Präsident Pedro Castillo Foto: Presidencia difusion

Krise als Normalität

Ermittlungen gegen Präsident Castillo wegen Korruption und Putschgelüste im Parlament

In den letzten Wochen hat sich viel getan, doch im Grundsatz ändert sich nichts. Die Opposition wirft der Regierung einen Stein nach dem anderen in den Weg und erlaubt dem Präsidenten das Regieren nicht. Dieser wiederum lässt die einzelnen Minister*innen im Regen stehen. Alle „wurschteln“, alleingelassen vor sich hin, bis zu ihrer baldigen Kündigung. Eine Koordination auf der Basis einer gemeinsamen politischen Ausrichtung existiert weder im Kabinett noch im Verhältnis zu Castillo und dessen innerem Zirkel.

Ein Telefonmitschnitt sorgt für Aufregung

Gleichzeitig bilden sich hinsichtlich bestimmter Gesetzesvorhaben und Abstimmungen fatale temporäre Allianzen, die einerseits quer durch die Fraktionen der Opposition und des Regierungslagers und andererseits zwischen diesen verlaufen. Wer auf welcher Seite steht, hängt größtenteils von den unmittelbaren Interessen der einzelnen Parlamentarier*innen und einiger politischer Zirkel ab. Selbst in Hinblick auf einen möglichen Sturz Castillos herrscht Uneinigkeit. Während einzelne Abgeordnete sich mit der Regierung arrangiert haben oder gar den Schulterschluss suchen, bleibt der Versuch der Parlamentspräsidentin Maricarmen Alva und ihrer Entourage den Präsidenten zu stürzen eine politische Konstante. Kürzlich wurden Audios veröffentlicht, in denen sie Möglichkeiten erörtert, Castillo loszuwerden, ohne das Parlament auflösen und Neuwahlen durchführen zu müssen. Das Volk wäre auf ihrer Seite und die Armee stünde hinter ihr. Mehr Realitätsferne geht nicht. Sie ist nicht nur unbeliebter als der Präsident, sondern der weitaus größte Teil der peruanischen Bevölkerung wünscht, dass alle gehen sollen: „que se vayan todos“. Das Militär hat sich umgehend von ihren Aussagen distanziert.

Parlamentspräsidentin Maricarmen Alva (© Andina Difusion)

Am 26. Juli wird routinemäßig ein neues Parlaments-Präsidium gewählt. Bis zu ihrer Ablösung hat Alva noch Zeit, Präsidentin Perus zu werden. Gelänge es bis dahin, Castillo abzusetzen, käme die derzeitige Vize-Präsidentin Dina Boluarte an die Reihe. Doch die Unterkommission für Verfassungsfragen des Kongresses bereitet gerade einen Antrag auf ihre Absetzung vor, da sie trotz ihres Amtes als Vertreterin Dokumente eines Provinzial-Klubs (eine Art Heimatverein der Migranten aus Apurimac in Lima) unterzeichnet hatte. Ein einfacher Formfehler, eine absolute Bagatelle, auf die sich die intrigante Opposition sofort gestürzt hat. Fallen Castillo und Boluarte, wäre der Weg für Alva ins Präsidentenamt frei.

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Präsident Castillo

Mittlerweile hat der Generalsstaatsanwalt eine Untersuchung gegen Castillo eingeleitet. Das ist ungewöhnlich, denn der Präsident genießt prinzipiell Immunität. Normalerweise werden Verfahren so lange auf Eis gelegt, bis die jeweilige Amtszeit abgelaufen ist. Seit Dekaden wird dies so gehandhabt und wenn es durchaus auch begrüßenswert ist, dass gegen einen unter Korruptionsverdacht stehenden Präsidenten ermittelt wird, so liegt hier der Verdacht nahe, dass politische Motive und Diskriminierung im Spiel sind. Die Ermittlungen stehen in Zusammenhang mit der breiten Korruptionsaffäre, in die mindestens 20 Personen verwickelt sind. Darunter die per Haftbefehl gesuchten und untergetauchten Fray Vásquez Castillo, Neffe des Präsidenten, Bruno Pacheco, ehemaliger Leiter des Präsidialbüros und Juan Silva Villegas, der kürzlich ausgetauschte Minister für Transport und Kommunikation. Es geht um die Vergabe von millionenschweren Staatsaufträgen und geflossene Bestechungsgelder. Die beiden Zeugen bzw. Kronzeugen Kerelim López und Zamir Villaverde,  umtriebig wie zwielichtige Unternehmer*innen, die im engen Umfeld Castillos und des Ministers gewirkt haben, belasten nun auch den Präsidenten schwer. Selbst wenn man Castillo keine persönliche Bereicherung nachweisen könnte, so hätte er doch korrekterweise als mittelbarer Verantwortlicher und oberster Dienstherr längst den Hut nehmen müssen. Doch er präsentiert sich weiterhin als konsequenter und unbescholtener Kämpfer gegen Korruption.

