Demos in Lima ©Andina difusion

Was gerade in Peru geschieht

Der Soziologe Carlos Herz über das, was es braucht, damit Peru wieder aus der Krise kommt.

Die schwere Regierungskrise in Peru besteht seit Jahrzehnten in ständigen Zyklen und hat sich in den letzten Monaten dramatisch verschärft. Ein Jahr nach dem gescheiterten Selbstputsch des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo und der Übernahme der Präsidentschaft durch seine ehemalige Vizepräsidentin, Dina Boluarte, befindet sich Peru in einer desolaten Lage. Nach den sozialen Unruhen vor allem im Süden des Landes, die etwa drei Monate andauerten und zu einer brutalen Reaktion der Regierung mit fast 60 Morden, Hunderten von Verletzten und Verhaftungen sowie einem Klima ständiger Kontrolle und Verfolgung führten, ohne dass ein Mindestmaß an Schutzmechanismen für die Bevölkerung gewährleistet wäre, ist ein Rückzug der sozialen Bewegung zu beobachten. Dieser Rückzug scheint jedoch mit den jüngsten Mobilisierungen, die in den kommenden Tagen fortgesetzt werden, überwunden zu werden.

Die sozialen Aufstände im Süden waren ein transzendentales und unumkehrbares historisches Ereignis im Bewusstsein und im Leben der dortigen Bevölkerung, auch wenn sie nicht zu einer schlagkräftigen landesweiten Aktion geführt haben. Von diesem Moment an wurde die fast vollständige Illegitimität sowohl der Regierung als auch des Kongresses deutlich, die in den Umfragen immer wieder zum Ausdruck kommt (90 % des Landes wollen, dass sie alle rücktreten).  Es gab aber noch keine konkreten Aktionen für die Mobilisierung gegen den aktuellen Aufbau eines diktatorischen zivil-militärischen politischen Paktes der Rechten und der extremen Rechten. Dieser Pakt kontrolliert den Kongress, die Regierung, das Innenministerium, einen Teil der Justiz und sogar die Ombusstelle Defensoria del Pueblo – den einzigen verlässlichen Raum, der der Bevölkerung blieb –  sowie die meisten Medien, vor allem die frei zugänglichen. Und um den Kreis zu schließen, kontrolliert sie mehrheitlich das Verfassungsgericht, so dass das Land über keine formellen institutionellen Mechanismen verfügt, die ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit garantieren.

Ihr Hauptziel ist die Kontrolle aller Aufsichtsorgane (z.B. der Nationalen Justizbehörde und der Nationalen Wahlbehörde), um die absolute Macht des Staates mit Hilfe von fadenscheinigen Rechtsmitteln zu erhalten und ihre Agenda der politischen Gegenreformen fortzusetzen.   Dieser diktatorische Pakt nutzt auch die Abwesenheit politischer Parteien und deren Entwicklung zu bedauernswerten Instrumenten im Dienst von Geschäftsgruppen, kriminellen Banden, Mafias illegaler Aktivitäten und Familienclans und Caudillos, sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene, die ihre Macht auf missbräuchliche und skrupellose Weise ausüben.

Hinzu kommt der schwache Druck seitens der Regierungen anderer Länder, obwohl alle internationalen Menschenrechtsorganisationen erklärt haben, dass die Menschenrechte in Peru systematisch verletzt werden, einschließlich der erwiesenen Existenz außergerichtlicher Hinrichtungen. Die klassischen Wirtschaftssektoren haben – wenig überraschend – das antidemokratische und repressive Verhalten der Behörden und die Unsicherheit der Rechtsstaatlichkeit gegenüber einer Regierung und einem Parlament gerechtfertigt und gebilligt, die die Bedingungen für ihre Großinvestitionen garantieren und erleichtern. Das geht zu Lasten der Umwelt- und Arbeitsrechte. Zufälligerweise sind es dieselben Unternehmen, die sich gegen die Ratifizierung des Escazú-Abkommens durch Peru ausgesprochen haben. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass verschiedene konservative politische Akteure, die mit diesem Pakt in Verbindung stehen, eine intensive Kampagne für den Austritt Perus aus der Interamerikanischen Menschenrechtskommission führen. Ein nicht zu vernachlässigendes Element ist die Verallgemeinerung eines Modells, das seit mehr als zehn Jahren in Gebieten angewandt wird, in denen es zu Konflikten über Bergbauaktivitäten kommt: Kriminalisierung, Verfolgung, Ausnahmezustand, willkürliche Gewaltanwendung. Dabei herrscht nach wie vor die koloniale Sichtweise des Staates gegenüber Bürgern und Bürgerinnen, die er nicht anerkennt oder für berechtigt hält, sich zu organisieren, zu mobilisieren und Entscheidungen zu treffen.

