Paulo Vilca ©privat

“Niemand weiß, welches Ziel diese Regierung verfolgt”

Interview mit dem Politikwissenschaftler Paulo Vilca

„Dina Boluarte hat kein klares Ziel für das Land”, sagt der Politologe und Jurist Paulo Vilca und spricht von einer geschwächten Regierung und den Herausforderungen für dieses Jahr. Das Interview führte Delsy Loyola für OjoPúblico.

Auch zu Beginn des neuen Jahres erhält Präsidentin Dina Boluarte in allen Umfragen hohe Ablehnungsraten. Wie bewerten Sie ihre Regierung?

Seit dem Ende der Regierung Fujimori hatten wir keine Regierung mehr, die von der Mehrheit der Bevölkerung so stark abgelehnt wurde. Ich glaube, dafür gibt es vielfältige Gründe. Zum einen natürlich die Proteste und der Sturz von Pedro Castillo, die die ersten Monate der Regierung prägten. Ein Jahr später überwiegen andere Gründe, die übrigens im ganzen Land dieselben sind.

Im März und April gab es den Zyklon Yaku. Er war zwar ein Naturereignis, machte aber die Ineffizienz der Regierung bei der Krisenbewältigung offensichtlich. Dann war da noch die Frage der öffentlichen Sicherheit. Die Regierung hatte keine konkrete Antwort auf dieses Problem.

Und dann kann man von einer gewissen Unverfrorenheit der Regierung sprechen, als Präsidentin Boluarte mit Unterstützung der rechten Kongressmehrheit die Verabschiedung eines Gesetzes erzwang, um das Land verlassen zu können, angeblich mit dieser Idee der präsidialen Diplomatie. Es stellte sich dann heraus, dass diese Diplomatie kaum Relevanz hatte, außer dass Boluarte mit einer Gefolgschaft von Beamt*innen reisen konnte, oft [zu Aktivitäten] ohne Bedeutung.

Ein weiterer Faktor ist die negative oder mangelhafte Leistung der Regierung im Umgang mit der wirtschaftlichen Situation des Landes. Wenn es etwas gab, das die letzten Regierungen auszeichnete, dann war es, dass es zwar Krisen und politische Instabilität gab, aber die Makroökonomie im Allgemeinen auf Kurs blieb. Das Wirtschaftswachstum schien etwas zu sein, das trotz der politischen Instabilität anhalten konnte. Mit dieser Regierung ist das nicht mehr der Fall. Es mag zwar stimmen, dass es externe Faktoren gibt, aber das Wirtschafts- und Finanzministerium trägt ein hohes Maß an Verantwortung.

Meinen Sie, dass das Kabinett in Anbetracht der Probleme im Land umbesetzt werden muss?

Es gibt mehrere Ressorts, in denen der Verschleiß von Minister*innen besonders offensichtlich ist. Das Wirtschaftsministerium sticht dabei am meisten hervor, aber auch das Energie- und Bergbau- sowie das Kulturministerium, dessen Minister in den letzten Monaten wegen des Verkaufs von Eintrittskarten für Machu Picchu von sich reden machte.

Ich habe jedoch meine Zweifel, dass das Auswechseln von Minister*innen einen Kurswechsel in der Regierung bedeuten könnte. Der erste Grund ist, dass nicht die Regierung, sondern vor allem der Kongress den Takt vorgibt; und andere Akteure, wie zum Beispiel das Verfassungsgericht oder ab einem bestimmten Punkt auch die Staatsanwaltschaft. Die Regierung ist nicht die Akteurin, die die politische Initiative in der Hand hat.

Dazu kommt, dass weder Präsidentin Dina Boluarte noch Premierminister Alberto Otárola ein klares Ziel für das Land haben. Was für ein Erbe wollen sie denn hinterlassen? Es gibt keinen klaren Kurs, der mehr wäre als den Fortbestand und das Überleben [der Regierung] zu sichern. Das macht jeden Kabinettswechsel oder jede Änderung wenig wirkungsvoll.

Im letzten Jahr haben wir eine Interessenkoalition aus verschiedenen Bereichen der Staatsmacht erlebt. Glauben Sie, dass dieses “Bündnis” nach der Krise im Dezember zerbrochen ist?

