© Sondra Wentzel

Wahlsieg des andinen Populismus…

…… und ein zersplitterter Kongress. Andreas Baumgart analysiert die Wahlen in Peru.

Aqui encuentra el análisis de Andreas Baumgart en castellano victoria electoral del populismo andino-2021-04-18

Der Wahlsieg des allgemein als links bis linksradikal eingestuften Präsidentschaftskandidaten Pedro Castillo von Perú Libre hat für große Überraschung gesorgt. Er geht nun mit der Zweitplatzierten Keiko Fujimori von Fuerza Popular, die der radikalen Rechten zugeordnet wird, am 06. Juni in die Stichwahl. Momentan überwiegen noch Entsetzen, Ratlosigkeit, Angst und Sorge angesichts dieses Ergebnisses. Für die große Mehrheit der Peruaner*innen sieht es ersteimal nach einer Wahl zwischen „Cholera und Pest“ aus, sofern sie überhaupt eine Wahl treffen möchten. Eine besondere Tragödie vor dem Hintergrund der schon grassierenden Corona-Epidemie und dramatischen ökonomischen wie politischen Krise.

Das unvorhergesehene Ergebnis hat die Debatte über die kulturelle Heterogenität der Gesellschaft, die starken Gegensätze zwischen Reichtum und Armut, Stadt und Land, zwischen Anden und Küste, Anden und Amazonas sowie Regionen und Hauptstadt stark befeuert. Wie gut kennen wir das „tiefe Peru“, fragen sich viele Menschen aus den verschiedensten politischen Lagern und auch sozial und zivilgesellschaftlich engagierten Menschen mit Wohnsitz in Lima und anderen größeren Städten.

Die Situation ist ausgesprochen kompliziert, die Gemüter erhitzt und viele Kommentare und Analysen sind Schnellschüsse, die in vielen Fällen entweder an der Realität vorbeigehen, sie nur bruchstückhaft einbeziehen oder persönliche Befindlichkeiten wiedergeben, die zwar verständlich, aber nicht hilfreich sind, möchte man ein möglichst realistisches Gesamtbild erhalten.

 

 

 

Viele Aspekte der Wahl sind aber nicht so rätselhaft, wie sie momentan erscheinen und viele Selbstzweifel, die besonders im Lager der unterlegenen traditionellen und neuen Linken von Juntos por el Peru und Frente Amplio zur Zeit geäußert werden sind nur zum Teil angebracht. Für fast alle Phänomene gibt es nachvollziehbare Gründe und die gesellschaftlichen Probleme sind schon lange bekannt. „Jetzt müssen wir erst einmal zuhören“, hat Veronika Mendoza von dem Linksbündnis Juntos por el Perú in Hinblick auf kommende Entwicklung und politischen Positionierungen gesagt. Das ist so richtig und wichtig wie unaufgeregte Analysen, die in nächster Zeit hoffentlich über die politische Konjunktur hinaus in die Tiefe gehen. Es sind noch 8 Wochen bis zu der Stichwahl und in dieser Zeit werden Pedro Castillo und Keiko Fujimori zahlreiche Verhandlungen mit den anderen Parteien führen und Kompromisse schließen. Was dann noch von den vielen Versprechungen und unversöhnlichen Positionen übrigbleibt, werden wir sehen.

 

Meine hier vorgestellte Analyse ist eine Vorläufige und erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch absolute Richtigkeit und ist aus Sicht einer (selbst-) kritischen linken Position heraus geschrieben. Der Schwerpunkte liegen dem Wahlresultat entsprechend auf der Einordnung von Pedro Castillo und der Partei Peru Libre, für die er quasi als Gast kandidiert hat. Ebenfalls auf dem Abschneiden der anderen als links eingestufter Parteien mit nationaler oder bisher regionaler Reichweite und auf einer Einschätzung möglicher Parteibündnisse auf Basis programmatischer und ethisch-moralischer Übereinstimmungen. Die wichtigsten Parteien aller politischen Ausrichtungen sind in früheren Artikeln vorgestellt und werden hier ohne vertiefende Erläuterungen angeführt.

