Ein Gespräch mit Mirtha Vásquez zur aktuellen politischen Lage beim Peru-Seminar 2022
Mirtha Vásquez, Menschenrechtsanwältin und Aktivistin, war unter der Übergangsregierung von Francisco Sagasti von November 2020 bis Juli 2021 Parlamentspräsidentin. Im Oktober 2021 wurde sie Premierministerin in der Regierung Castillo, am 31. März 2022 trat sie zurück. Die Infostelle Peru hat sie beim jährlichen Peru-Seminar Anfang Mai 2022 zu einem Gespräch über ihre Einschätzung der Regierung und der aktuellen politischen Lage eingeladen.
Annette Brox hat das Gespräch zusammengefasst:
Die aktuelle Konfrontation zwischen Regierung und Kongress ist nicht neu, sie hat eine längere Geschichte. Offen zu Tage trat sie zum ersten Mal 2016, als die Präsidentschaftskandidatin Keiko Fujimori ihre Wahlniederlage nicht akzeptieren wollte und den Kongress nutzte, um die Regierung zu bekämpfen. Der Machtkampf zwischen Legislative und Exekutive ist eine der Hauptursachen für die anhaltende Regierungskrise.
“Moralischer Unfähigkeit” gegen “Auflösung des Parlaments”
Dabei spielen zwei politische Instrumente eine wichtige Rolle. Das eine ist die Möglichkeit der Amtsenthebung des Präsidenten, die aber nur in sehr besonderen Fällen möglich ist. Einer ist die so genannte „moralische Unfähigkeit“. Sie war ursprünglich nicht gedacht für „moralische Vergehen“, sondern für den Fall, dass ein Präsident geistig nicht mehr in der Lage ist, sein Amt auszuüben. Allerdings wurde nie genau definiert, was mit „moralischer Unfähigkeit“ genau gemeint ist. In den letzten Jahren wurde dieses Instrument von Parteien im Kongress dazu genutzt, einen ungeliebten Präsidenten abzusetzen. Dies wird jetzt auch gegen Castillo versucht – bisher ohne Erfolg. Das zweite Instrument ist die Möglichkeit für den Präsidenten, die Vertrauensfrage zu stellen, z.B. wenn er ein neues Kabinett oder ein wichtiges Gesetzesvorhaben vorstellt. Wenn der Präsident dem Kongress zweimal die Vertrauensfrage stellt und sie verliert, kann er den Kongress auflösen. Diese eigenartige Regelung, beiden – Kongress und Präsident – eine Waffe in die Hand zu geben, führt zur Unregierbarkeit und einem großen gegenseitigen Misstrauen. „Wer zuerst die Waffe zieht, gewinnt.“ Solange dieses System erhalten bleibt, ist mit Neuwahlen nichts gewonnen. Es braucht eine institutionelle Reform des politischen Systems.
Ein schwacher Staat und ein Präsident ohne Rückhalt
Die Schwäche des Staates hat nicht erst mit Präsident Castillo begonnen. Seit vielen Jahren beobachten wir eine Fragmentierung der Parteienlandschaft. Wirkliche Parteien gibt es nicht mehr, nur Wahlvereine ohne politisches Programm, aber mit vielen Eigeninteressen. Diese Tatsache stellt die Repräsentativität der Parlamentarier*innen sehr grundsätzlich in Frage. Im Kongress sitzen Menschen, die nicht nur ungeeignet für diese Aufgabe sind, sondern auch ihre eigenen Interessen verfolgen. Dass es heute noch mehr Ultrarechte und Faschist*innen im Parlament gibt als in den früheren Jahren, macht die Lage für die Regierung noch schwieriger. Auch das Thema Korruption ist nicht neu. Die Vorwürfe gegen die Regierung Castillo sind eher klein im Vergleich zum skandalösen System der „Mega-Korruption“ rund um den Fall „Lava Jato“ (Korruptionsfälle im Zusammenhang mit dem Unternehmer Odebrecht).
Castillo ist ein Präsident ohne Partei und ohne Rückhalt. Perú Libre, die Partei, für die er kandidiert hat, ist nicht seine Partei, sondern die von Vladimir Cerrón. Zu seiner Unerfahrenheit und Unfähigkeit zu regieren kommt hinzu, dass er die falschen Verbündeten um sich schart. Er will Politik nur mit Menschen seines Vertrauens und aus seinem unmittelbaren Umfeld machen. So lässt sich aber ein Land nicht regieren. Ihm fehlt die Kompetenz, die richtigen Verbündeten zu suchen. Er vertraut auf Leute, denen er nicht vertrauen sollte. Sie zeigen sich freundlich, sagen, was er hören will, sie können manipulieren, um an wichtige Posten zu kommen. Castillo ist ein einsamer, Isolierter Präsident.
Im Wahlkampf hatte Castillo Unterstützung vor allem von denen, die gegen Keiko Fujimori waren. Nicht, weil sie ihn für den geeigneten Kandidaten hielten, sondern weil sie Fujimori verhindern wollten. Das ist wichtig zu wissen. Die Regierung hat nie versucht, diese Unterstützer*innen zu halten bzw. für sich zu gewinnen.