Ich bin mir nicht sicher, ob man von einem Bündnis sprechen kann. Vielmehr gab es ein gemeinsames Interesse von Kongress, Staatsanwaltschaft, Regierung, Verfassungsgericht und Ombudsstelle, die alle einen Status quo aufrechterhalten wollen, der ihnen ihre Machtpositionen sichert.

Das ist das gemeinsame Interesse. Darauf beruht die Logik ihrer Entscheidungen: „Wir werden nichts tun, was dazu führen könnte, dass jemand von uns seine Macht verliert”. Trotz dieses gemeinsamen Interesses ist es ein sehr instabiles Regime. Erstens, weil die Ablehnung so groß ist, und zweitens, weil es so verschiedene Interessen vertritt. Welches Interesse haben Perú Libre und der Fujimorismo gemeinsam, abgesehen vom Machterhalt und – so scheint es – dem Bemühen, sich der Justiz zu entziehen?

Kann diese Interessenkoalition jenseits von Ideologien, die das Gleichgewicht der Kräfte gefährdet, längerfristig bestehen?

Das ist schwer zu sagen. Aber wenn uns die Geschichte unseres Landes eines lehrt, dann ist es, dass sich die Dinge sehr schnell ändern können. Der ehemalige Präsident Martín Vizcarra wurde auf dem Höhepunkt seiner Popularität abgesetzt, als niemand damit rechnete. Pedro Castillo endete mit dem Versuch eines Staatsstreichs. Peruanische Politiker*innen machen Fehler, und auch die jetzigen sind nicht davor gefeit, Fehler zu machen, die das gesamte Panorama verändern können.

Es gibt noch eine weitere Unsicherheit: All dies reicht bisher nicht für eine Reaktion der Bürger*innen aus. Das heißt aber nicht, dass das nicht passieren kann.  Und ich glaube, dass die Chance für einen politischen Wandel in den Händen der Bürger*innen liegt.

Trotz der großen Ablehnung der Regierung haben wir in den letzten Monaten keine starke Reaktion der Bürger*innen erlebt. Woran liegt das? Ist das eine Folge der Repressionen Ende 2022 und Anfang letzten Jahres, oder ist es etwas anderes?

Es besteht zweifellos ein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der staatlichen Repressionen und der Bereitschaft, weiter zu protestieren. Das ist ein Teil der Erklärung.

In Peru waren Proteste schon immer ein Mittel der Bürger*innen, um Einfluss auf Regierungsentscheidungen zu nehmen: Wenn sie protestierten, gab die Regierung nach oder änderte ihre Entscheidung. Das hat sich im letzten Jahr geändert. Es gab Proteste, aber keine politischen Veränderungen. Die Proteste haben an Wirksamkeit verloren.

Hinzu kommt die politische und wirtschaftliche Situation. Es ist nicht gelungen, eine gemeinsame Position zu formulieren. Und wirtschaftlich wirkten sich die Proteste vor allem in den südlichen Regionen sehr stark aus. Daher hat die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu Protestaktionen abgenommen.

Im Januar 2023, während der sozialen Proteste, die infolge der Repression 49 Zivilisten das Leben gekostet haben, hat Dina Boluarte gesagt: „Puno ist nicht Peru.” Hat die Präsidentin ein Jahr später gelernt, dass Regieren auch bedeutet, für die Regionen im Landesinneren zu regieren?

Ich glaube nicht, dass Dina Boluarte eine klare Vorstellung davon hat, was es bedeutet, Peru zu regieren. Denn niemand weiß, welches Ziel diese Regierung verfolgt.

Mit diesem Satz hat sie gut ausgedrückt, was die Regierung von ihren Gegner*innen hält. Und er erklärt die Härte, mit der sie auf die Demonstrationen reagiert hat. Wer die Protestierenden nicht als gleichwertige Bürger*innen betrachtet, wird sie nicht angemessen und unter Achtung ihrer Rechte behandeln. Das war nicht nur ein Satz, das ist die Haltung, die die Regierung immer wieder an den Tag gelegt hat.

Womit erklärt sich, nach so vielen Krisen, die fehlende Verbindung von Kongress, Regierung und jetzt auch Justiz zu den Ereignissen auf den Straßen und zu dem, was die Bürger*innen von ihrer Regierung erwarten?