 

Das bisherige Wahlergebnis

Noch gibt es kein amtliches Endresultat, aber nach Auszählung von 99% der Wahlakten ist das Gesamtbild klar. Das Ergebnisse für die Aufteilung der Sitze im Kongress ist in wenigen Tagen zu erwarten. Ein realistisches Bild über die politischen Kräfteverhältnisse ergibt sich dabei nur, wenn die Ergebnisse für die Präsidentschaft getrennt von denen des Kongresses betrachtet werden. Die Präsidentschaft bestimmt die Regierung, der Kongress die tatsächliche Repräsentativität der Parteien und deren Stärke. In der folgenden Übersicht sind Ergebnisse in Prozent und Stimmenanteilen angeführt, um auch sehen zu können, von wieviel Wähler*innen wir jeweils sprechen. Die Parteien, die weit unter der 5%-Hürde bleiben hier außen vor. (Siehe Tabelle unten)* Ausgehend von dem offiziellen Auszählungsstand der ONPE vom 15.04.2021, sehen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl folgendermaßen aus:

  1. Perú Libre mit Pedro Castillo 19,11%; 2. Fuerza Popular mit Keiko Fujimori 13,36%; 3. Renovación Popular mit Rafael López Aliaga 11,68%; 4. Avanza País mit Hernando de Soto 11,58%; 5. Acción Popular mit Yonhy Lescano 9,10%; 6 Juntos por el Perú mit Verónika Mendoza 6.63%; 7. Alianza para el Progreso mit César Acuna 6,03%; 8. Victoria Nacional mit George Forsyth 5,62%; 9. Podemos Peru mit Daniel Urresti 5.61%; 10. Partido Morado mit Julio Guzmán 2,24%; 11. Partido Democrático Somos Peru mit Salaverry: 1,66%; 12. Frepap nur Kongress mit 4,63%;

Mit 29,8% sind trotz der Wahlpflicht noch nie sind so viele Menschen den Wahlurnen ferngeblieben und noch nie wurden so viele Stimmzettel leer oder ungültig abgegeben. Hinsichtlich der Präsidentschaft sind es ca. 18% der abgegeben Stimmen und hinsichtlich des Kongresses sogar ca.25%.

Noch steht nicht exakt fest, wie viele Parteien am Ende die 5%-Hürde oder andere Kriterien erfüllen, um in den Kongress einziehen zu können. Es könnten zwischen 9 und 12 werden.

 

Ein herber Schlag gegen Frauenemanzipation

Die Analyse bezieht sich auf die Wahlergebnisse und nicht auf die peruanische Gesellschaft als solche. Alle Parteien haben wenige Stimmen und sind deshalb weder für Mehrheiten repräsentativ noch drücken sie homogene Parteipositionen aus. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass es keine starken traditionellen Parteien mehr gibt und es sich dabei um lose Gebilde unterschiedlicher Interessensgruppen und Personen bis hin zu Familienclans handelt, die sich von Konjunktur zu Konjunktur häufig wechselnde Führer scharen. Allgemeine gesellschaftliche Trends spiegeln sich aber in ihnen wider.

 