Bereits 60 Minister*innen verschlissen

Derweil dreht sich das Kabinettskarussell mit schwindelerregender Geschwindigkeit weiter. Bald 60 Minister*innen befanden oder befinden sich innerhalb der bisherigen Regierungsperiode Castillos von nicht mal 11 Monaten im Amt. Der letzte Wechsel von vier Ministern und entsprechende Neuernennungen haben Castillo und den Vorsitzenden von Peru Libre, Vladimir Cerrón, weiter entzweit. Letzterer wirft Castillo Verrat am Volk und Abkehr von den politischen Leitlinien vor. PL versteht sich nur noch als „Bündnispartner“ (aliado) und nicht mehr als Regierungspartei. Inzwischen ist die Fraktion von Peru Libre nach den letzten Spaltungen und Austritten nicht mehr Mehrheitspartei. Keiko Fujimoris Fuerza Popular, stellt nun mit 24 Mitgliedern die stärkste Fraktion, während PL noch 16 von ursprünglich 37 Abgeordneten bleiben. Die Abtrünnigen verteilen sich auf mehrere, darunter auch neu gegründete Fraktionen: Bloque Magisterial de Concertación, Perú Bicentenario, Perú Democrático und No Agrupados. Am ehesten kann Castillo noch auf eine verlässliche Unterstützung durch den Bloque Magisterial zähen, der mit 10 Abgeordneten zu den kleineren Fraktionen zählt.

In Bezug auf einige wichtige Gesetzesvorhaben und Abstimmungen spielen Abgeordnete von Peru Libre schon länger eine dubiose Rolle, die zuletzt in der Intrige gegen die Arbeitsministerin Betssy Chávez einen von mehreren traurigen Höhepunkten fand. Sie ist eine konsequente Verfechterin von Arbeitnehmerrechten und wurde deshalb, wie kaum eine andere Ministerin, seitens der rechten und rechtsextremen Opposition massiv angefeindet und immer wieder bis ins sexistische und rassistische gehend beleidigt. Sie war schon im Dezember letzten Jahres aus der Fraktion von Peru Libre aufgrund tiefgreifender Differenzen ausgetreten. Anlass für die Vertrauensabstimmung am 26 Mai war die ihr unterstellte Genehmigung des Streiks des Sicherheitspersonals an den Flughäfen über Ostern. Mit 71 Stimmen für, 28 gegen und 12 Enthaltungen wurde ihr das Vertrauen entzogen. Ausschlaggebend für die nötige Mehrheit waren die 9 Stimmen von Peru Libre, die allgemein als Racheakt für ihrer Dissidenz angesehen werden.

Es ist inzwischen nicht mehr auszuschließen, dass auch Abgeordnete von Peru Libre und Fraktionsdissidenten einer Amtsenthebung Castillos zustimmen könnten, sollte es in Zukunft zu einer diesbezüglichen Abstimmung kommen.

Präsident Pedro Castillo und Ehefrau Lilia Paredes bei der Einweihung eines Museums (© Presidencia difusion)

Unheilige Allianz gegen Bildungsreform

Aktuelle und ehemalige Abgeordnete von Peru Libre stimmen immer häufiger zusammen mit der Opposition gegen positive Gesetzesinitiativen oder für „Gegenreformen“. Nachdem das Parlament die Gegenreform zur alten Bildungsreform durchgesetzt hatte und damit die Rolle der SUNEDU als oberste Aufsichts-Instanz über die Bildungsangelegenheiten drastisch eingeschränkt hatte, sah sich die Regierung auf Grund massiven Drucks aus der Zivilgesellschaft und Teilen der Lehrerschaft gezwungen, gegen die „Gegenreform“ Einwendungen vorzubringen. Zur Erinnerung: Es geht um das Milliardengeschäft mit privaten Hochschulen, deren Qualität und Zertifizierung der SUNEDU obliegt. Sie hatte an die 50 Bildungsinstitutionen mangels Eignung schließen lassen und/oder Fristen für deren Schließung oder Mängelbehebung gesetzt. Zum anderen geht es um den Einfluss auf die Schulinhalte, darunter insbesondere um Sexualkunde und den Genderstandpunkt. Die Gegenreform ermöglicht es nun, Eltern und deren zumeist ultrakonservativen religiösen Interessensgruppen Einfluss auf die Lerninhalte zu nehmen, ungeeignete Hochschulen weiter zu betreiben und gibt den Direktoren Mitbestimmungsrechte über den Betrieb von ungeeigneten Hochschulen und die Lizenzierung weiterer.