Dieses sehr bedauerliche Panorama für die ohnehin schon schwache peruanische Demokratie, hat sich in den letzten Tagen durch Strafanzeigen, welche eine Krise aufdecken, verändert.  Es wurden der Öffentlichkeit Beweise der Korruption, der Bestechlichkeit, der politische Bevorzugung des Stimmenhandels zwischen Kongressabgeordneten und dem Generalstaatsanwalt im Austausch für ihre Straffreiheit angesichts unbestreitbarer gerichtlicher Anschuldigungen, vor Augen führt. Eine Korruption, die Vertreter*innen des Innenministeriums, Parlamentarier*innen und die Präsidentin umfasst, vermischt mit gegenseitigen Anschuldigungen, die die Fragilität autoritärer Bündnisse und die zu erwartenden Möglichkeiten einer neuen Reaktion der Bevölkerung zeigen, deren Geduld, die ihre Grenzen hat, zu Ende geht. Während die Krise der politischen und öffentlichen Institutionen als wesentlicher Teil der Regierungskrise wieder einmal offensichtlich ist, müssen wir auch die Zerbrechlichkeit der sozialen Institutionen und Organisationen sowie die Schwäche ihrer traditionellen Führungen klar sehen und anerkennen – ein Schlüsselfaktor zur Erklärung der dafür, dass die Reaktionsfähigkeit und die allgemeine soziale Mobilisierung begrenzt sind.

Was es braucht für einen Neuanfang

Der neue Höhepunkt der Krise kann eine Möglichkeit sein, um von einer alternativen sozialen und politischen Bewegung aus Maßnahmen vorzuschlagen. Maßnahmen, die einige Bedingungen schaffen, die optimistischer in die Zukunft blicken lassen. Es gibt eine Reihe von Forderungen, die mobilisieren könnten:

  • Der Rücktritt aller Regierungsvertreter*innen und unverzügliche Neuwahlen mit einer Garantie für Transparenz.
  • Dialog- und Verhandlungsformate mit vertrauenswürdigeren nationalen und internationalen Akteur*innen, um einen Übergangsprozess ohne Straflosigkeit und mit besserer sozialer und politischer Beteiligung zu gewährleisten.
  • Die Wiederaufnahme minimaler politischer Reformen, um die Macht politischer Organisationen zu beschränken, die zu Mafias geworden sind (kommerzielle Universitäten, politische Parteien mit privaten Eigentümern, illegaler Bergbau, Straffreiheit für korrupte Kongressabgeordnete), und um die Wiederwahl ihrer katastrophalen Vertreter*innen zu verhindern.
  • Die Errichtung von glaubwürdigen und transparenten Mechanismen für eine neue Ernennung der Richter*innen am Verfassungsgericht und des oder der Bürgerbeauftragten, ohne die undurchsichtigen und unregelmäßigen Verfahren der letzten Wahl.
  • Die Ernennung eines neuen Vertreters der Generalstaatsanwaltschaft und die Wiedereinsetzung der entsprechenden Behörden der Staatsanwaltschaft, die für die anhängigen Verfahren gegen Korruption und gegen die Verantwortlichen für die Tötungen und andere Menschenrechtsverletzungen zuständig sind. Schutz für Umweltaktivist*innen.
  • Die Schaffung der Voraussetzungen für die Erarbeitung einer neuen politischen Verfassung mit größtmöglicher Bürgerbeteiligung und der Anerkennung und Verteidigung eines Staates, der die Grundrechte garantiert und fördert.
  • Die Etablierung eines Versöhnungsprozesses, der die Anerkennung der historischen und systematischen Verletzungen einschließt, die vor allem durch den Staat und seine Vertreter, aber auch durch die mit ihm verbundenen oligarchischen Machtgruppen begangen wurden.

Hoffen wir, dass diese neue Krisenspirale Chancen für den Aufbau eines neuen sozialen und politischen Pakts bietet. Einen Pakt mit der Vision eines Landes, das auf den Weg eines demokratischen, vielfältigen, inklusiven und gerechten Konzeptes zurückkehrt, mit erneuerten Institutionen und einer neuen Führung. Es noch weitere Herausforderungen zu bewältigen um ein Land aufzubauen, das auf einem Wirtschaftsmodell der Reaktivierung, Umverteilung, Diversifizierung und Dekarbonisierung basiert, angesichts von Extraktivismus, Klima- und sozialer Ungerechtigkeit, extremer Informalität, massiven illegalen Aktivitäten und Geldwäsche, mangelnder öffentlicher Sicherheit und organisierter Kriminalität. Zuletzt, eine neue Vereinbarung der Menschen untereinander sowie zwischen Mensch und Natur. Es ist ein langer Weg, aber wir sollten ihn mit Entschlossenheit und Zeitlichkeit beschreiten.


Carlos Herz Saenz ist Direktor des Centro Bartolome de las Casas in Cusco.