Auf Wahlebene stellt das Ergebnis einen herben Schlag gegen Frauenemanzipation, Feminismus, sexuelle Selbstbestimmung, Genderstandpunkt und Abtreibungsrecht dar. Trotz einiger Unterschiede im Detail und Fanatismus, treffen sich hier fast alle Parteien auf den oberen Rängen: Peru Libre, Fuerza Popular, Renovación Popular, Avanza Pais, Alianza para el Progreso und Podemos Peru. Ebenso lässt sich von einem Sieg des autoritären Zeigefingers in Schule und Gesellschaft sprechen. Im Kongress könnte eine Mehrheit für den Rückfall in Bildungsinhalte entstehen, aus denen alle lebensweltlichen modernen Inhalte gelöscht und das alte patriarchalische Familienmodell und die traditionelle Sexualitätsfeindlichkeit wieder einkehren. Bei wenigen Ausnahmen wie z.B. Veronika Mendoza von Juntos por el Perú, haben wir einer autoritären Caudilla Keiko Fujimori und vielen männlichen Pendants zu tun. Insofern ist es auch ein Sieg des Populismus mit seiner Hoffnung auf heilbringende Führer*innen, der mit einer gefährlichen Verachtung des demokratischen Rechts und der Gewaltenteilung einhergeht. Außerdem haben wir es mit einem Sieg des klassischen ökonomischen Fortschrittsglaubens zu tun, der die weitere massive Zerstörung der Umwelt einschließt. Das Ende der einzigen links-ökologischen Partei „Frente Amplio“ zeugt u.a. davon. Perú Libre spricht sich zwar für eine „verantwortliche Rohstoffförderung“ aus – das neue Modewort von links bis rechts – und das Ende einiger Großprojekte, jedoch nicht vorrangig aus ökologischen Gründen, sondern zur Vermeidung gesellschaftlicher Konflikte. Perú Libre ist nicht umweltfreundlich, sondern spricht sich für die Ausbeutung des Landes durch nationale Firmen aus, was die weitere „Erschließung“ des Amazonas miteinschließt. Von der Förderung von Gas, Öl, Uran, Lithium, Kupfer und anderen Rohstoffen sollen die peruanische Wirtschaft und endlich auch die marginalisierten Provinzen profitieren.

 

Gleichzeitig lässt sich von einem Sieg des rechten politischen Lagers im weitesten Sinn sprechen. Nimmt man dessen Stimmen zusammen, bildet es den stärksten ideologisch verwandten Block im Kongress. Ich habe mir die Ergebnisse der Wahlen von 2016, 2020 und 2021 in absoluten Zahlen einmal genauer angeschaut. Dabei hat sich gezeigt, dass die linken und die außerhalb Limas verankerten, andin-populistischen oder religiöse Parteien von 2016 zu 2020 einen starken Aufstieg und nun wieder einen deutlichen Abstieg erlebten. Der Verlust von 2020 zu 2021 beträgt ca. 2 Mio. Stimmen! (Dazu habe ich eine Tabelle erstellt, bei allen Vorbehalten der Vergleichbarkeit) * Diese verlorenen Stimmen verteilen sich nun mehrheitlich auf die extreme Rechte und weniger auf die Mitte. Ob noch Statistiken der Wähler*innen-Wanderung veröffentlicht werden, kann ich nicht sagen.

 

Große Verlierer sind die Indigenen Gemeinschaften im Amazonas, die nicht durch den andinen Populismus repräsentiert werden und unter dessen ökonomistischem Fortschrittsmodell weiter leiden werden. Der Sieg Castillos drückt den Protest eines Teils der andinen Welt und den vernachlässigten Provinzen vom Süden bis Norden Perus aus, der mit einer starken Hoffnung auf ökonomische Umverteilung und Teilhabe am monetären Reichtum, Gesundheitsversorgung, Bildung und gesellschaftliche Aufwertung und Gleichstellung der andinen Bevölkerung verknüpft ist. Und 19% der Wählerschaft setzten ihre Hoffnungen auf einen Kandidaten, der noch nicht mit etablierter Politik identifiziert wird und dessen Partei bisher nicht im Parlament repräsentiert wurde. Nicht zuletzt drückt die Wahl sowohl den Protest gegen und Gleichgültigkeit gegenüber dem parlamentarischen Betrieb als auch der politischen Sphäre als solche aus. Im Verhältnis zum mickrigen Ergebnis der Parteien, ist die „Partei“ der Nicht- und Blankowähler*innen der große Sieger.