Die Linke, die ihn während des Wahlkampfs und in den ersten Monaten seiner Regierung unterstützt hat, zieht sich von ihm zurück. Das hat mit dem „Faktor Cerrón“ zu tun. Die Partei Cerróns hat sich weniger um die rechten Parteien gekümmert, sondern vielmehr die Linke zum Feind erklärt und sie als „Kaviar-Linke“ beschimpft, die keine revolutionären Veränderungen wolle.
„Das Volk“ als letzter Verbündeter der Regierung
Als einziger Verbündeter bleibt für Castillo jetzt „das Volk“ aus den entfernten Provinzen. Aber auch diese Unterstützung bröckelt. Die aktuellen Proteste und Streiks gegen Preiserhöhungen fanden ausgerechnet in den Regionen und ausgehend von den Menschen statt, die Castillo mit Überzeugung gewählt haben. Die sozialen und Basisorganisationen stehen trotzdem weiter hinter ihm. Die Alternative, wenn Castillo nicht mehr Präsident wäre, ist für sie schlimmer. Aber sie fordern, dass er seine Versprechen einhält und Probleme löst – wie etwa den durch den Ukrainekrieg verursachten Mangel an Kunstdünger oder dass die Minenunternehmen Zugeständnisse machen und ihre Zusagen einhalten. Aber die anhaltende Unterstützung durch die Basisorganisationen muss nicht so bleiben. Denn Castillo ändert seinen Umgang mit sozialen Konflikten. Zunächst ging die Regierung tatsächlich neue Wege etwa im Konflikt um die Kupfermine Las Bambas. Es sollte keine Repression mehr geben. Doch bei den aktuellen Protesten gegen die Preiserhöhungen verhängte Castillo eine unverhältnismäßige Ausgangssperre in Lima. Die Rückkehr zu repressiven Maßnahmen gegen Proteste wird ihn die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile kosten.
In ihrem Kampf ums Überleben vernachlässigt die Regierung Politik zu machen. Ein Beispiel: Die Ollas Comunes (Gemeinschaftsküchen), die während der Pandemie entstanden sind, um die Bevölkerung vor Hunger zu bewahren, wenden sich inzwischen gegen die Regierung, weil diese nicht in der Lage ist, ihr Überleben zu sichern. Lebensmittel kommen nicht an, die Versorgungslage wird immer schlechter, weil die Regierung keine Abhilfe schafft. So werden diese sozialen Organisationen plötzlich politisch und sagen: Weg mit dieser Regierung, die nicht fähig ist, unsere Ernährung zu sichern.
Vorgezogene Neuwahlen aus Ausweg?
Viele Peruaner*innen wünschen sich jetzt Neuwahlen. Eine seltsame Haltung, meint Mirtha Vásquez: „Erst treffen wir eine schlechte Wahlentscheidung, und wenn wir das merken, dann wollen wir eine neue Regierung.“ Die Wahlperiode von fünf Jahren müsse jedoch respektiert werden und die Bürger*innen müssen Verantwortung für ihre Wahlentscheidung übernehmen. Ob die Regierung fünf Jahre lang hält, sei aber fraglich: Castillo hat keinen Rückhalt in seiner Partei und die mächtigen Medien sind gegen ihn.
Was kann ein Ausweg aus dieser Lage sein? Auf jeden Fall muss er demokratisch sein! Weder eine Amtsenthebung (die ehrlicherweise Putsch genannt werden muss) noch der Rücktritt des Präsidenten sind die Lösung. Aber wir können auch nicht einfach abwarten, wenn die Regierung sich als unfähig erweist, die Gesundheit und die Ernährung der Bevölkerung zu garantieren. Es muss zu einer politisch einvernehmlichen Lösung kommen. Vorgezogene Wahlen könnten eine gangbare Lösung sein, wenn sie mit einem Übergangsprozess gut vorbereitet werden. Hierzu müsste sich eine zivilgesellschaftliche Bewegung formieren, die einen demokratischen Übergangsprozess fordert und begleitet.
Auf die Frage, warum sie ihr Regierungsamt aufgegeben hat, erklärt Mirtha Vásquez, ihre Motivation in die Regierung einzutreten war eine ultrarechte, faschistische Opposition, die nicht akzeptieren will, dass ein Campesino Präsident wird. Als die Regierung sich dann aber nicht nur als unfähig erwies, sondern auch nicht bereit war Fehler einzugestehen und zu korrigieren, und dann auch noch Korruptionsfälle bekannt wurden, wollte sie nicht mehr Teil dieser Regierung sein. Man könne eine Regierung nicht allein deshalb unterstützen, weil sie eine linke Regierung ist. Alle Regierungsmitglieder müssten den Willen zeigen, sich zu verbessern und sich dafür zu engagieren, dass es den Armen im Land besser geht. Diesen Willen habe sie nicht erkannt, sagt Mirtha Vásquez. Natürlich werde sie sich auch weiterhin, außerhalb der Regierung, gegen die Rechte engagieren; aber gleichzeitig auch sagen, dass die Regierung keinen Willen zur Verbesserung zeigt und in Korruption verstrickt ist.
Zur abschließenden Frage, was wir von Deutschland aus in der aktuell schwierigen politischen Lage tun können, betont Mirtha Vásquez, dass der Blick von außen wichtig ist, wenn man mitten im Konflikt und emotional verstrickt ist. Sie hat die Hoffnung, dass ein Dialog-Angebot von außen, verbunden mit dem Hinweis auf Fehler und Irrtümer, von der Regierung besser angenommen werden könnte.
Annette Brox