Die Einwendung der Regierung gegen die Teilentmachtung der SUNEDU wurde nun in der Bildungskommission von der Opposition im Bündnis mit Peru Libre abgeschmettert! Das umstrittene Gesetztesvorhaben wird in alter Fassung erneut dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Aber damit nicht genug. Sogleich wurde eine Gesetzesinitiative erarbeitet, die auf die weitestgehende Unterbindung von Einwendungen seitens der Exekutive abzielt. Insgesamt ist die Situation im Bildungsbereich besorgniserregend und die Regierung ist nicht in der Lage, ausreichende und angemessene Maßnahmen zur Lösung zu ergreifen. Die lange pandemiebedingte Schulschließung hat nach Ansicht der UNICEF das Bildungsniveau um 10 Jahre zurückgeworfen. Betroffen sind insbesondere Kinder aus indigenen Gemeinden, den Armutsgürteln und Kinder mit Behinderungen, die weder richtige Betreuung noch Zugang zu den digitalen Medien hatten, um an den ohnehin umstrittenen Maßnahmen „aprendo en casa“ (Ich lerne zuhause) teilzuhaben.

Ohne Plan in die Hungersnot

Eine weitere Tragödie größeren Ausmaßes bahnt sich in der klein- und familiären Landwirtschaft an. Zu der ohnehin schon chronischen Vernachlässigung dieses Sektors, der maßgeblich zur Ernährung der peruanischen Bevölkerung beiträgt, kommt nun die Verknappung von Saatgut und Düngemitteln durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hinzu. Schätzungen gehen von einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion von 30% bis zu 70% aus. Trotz der immer wieder propagierten „zweiten Agrarreform“ und der drohenden Ernährungskrise versagt die Regierung, insbesondere durch die rasch wechselnden Landwirtschaftsminister und deren fehlende Eignung. Fortschritt in der Landwirtschaft wird vorwiegend als rein technisch zu lösendes Problem angesehen, z.B. durch den vermehrten Einsatz von Traktoren und der Förderung einer nationalen Kunstdünger-Produktion. Andere Maßnahmen wie der selektive, kurzfristige Ankauf von Nahrungsmitteln oder die Vergabe von Kleinkrediten lösen das strukturelle Problem nicht. Eine Strategie für eine ökologisch, nachhaltige und gemeinschaftlich organisierte Landwirtschaft ist nicht absehbar.

Bislang wurden vor allem die Privilegien für die exportorientierten mittleren und großen Agrarexporteure erweitert. Der ohnehin ungeeignete Landwirtschaftsminister Oscar Zea, vereidigt am 8. Februar, wurde schon am 24. Mai durch eine neue Personalie, Javier Fernando Arce Alvarado ersetzt. Beide kommen aus den Reihen Peru Libres und beide haben eine umfangreiche polizeiliche Vorgeschichte. Zea hat inzwischen auch die Fraktion von Peru Libre verlassen, u.a. aus Protest gegen die Absetzung seiner ehemaligen Kollegin Betssy Chávez. Sein Nachfolger, Arce Alvarado, wurde schon nach 2 Wochen auf eigenen Wunsch ausgewechselt. Wie sich herausstellte, ist dessen kriminelle Vorgeschichte zu umfangreich, um ihn weiter halten zu können. Hinsichtlich Landwirtschaft hatte er weder Erfahrung noch Wissen in das Amt eingebracht.