 

Überraschender Sieger Pedro Castillo

 

Dass Pedro Castillo vor dem Hintergrund der neoliberalen Dominanz und wertekonservativen Offensive die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, ist überraschend, aber erklärbar. Ein wenig davon habe ich schon implizit dargestellt. Die Wahlumfragen in den Wochen vor der Wahl haben die Präferenzen für die Kandidat*innen erstaunlich gut wiedergegeben. Da eine Woche vor der Wahl keine Umfragen mehr veröffentlicht werden durften, wurde der Aufstieg von Castillo nicht öffentlich bekannt. Die Umfragen fanden aber statt und kreisten quasi unter der Hand. Sie zeigten, wie Castillo innerhalb einer Woche mit zwischen 15% und 17% an die erste Stelle katapultiert wurde. Berücksichtigt man, dass 28% der potenziellen Wähler*innen hinsichtlich der Präsidentschaft und fast 50% hinsichtlich des Kongresses noch wenige Tage vor der Wahl nicht wussten, wen sie wählen werden, ist eine so starke Veränderung im Endresultat absolut möglich und die Richtung statistisch nicht voraussehbar. Das Ergebnis hat alle gleichermaßen überrascht, auch die Anhängerschaft der siegreichen Partei, soweit ich es den Statements und meinen persönlichen Nachfragen bei Wählern von Castillo entnehmen kann. Allerdings ist es kein neues Phänomen für Peru, dass Kandidaten kurz vor der Wahl wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen. Das war z.B. bei Alberto Fujimori oder Humala ganz ähnlich.

 

Castillo lebt in Chota im Department Cajamarca in den nördlichen Anden, ist Grundschullehrer, Landwirt, Rondero und Kleinunternehmer. In der Partei- und Gremienpolitik ist er schon lange aktiv. Er ist im konservativen religiösen Milieu der evangelikalen der „Kirche des Nazareners“ aufgewachsen und teilt viele ihrer Ansichten. Das kommt in einigen seiner Statements auch deutlich zum Ausdruck. In einer Rede vor Ronderos in Chota sagte er: „wir gehen in die Kirche, wir sind Männer des Glaubens, wir glauben an die Familie“. Er ruft die Jugend dazu auf, zuerst an die Familie zu denken und nicht an den Werten und Prinzipien zu zweifeln, die ihnen in ihrer Erziehung eingeschärft wurden.

 

Ein protestantischer, konservativer Rondero

 

Castillo ist ein Verfechter der protestantische Arbeitsethik mit dem Prinzip des individuellen Fortkommens durch Arbeitsfleiß. „Der beste Dünger für die Erde ist der menschliche Schweiß“ sagt er und verweist auf die Arbeit, die Arbeit des Vaters, der die Familie ernährt. Er setzt auf den privaten nationalen Entrepreneur, der aber durch den Staat und die Gemeinschaft der kirchlichen Gemeinde und der Ronderos getragen wird. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er Mitbegründer eines Unternehmens ist, dass auf die Durchführung infrastruktureller Projekte und Handelstätigkeit abzielt. Sehr nützlich, wenn mehr Geld durch seine Regierung in die Provinzen fließt.

 

Der gasierenden Kriminalität möchte er mit Hilfe von Rondas (Selbstverteidigungsgemeinschaften) in Stadt und Land beikommen. Er setzt nicht auf die Justiz, bürgerliches Strafrecht und Polizei, sondern auf die Selbstorganisation der betroffenen Bevölkerung. Die Rondas sollen von Staat finanziert und als offizielle Ordnungsorgane anerkannt werden. Der Hintergrund dazu ist die leidvolle historische Erfahrung, dass Kriminelle, Justiz und Polizei häufig kooperieren und gerade alteingesessene Andenbewohner*innen angesichts einer zudem rassistischen Justiz und Polizei selten zu ihrem Recht kommen. Gefängnisse möchte er durch Arbeitslager ersetzten, in denen die Häftlinge durch Arbeit für ihre Versorgung selber aufkommen müssen. Vorbild könnten die „Bootcamps“ in den evangelikalen Regionen der USA sein.