In den letzten Jahren konnten wir in unserem Land den allmählichen Verlust des Sinns für öffentliche Dienstleistung beobachten. Politiker*innen, ob links oder rechts, sollten irgendein politisches Ziel haben, irgendeine Veränderung, die der Mehrheit zugutekommt, anstreben. Heute beobachten wir jedoch, dass ein großer Teil der politischen Klasse sein Amt lediglich als eine Gelegenheit begreift, sich selbst zu bereichern.

Das erklärt alle Entscheidungen, die getroffen werden: die Schwächung der effektiven Zusammenarbeit, die Gegenreform der Sunedu (Aufsichtsbehörde für das Hochschulwesen, Anm. der Übersetzerin), das kürzlich verabschiedete Forstgesetz. Es gibt derzeit kein Instrument für die Bürger*innen, um Veränderungen anzustoßen. Protest war eines. Aber derzeit haben sie kein Mittel, um ihre Unzufriedenheit oder Ablehnung zum Ausdruck zu bringen.

In den kommenden Wochen wird die Frage der Entlassung der Mitglieder der Nationalen Justizbehörde (JNJ) im Kongress wieder aufgerollt werden. Welche Risiken birgt das für die Demokratie?

Im vergangenen Jahr hat der Kongress große Fortschritte darin gemacht, die Kontrolle über einige wichtige Institutionen zu gewinnen, etwa das Verfassungsgericht und die Ombudsstelle. Jetzt glaube ich, dass sie dasselbe mit der Justizverwaltung vorhaben. Eine Schlüsselinstitution in diesem Bereich ist das Justizministerium, das der Kongress auf jeden Fall versuchen wird, unter seine Kontrolle zu bringen.

Verschiedene politische Akteure, die im Parlament sitzen oder dort vertreten sind, haben Probleme mit der Justiz. Gegen Keiko Fujimori, Vladimir Cerrón, César Acuña, José Luna und Podemos Perú laufen Verfahren oder werden demnächst eingeleitet. Es ist offensichtlich, dass sie versuchen werden, einen größeren Einfluss auf die Akteure des Justizsystems auszuüben.

Ein weiteres Thema der Regierung war die Entscheidung des Verfassungsgerichts, Fujimori entgegen des Urteils des Interamerikanischen Menschengerichtshofes zu begnadigen. Welche Botschaft sendet sie damit an die Öffentlichkeit und was bedeutet dies für das Image des Landes auf internationaler Ebene?

Es ist ein klares Beispiel für den Zerfall der Demokratie und der Institutionen. Unter anderen Umständen wäre dies undenkbar gewesen. Es zeigt, jenseits der Frage des Images, dass dieser Fall auf politischer Ebene, zumindest im Kongress, beim Verfassungsgericht und in der Regierung, keine großen Kosten verursacht hat.

Das ist etwas, das sich ebenfalls geändert hat. Als PPK (der damalige Präsident Pedro Pablo Kuczynski, Anm. der Übersetzerin) der Begnadigung zustimmte, war die öffentliche Reaktion komplett anders. Jetzt hat der Fall keinerlei politischen Kosten verursacht, zumindest nicht in Form von aktiver Ablehnung durch die Bevölkerung. Wahrscheinlich auf einer passiven Ebene, mit Empörung, aber nicht auf der aktiven Ebene mit Demonstrationen.

Handelt es sich um eine Art Resignation? Könnten wir bis 2026 aus der Krise herauskommen oder gibt es keine große Hoffnung mehr?

Ich glaube nicht, dass es Resignation ist. Die Ablehnung ist offensichtlich, wir sehen Regierungsvertreter*innen, die kritisiert und offen abgelehnt werden, Abgeordnete, die mancherorts von der Bevölkerung vertrieben werden, Dina Boluarte, die geschlossene Versammlungen abhält.

Es gibt also viel Ablehnung, aber die Bürger*innen haben nicht die Mittel, um diese Empörung in Entscheidungen der Politiker*innen umzusetzen. Wenn wir an 2026 denken: Die Wahlen werden das Mittel sein, das die Bürger*innen nutzen werden, um ihre Ablehnung auszudrücken.

Übersetzung und Zusammenfassung: Annette Brox

Das komplette Interview auf Spanisch ist hier zu lesen.

Wir danken OjoPúblico und Paulo Vilca für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

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