Am 7. Juni vereidigte Castillo nun Andrés Alencastre Calderón als inzwischen fünften Landwirtschaftsminister seit Regierungsantritt. Er ist ein renommierter Ökonom, u.a. mit Expertise in Umweltfragen, und Konfliktmanagement auf sozial-ökologischem Gebiet. Er gehörte dem Programmteam von Castillo während des Wahlkampfes an, wurde aber bislang nicht für Ämter berücksichtigt. Das mag damit Zusammenhängen, dass er seit den 70ern in derjenigen Linken sozialisiert wurde, die Vladimir Cerrón kontinuierlich als „Caviares“ (Pseudolinke) diffamiert. Offenbar musste Castillo auf ihn zurückgreifen, nachdem erneut klar wurde, dass in den Reihen von Peru Libre weder geeignete Fachleute noch unbescholtene Kandidat*innen zu finden sind. Ob Alencastre unter den widrigen Regierungsbedingungen und dem Gegenwind von Peru Libre die Agrarpolitik in bessere Bahnen lenken kann, darf bezweifelt werden. Castillo, obwohl selbst Kleinlandwirt, hat weder ein tiefes noch erweitertes Verständnis der Agrarproblematik im Land und verkennt jetzt ganz offensichtlich die Gefahr einer sich anbahnende Hungersnot.

Seit längerem werden die Hilferufe aus den 13 000 Volksküchen („comedores populares“), darunter 2400 Essenstafeln (Ollas comunes autogestionarias) immer lauter. Nach Covid setzen ihnen nun die rasant gestiegenen Lebensmittelpreise zu. Immer mehr Menschen sind auf sie angewiesen, während das Angebot immer weiter eingeschränkt werden muss und schon einige hundert Ollas gar nicht mehr tätig sein können. Bürokratische Hürden, ausbleibende Privatspenden und viel zu geringe staatliche Subventionen erschweren diese existenzielle kostenlose oder preisgünstige Nahrungsquelle für geschätzt 1 Mio. Menschen. Für sie dürfte sich die Wahlkampfparole Castillos „no mas pobres en un país rico“ („keine Armen mehr in einem reichen Land“) wie Hohn anhören.

Anstelle sinnvoller Lösungsansätze setzt Castillo weiter auf populistische Phrasen. Seine letzten Aussagen zum drohenden Hunger haben besonders bei den ärmeren Schichten und sozial engagierten zivilgesellschaftlichen Kreisen große Empörung ausgelöst: “Heute wird die Hungersnot nur diejenigen treffen, die nicht arbeiten, die faulenzen. Und da wir ein arbeitendes Volk sind, glaube ich, dass wir die Hungersnot besiegen werden“. Wie schon seinerzeit im Wahlkampf werden hier seine bürgerliche und evangelikale Ideologie deutlich, die Reichtum oder Armut lediglich als Problem individueller Arbeitsbereitschaft und Selbstverschulden ansieht.

 

Politiker*innen wollen sich eine goldene Bürokratie schaffen

 

Die Regierungsopposition im Parlament hat derweil andere Sorgen. Sie arbeitet an der bisher umfangreichsten Verfassungsänderung, die u.a. den Handlungsspielraum des Präsidenten einschränken und die Regierung zu einem reinen Werkzeug des Parlaments degradieren soll. So darf der Präsident erst nach drei Misstrauensvoten gegen Kabinette den Kongress auflösen. Nicht aber den Senat. Senat? Die Modifikation von sage und schreibe 53 Verfassungsartikeln sieht die Wiedereinführung des Zweikammern-Parlaments vor. Die Abgeordnetenkammer soll zahlenmäßig auf über 130 Mitglieder erweiterbar und durch einen 60ig köpfigen Senat ergänzt werden.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: es geht um Arbeitsplatzbeschaffung auf höchstem Einfluss- und Einkommensniveau. Yonhy Lescano, ehemaliger Präsidentschaftskandidat von Accion Popular und politischer Gegner seiner Parteikollegin und Parlamentspräsidentin Alva, kommentierte das Vorhaben empört: “Mitten in der vorhergesagten Hungersnot und Armut wird versucht, noch mehr vergoldete Bürokratie zu schaffen. Das ist unverantwortlich.”

Vorgesehen sind weiterhin die Rückkehr zu der Möglichkeit aufeinanderfolgender Wiederwahl von Abgeordneten, erweiterte Einwendungsmöglichkeiten gegen Regierungsmitglieder bis hin zur namentlichen angeführten Entlastung des Putschisten Merino und anderer seiner Komplizen. Die Parlamentspräsidentin möchte für die Umsetzung des ehrgeizigen Plans die Jahreslegislatur, die am 15 Juni endet, ausdehnen, um dann die zweite notwendige Abstimmung schon in der darauffolgenden Periode durchführen zu können.