 

Frauen kommen in seinen Reden in der Regel nur in Gestalt von Hausfrauen (amas de casa) vor. Castillo lehnt Frauenrechte, Feminismus, körperliche und sexuelle Selbstbestimmung ebenso wie gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Homosexualität und Abtreibung ab. In vielen Punkten seiner lebensweltlichen Einstellung stimmt er mit seinen politischen Gegner*innen Keiko Fujimori, Aliaga vom Opus Dei überein, aber auch mit vielen wertekonservativen marxistisch-leninistischen Vorstellungen, wie sie von Vladimir Cerrón, dem Gründer von Peru Libre, Gregorio Santos aus Cajamarca von Democracia Directa und Minderheiten innerhalb der linken Anhängerschaft von Juntos por el Peru und Frente Amplio, mal offen, mal schamhaft, vertreten werden.

Allerdings hat er auch angekündigt, einige der von ihm abgelehnten Einstellungen in einer neuen Verfassung demokratisch klären zu lassen.

 

Vom Toledo-Anhänger zum Lehrergewerkschafter

 

Politisch war Castillo viele Jahre in der ehemaligen Partei Perú Posible von Alejandro Toledo tätig. Toledo galt als erster Präsident des andinen Perus, politisch in der linken Mitte verortet. Breite Teile der andinen Bevölkerung und aus den städtischen Armutsgürteln sahen im „cholo sano y sagrado“, wie er genannt wurde, große Hoffnung auf Aufwertung und Wohlstand. Bekanntlich hat er alle enttäuscht und zählt zu den 6 wegen Korruption angeklagten ehemaligen Präsidenten Perus.

 

Castillo wurde einer breiteren Öffentlichkeit über Cajamarca hinaus bekannt, als er 2017 zu dem profiliertesten Anführer des großen Lehrer*innen-Streiks wurde, der 75 Tage Schulen und Universitäten lahm legte und erfolglos endete. Er führte eine Abspaltung der mächtigen Einheitsgewerkschaft der Lehrer*innen SUTEP an, die seit Jahrzehnten von der Kommunistischen Partei „Patria Roja“ kontrolliert wird. Innerhalb der im SUTEP organisierten Lehrerschaft gab und gibt es, viel Kritik zu Recht an der Führung und deren Kontrolle über die Beiträge, Versicherungen und Kreditfonds. Gesetzlich ist nur die SUTEP zu Verhandlungen mit der Regierung ermächtigt und Castillos Kampf zielte darauf ab, eine zweite staatlich anerkannte Gewerkschaft zu etablieren, CONARE-SUTEP, seit 2019 als „Federación Nacional de Trabajadores en la Educación del Perú“ (FENATEPERU) firmierend. Innerhalb von CONARE waren und sind nachgewiesenermaßen zahlreiche Anhänger*innen von Movadef aktiv. Diese Organisation gilt als legaler politische Arm der marxistisch-leninistischen Terrororganisation Sendero Luminoso. Innerhalb der langen SUTEP-Tradition gab es immer wieder Auseinandersetzungen um die Kontrolle zwischen verschiedenen Kommunistischen Gruppierungen, darunter auch mit Sendero Luminoso. Der Plan ist nicht aufgegangen. Allerdings hat Castillo im großen Streik die Interessen der großen Mehrheit der mit der SUTEP-Führung und Regierungspolitik unzufriedenen Lehrerschaft vertreten.

