehr starke Auswirkungen auf den Agrarsektor. Die Regierung hat versucht, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, alle Versuche waren erfolglos.

Verschiedene Beratungsunternehmen haben ihre Wachstumsprognosen für die peruanische Wirtschaft in diesem Jahr korrigiert. Macroconsult war eines der ersten und schätzt, dass das BIP im Jahr 2023 bei -0,2 % liegen wird.

Rezession zulasten staatlicher Bildung

Eine Wirtschaft in der Rezession führt zu einem Anstieg der Armut, und im Falle Perus wird diese Auswirkung auf die Bevölkerung bereits das zweite Jahr in Folge auftreten. Mit der Pandemie fand die Bildung hauptsächlich virtuell statt. Der Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Gebieten und zwischen den Wirtschaftsschichten ist deutlicher geworden. Studien des Erziehungsministeriums zeigen, dass die Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen zu Lasten der öffentlichen Bildung zugenommen haben. Auch die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Bildungseinrichtungen. Wobei die Defizite in den ländlichen Gebieten zunehmen. Der stärkste Rückgang der Lernleistungen ist jedoch in der Amazonasregion zu verzeichnen. Was die Arbeitslosigkeit anbelangt, waren vor der Pandemie etwa 70 % der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung in Peru informell beschäftigt. Diese Zahl ist nach der Pandemie auf fast 80 % angestiegen. Das bedeutet, dass die Zahl der prekären Arbeitsplätze zugenommen hat. Auch die Löhne sind im Allgemeinen gesunken.

Bei ausbleibenden Niederschlägen führt die Dürre langfristig zu einer totalen Katastrophe mit massiven wirtschaftlichen Verlusten und der Verarmung der Bauern. Die Erholung wird Jahre in Anspruch nehmen. Allein das spätere Einsetzen und der Rückgang von Niederschlägen führt zu großen Verlusten für die Landwirtschaft, denn jede Ernte hat einen Zeitplan, der nicht verschoben werden kann. Das Armutsniveau wird zunehmen und die Ernährungsunsicherheit wird steigen. Auch die Ungleichheit wird zunehmen, und die Kluft zwischen den sozioökonomischen Schichten, wird ebenfalls größer werden. „Die peruanische Mittelschicht ist eine prekäre Mittelschicht. Ein externer Faktor wie ein Gesundheits- oder ein Sicherheitsproblem kann dazu führen, dass die Mittelschicht in die Armut oder in die extreme Armut abrutscht“, warnt Giancarlo Castiglione.

Was sind die Auswege?

Das Risiko einer wirtschaftlichen Stagnation in Peru ist auf die mangelnde Fähigkeit zu politischen Mindestvereinbarungen zwischen Regierung und Parlament zurückzuführen. Dem Kongress, der hauptsächlich auf Partikularinteressen reagiert und einer Exekutive, die sich nur um ihr Überleben kümmert, steht eine gespaltene Opposition gegenüber.

Die Unternehmen sind der Ansicht, dass mehr Investitionen in den Rohstoffsektoren im Bergbau erforderlich sind. Hierfür fordern sie die Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine Flexibilisierung der Umweltvorschriften. Dies ist die vorherrschende Meinung in den Medien und Wirtschaftskreisen.

Während die Privatwirtschaft das wirtschaftliche Wachstum auf Basis der traditionellen  Sektoren (Bergbau, Öl) und mit derselben Politik wie immer anschieben will (Deregulierung des Arbeitsmarktes, Flexibilisierung der Umweltvorschriften), schlägt German Alarco ein neues politisches, soziales, wirtschaftliches und Umwelt-Abkommen vor, das eine systematische Perspektive der Erholung und Transformation enthält, das kurzfristige Probleme angeht und die Lösung struktureller Probleme vorantreibt: die Stärkung der Nachfrage, die Verbesserung der Wirksamkeit der öffentlichen Ausgaben, Diversifizierung der Produktion und Exporte, ökologische und Steuer-Reformen und Reduzierung der gesellschaftlichen Ungleichheiten.

German Alarco betont die Bedeutung der Zivilgesellschaft, um den politischen Institutionen und ihren Akteuren ein Zeichen zu setzten. Der friedliche Aufstand der Zivilbevölkerung, kann einen wichtigen Beitrag zum Ausweg aus der politischen Krise leisten.

„Wenn wir weiterhin glauben, dass nichts getan werden kann, sind wir auf einem sehr schlechten Weg. Es liegt an der Zivilgesellschaft, eine aktivere Position einzunehmen, indem sie sich an internationale Gremien wendet“, sagt Alarco.

Mona Friedmann

Quellen:

https://www.servindi.org/actualidad-opinion/03/11/2023/de-mal-en-peor

https://ojo-publico.com/4713/economia-rojo-menos-recaudacion-y-millonarias-deudas-tributarias

https://ojo-publico.com/sala-del-poder/fin-un-ciclo-recesion-baja-recaudacion-y-proyecciones-negativas

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