Das Vorhaben stößt nicht bei allen Parlamentarier*innen auf Gegenliebe und die notwendige Zustimmung ist nicht garantiert. Daher bringen die Betreiber*innen der Verfassungsänderungen nun ein Referendum ins Spiel. Angesichts ihrer hysterischen Ablehnung eines Referendums zu einer verfassungsgebenden Versammlung, wie sie Castillo, die Linken und die liberale Mitte durchführen wollten, reibt man sich doch erstaunt die Augen. Wenn es der Opposition in die Karten spielt, geht erstaunlich viel. Wieder einmal wird deutlich, wie diskriminierend, interessiert und vielfach rechtsbeugend die Konservativen, Rechten und Rechtsradikalen agieren.

Politikverdrossenheit angesichts bevorstehender Kommunalwahlen

Angesichts des desolaten Zustandes der Regierung und des „Congrezoos“ breitet sich die Politik-Verdrossenheit weiter aus und es machen sich all zu verständlich Fatalismus und politische Enthaltung breit. Die gesetzlich vorgesehen parteiinternen Vorwahlen der Kandidat*innen für die in diesem Jahr anstehenden Regional- und Kommunalwahlen haben ein bezeichnetes Licht auf den desaströsen Zustand und die hierarchische wie autoritären Praxis innerhalb der Parteien geworfen. Lediglich zwei Parteien hatten an einem einzigen Ort eine Alternative Kandidat*innen-Liste zur Wahl gestellt. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung der Mitglieder der 147 Parteien und Regionalbewegungen lag bei 12%! Von den 144,955 Mitgliedern der einstmaligen Regierungspartei Peru Libre gingen 6,4% zur Wahl! Die vorgeschriebene Geschlechterparität der Kandidat*innen-Listen wurde nur von 7 Parteien eingehalten. Die linke Partei „Juntos por el Perú“, für Veronika Mendoza noch als Präsidentschaftskandidatin angetreten war, stellte nicht eine Frau auf. Keine der Führungen und Kandidat*innen von allen Parteien können unter diesen Umständen auf eine demokratische Legitimierung verweisen. Hinzu kommt, dass einige im Parlament vertretene Parteien, nicht rechtzeitig die von der Wahlbehörde JNE vorgegebenen formalen Bedingungen einhalten konnten. Und so tat der Kongress das, was er am liebsten tut, nämlich Gesetze für den unmittelbaren Hausgebrauch zu verabschieden. Der Kongress wäre nicht er selbst, hätte er nicht drei Tage nach der Wahl ein Gesetz veröffentlicht, dass zusätzliche Wahlen für die zu spät gekommen Parteien und die Aufstellung neuer Kandidat*innen vorsieht, obwohl die Listen schon abgestimmt waren (sic!). JNE, ONPE und die Ombudsstelle (Defensoria del Pueblo) haben umgehend darauf verweisen, dass dieses Gesetz gegen die Verfassung und geltendes Wahlrecht verstößt. Auch technisch sei so eine Nachwahl in keiner Weise durchführbar. Das ficht den Kongress nicht an. Durch eine Modifizierung des 99ten Artikels der Verfassung möchte er den Weg frei machen, um die unliebsamen Leiter*innen der Behörden JNE, ONE und RENIEC wegen verfassungsfeindlicher Vergehen anklagen und loswerden zu können.

Für die Regional- und Kommunalwahlen treten nun Kandidat*innen an, für die sich selbst in den eigenen Parteien kaum jemand interessiert. Die Bevölkerung wird kaum Vertrauen in sie haben und an substantielle Verbesserungen durch die Wahlen glauben.

Fußball lenkt von der Krise ab

Je weniger die drängenden Probleme gelöst werden, desto entschiedener nutzt die Regierung die Anlässe, die der Festigung einer imaginären nationalen Gemeinschaft dienen könnten. Bei Patriotismus kann sie sich auch der Unterstützung durch die Opposition sicher sein. Am 13. Juni bekam das Personal des öffentlichen Dienstes landesweit frei, um aus der Ferne der Fußballnationalmannschaft auf alle erdenkliche Weise den Rücken zu stärken. Peru spielte in Doha/Qatar in der Relegation gegen Australien um den Einzug in die WM. Schätzungsweise 15000 Fans haben sich auf den Weg gemacht, das Spiel in Echtzeit vor Ort zu erleben. Beim Elfmeterschiessen verlor Peru schliesslich 4:5 gegen Australien und verpasste die WM-Qualifikation.

Andreas Baumgart, 13.06.2022

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