 

Als Gast bei der Partei Peru Libre

 

Pedro Castillo gehört nicht zur Basis und dem Führungsclan von Perú Libre, sondern wurde am Tag der letzten Einschreibungsmöglichkeit der Präsidentschaftskandidat*innen auf Einladung von Vladimir Cerrón Mitglied der Partei. Vladimir Cerrón ist ein in Cuba als Arzt ausgebildeter Bürger aus dem Department Junin, der eine Reihe von regional Parteien in Junin gegründet hat, darunter zuletzt Perú Libre. Er war von 2011 bis 2014 Regionalpräsident, 2019 wiedergewählt und kurz darauf wegen Korruption abgesetzt. 2016 scheiterte sein Versuch, Präsident Perus zu werden, an mangelndem personellen Rückhalt. Kurz vor der Wahl zog er seine Kandidatur zurück. Cerrón bezeichnet sich als ein Vertreter marxistisch-leninistischer Ideologie und Anhänger von José Carlos Mariategui. Er sympathisiert mit dem „Sozialismus des XXI Jahrhunderts“ in Venezuela, Bolivien und Ekuador und verteidigt Cuba als sozialistisches Mutterland Lateinamerikas. Allerdings ist Peru Libre keine marxistisch leninistische Kaderpartei, sondern ein loser Zusammenhang von regionalen Interessens-Gruppen mit einem kleinen harten Kern, der durch den Familienclan Cerrón geführt wird. Pedro Castillo wurde eingeladen, um Cerrón 2021 als Präsidentschaftskandidat zu ersetzen, da dieser aufgrund seiner zu verbüßenden Strafe nicht antreten durfte. Er hat sich allerdings symbolisch als Vizepräsidentschaftskandidat auf Liste seiner Partei setzten lassen.

 

Ein andiner Populismus*

Castillo ist dagegen kein traditioneller Marxist-Leninist und ebenso wenig ein Verfechter des Terrorismus von Sendero. Als Rondero hat er das Eindringen Sendero Luminosos nach Cajamarca mit verhindert. In seine politisch-ideologischen Ausrichtung mischen sich sehr konservative moralische evangelikale Vorstellungen, extremer Nationalismus, Etatismus, völkische Ausrichtung, traditioneller Anti-Imperialismus, Versatzstücke des ML, Regionalismus, ungetrübter Fortschrittsglaube und eine große Portion Xenophobie. Diese Gemengelage charakterisiert einen großen Teil der Bewegungen, Parteien und Führungen aus den Andenregionen, die meines Erachtens nicht mit den alten Labels „Links“ oder „Rechts“ angemessen wiedergegeben werden. Wie Castillo selber sagt: „Die Menschen wählen nicht Links oder Rechts“. Unter welches Label lässt sich dann bloß die politische und lebensweltliche Ausrichtung Castillos, Cerróns, Santos und Co. bringen? Ich plädiere für den Begriff „Andiner Populismus“*. Der Andine Populismus weist Schnittstellen zu verschiedensten politischen Lagern auf. Mit der Linken von Juntos por el Perú und Frente Amplio verbindet ihn die Vorstellung einer starken Rolle des Staates, der nationale Souveränität, des Anti-Imperialismus und einem volksorientierten Patriotismus.

 

Warum die anderen linken Parteien verloren haben

In Juntos por el Perú und Frente Amplio bildet sich ein sehr viel differenzierteres Spektrum der peruanischen Bevölkerung und der aktiven Zivilgesellschaft ab. Insofern sind beide gesamtgesellschaftlich wesentlich repräsentativer und programmatisch umfassender als auch detaillierter aufgestellt. Viele Grundeinstellungen sind mit dem Andinen Populismus nicht vereinbar. Vertreter*innen des andinen Populismus werden nicht müde, Mendoza als Sinnbild und Verkörperung einer Lima-zentrierten, weißen „Kaviar-Linken“ zu diffamieren.

 

Es ist kein Zufall, dass Teile der Anhängerschaft von Juntos und Frente Amplio zugunsten des Andinen Populismus oder der politischen Mitte umgeschwenkt sind. Die einen wegen der einfacheren und radikaleren „linken“ Statements, die anderen aus Angst vor zu viel staatlichem Einfluss. Es ist gewissenermaßen eine Ironie, dass sich die „konservative Revolution“ auf die vermeintliche terroristische Gefahr einer Veronika Mendoza und eines Marco Arana eingeschossen hat und dabei den Andinen Populismus nicht auf dem Zettel hatte. Kein Wunder, denn für sie existieren die Anden hauptsächlich als profitable Rohstoffquellen. Nun ist der Jammer groß.

 

Castillo wird mit all seiner Kraft versuchen, ein Referendum für eine Verfassungsgebende Versammlung abzuhalten und kann dabei auf einige Verbündete zählen, sofern er bereit ist, Kompromisse mit der Linken von Juntos por el Peru, der politischen Mitte um Acción Popular und Partido Morado, der religiösen ausgerichteten Mitte FREPAP und der klerikalfaschistischen Reaktion von Renovación Popular und einigen weiteren kleinen Fraktionen. Sie alle sprechen sich für die Zurückdrängung ausländischer Monopole und die Förderung der nationalen Wirtschaft aus.

 

Ein zersplittertes Parlament

Das Parlament wird, wie vorausgesehen, ein chaotischer fraktionierter Haufen, mehrheitlich geprägt von Selbstdarsteller*innen, die eignen Interessen nachgehen. Auch Perú Libre drohen interne Konflikte und Abspaltungen im Kongress. Die zahlreichen sich widersprechenden Äußerungen und Ankündigungen einzelner Vertreter*innen lassen darauf schließen.

Wie im letzten Artikel schon aufgeführt, droht dem oder der gewählten Präsident*in rasch die Absetzung, wenn es nicht zu halbwegs stabilen Bündnissen kommt. Die nächsten 2 Monate bis zur Stichwahl könnten noch zu einer Schlammschlacht epischen Ausmaßes der Rechten gegen den andinen Populismus und die Linke werden. Es war schon immer so, dass reformerische politische Projekte bei der etablierten Oligarchie, dem Großbürgertum und großen Teilen der Mittelschichten, besonders aus Lima, blanke Panik auslösen und irrationale Handlungsweisen auslösen. Die Gegenüberstellung kommunistischer Terror oder liberale Freiheit ist unvermeidbar. Hoffentlich beteiligen sich nicht alle daran.

 

Das Rennen ist vollkommen offen. Nach welchen programmatischen und lebensweltlichen Überschneidungen sich die beiden Wahllager bilden werden, halte ich derzeit für nicht voraussehbar. Ebenso wenig lässt sich prognostizieren, ob die Wahl Castillos zu einer starken Mobilisierung in den Anden und den Elendsgürteln der Städte führt und er dadurch vorangetrieben wird oder ob es zu einem Kompromiss nach dem anderen kommt, bis hin zur programmatischen Selbstaufgabe. Gewinnt Keiko Fujimori, bleibt nicht nur alles beim Alten und der Kampf gegen die Korruption wird eingestampft. Es droht ein extrem autoritäres Regime und möglicher Putschgefahr, für oder gegen sie. Das hängt von einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft ab. Persönlich halte ich Keiko Fujimori für das größere Übel. Schau ma mal.

 

Andreas Baumgart 16.04.2021

 

* Der Begriff Populismus wird häufig verwendet, ist aber alles andere als eindeutig. Anbei in wenigen Sätzen, welche Vorstellung ich damit verknüpfe: Der Führer, eine Führerin oder ein führender Clan bezieht sich abstrakt auf „das Volk“ und versteht sich als Verkörperung dessen Willens. Er „weiß instinktiv“ was das Volk will. Daher steht er über dem Recht und beugt es je nach Bedarf. Seine Anhängerschaft bildet eine identitäre Gemeinschaft und ist bereit, ihr „Schicksal“ in die Hand des oder der weisen, erleuchteten Führer*in zu legen. Individuelle Emanzipation wird zugunsten Identitäts-stiftender konservativer Normen und Dogmen unterdrückt. Ideologisch bedient sich der Populismus aus Versatzstücken unterschiedlichster politischen Ideologien. Er ist grundsätzlich autoritär, hierarchisch, machistisch und setzt auf die Macht des Stärkeren. Populismus grenzt alle aus, die als „volksfremd“ bestimmt wird. Wer zum Volk zählt, bestimmt die Führung: Bolsonaro will „das Volk“ bewaffnen, um gegen Linke und Kriminelle vorzugehen, Keiko bedankt sich für das Vertrauen „des Volkes“ in sie und Castillo meint, „das Volk“ habe mit seiner Wahl weise gehandelt. Offenkundig beziehen sie sich alle auf ein unterschiedliches Volk. Das macht den Begriff so nützlich.

 

Wahlergebnis Präsidentschaft und Kongress ONPE vom 15.04.2021,

Perú Libre
Platz 1 Präsidentschaft Pedro Castillo:             19,11%           2 665 125 Stimmen.
Platz 1 Kongress:                                             14,06%            1 510 118 Stimmen.
Fuerza Popular
Platz 2 Präsidentschaft Keiko Fujimori:            13,36%            1 862 741 Stimmen.
Platz 2 Kongress:                                             11.12%            1 196 209 Stimmen.
Renovación Popular
Platz 3 Präsidentschaft Rafael López Aliaga:     11,68%            1 629 342Stimmen.
Platz 4 Kongress:                                              9,08%               977 162 Stimmen.
Avanza País
Platz 4 Präsidentschaft Hernando de Soto:        11,58%            1 615 065 Stimmen.
Platz 6 Kongress:                                              7,41%               797 522 Stimmen.
Acción Popular
Platz 5 Präsidentschaft Yonhy Lescano:              9,10%            1 273 646 Stimmen.
Platz 3 Kongress:                                              9.22%               991 678Stimmen.
Juntos por el Perú
Platz 6 Präsidentschaft Veronika Mendoza:       7,86%             1 099 712 Stimmen.
Platz 7 Kongress:                                            6,63%                 713 245 Stimmen.
Alianza para el Progreso
Platz 7 Präsidentschaft César Acuña:                6,03%                 844 347 Stimmen.
Platz 5 Kongress:                                            7,61%                818 296 Stimmen.
Victoria Nacional:
Platz 8 Präsidentschaft George Forsyth:            5,62%                 784 594 Stimmen.
Platz 11 Kongress:                                          4,91%                 528 065 Stimmen.
Podemos Peru
Platz 9 Präsidentschaft Daniel Urresti:             5.61%                785 188 Stimmen.
Platz 9 Kongress                                             5,76%                 619,148 Stimmen.
Partido Morado
Platz 10 Präsidentschaft Julio Guzmán:            2,24%                 314 457 Stimmen.
Platz 10 Kongress:                                          5,30%                 569 901 Stimmen.
Partido Democrático Somos Peru
Platz 11 Präsidentschaft Daniel Salaverry:        1,66%                 231,698 Stimmen.
Platz 8 Kongress:                                            6,04%                 650,060 Stimmen.
Frepap
Platz 12 Kongress:                                          4,63%                 498,365 Stimmen.

 

Alle offiziellen Resultate finden Sie hier: https://www.resultados.eleccionesgenerales2021.pe/EG2021/

 

Linke und außerhalb Limas verankerte andin-populistiche oder religiöse Parteien

2016/2020/2021

 

Frente Amplio             2016: 1 700 052          2020: 911 701             2021: 115 274
Democracia Directa     2016: 528 301             2020: 543 956             2021: 83 203
Juntos por el Peru        2016: –                        2020: 710 462              2021: 700 243
Peru Libre                    2016: –                        2020: 502 898              2021: 1 493 297
Runa                           2016: –                         2020: 265 564              2021: 80 247
Union por el Peru:        2016: –                         2020: 1 001 716           2021: 223 724
Frepap                         2016: –                         2020: 1 240 084           2021: 493 633
Summe                        2016: 2 228 353           2020: 5 176 381           2021: 3.189.621

 

 

 

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