“Die Menschenleben aus den Anden gehen uns an” – Plakat bei Protesten in Lima ©Vera Lentz

Ein Modell stößt an seine Grenzen

Eine politische Zusammenfassung der Ereignisse in Peru

Peru erlebt seit Jahrzehnten eine Regierbarkeitskrise – gekennzeichnet vor allem durch die Schwäche der politischen Institutionen. Gründe dafür sind ein Defizit im Aufbau einer Staatsbürgerschaft sowie begrenzte Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, die nur aufgrund von öffentlichem Druck erreicht worden sind. Die Krise ist auch vor dem Hintergrund eines hohen Grades an informeller Beschäftigung zu sehen, die Ausdruck einer historischen Vernachlässigung der Grundbedürfnisse durch den Staat ist. Die Menschen sind gezwungen, vielfältige Strategien für ihr Überleben zu entwickeln. Dazu kommt ein Wirtschaftsmodell, das auf Rohstoffexport basiert, vom internationalen Markt abhängig ist und von der Krise nicht betroffen ist, abgesehen von den Schwankungen der Weltmarktpreise. Ein Großteil der Informalität hängt auch mit illegaler Wirtschaft und Korruption zusammen, die die nationale Wirtschaft prägen. Man kann durchaus sagen, dass neben der Regierbarkeitskrise ein extremes neoliberales Wirtschaftsmodell existiert, das alle oben genannten Formen der Akkumulation in sich vereint.

Alle gegen Castillo

Aus diesem Kontext ging die letzte Regierung hervor, weniger aus einer programmatischen Zustimmung als vielmehr aus Ablehnung gegen eine mögliche Fujimori-Regierung, die für ihren repressiven und korrupten Charakter, die Unterwerfung unter externe wirtschaftliche Interessen und die Veräußerung des Staatvermögens an ausländisches Kapital bekannt war. Der knappe Sieg von Präsident Castillo wurde weder von der Rechten noch von den meisten Medien, die mit ihr in enger Verbindung stehen, anerkannt. Hinzu kommen Rassismus und Diskriminierung, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben und bis heute den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen. Die Ineffizienz der Regierung Castillos und die sich mehrenden Anzeichen von Korruption erleichterten die durch das Parlament betriebenen und von der Presse unterstützten Versuche, die Regierung zu stürzen und zu destabilisieren. Doch auch bei einer guten Regierungspolitik hätten die rechten Gruppierungen nicht anders gehandelt. Viele Maßnahmen der Regierung, die etwa in den Bereichen Bildung und Geschlechtergerechtigkeit Bürgerrechte einschränkten, stimmten sogar gut mit den rückschrittlichen Ansichten der Rechten überein.

Die Verachtung der Eliten gegen indigene Mit-Bürger*innen

Die offensichtliche Korruption innerhalb der Regierung Castillo, die wie in jedem Rechtsstaat gerichtlich verfolgt werden sollte, war ein willkommener Anlass für Anschuldigungen gegen den Präsidenten. Im Vergleich zu weit größeren Skandalen und Korruptionsfällen handelten Parlament und Justiz im Fall Castillo sehr sorgfältig und gründlich. Die Strategie der Rechten und der Mehrheit der Presse bestand von Anfang an darin, Castillo und sein Umfeld permanent unter Druck zu setzen. Zu dieser anhaltenden Destabilisierungs- und Absetzungskampagne gesellt sich ein grausamer klassistischer sowie rassistischer Diskurs, der die Unfähigkeit des Präsidenten und seine einfache Herkunft benutzte, um ihn und seine Familie anzugreifen und zu verletzen. Letzteres gilt als ein zentraler Faktor, der die Reaktion der überwiegend ländlichen Bevölkerung hervorgerufen hat. Die Proteste sind vor allem auf die verächtliche Haltung der Eliten gegenüber den ärmsten sozialen Bevölkerungsgruppen, insbesondere gegenüber der ländlichen Bevölkerung im Süden des Landes, zurückzuführen. All dies verdeutlicht die soziale und kulturelle Spaltung des Landes.

Versuchter Staatsstreich hat alle überrascht

Die jüngsten Ereignisse kamen für viele überraschend. Zum einen, weil niemand damit rechnete, dass Castillo auf die Idee kommen würde, das Parlament aufzulösen, ohne jegliche Unterstützung durch offizielle militärische oder politische Kräfte. Daher sein rascher Sturz, seine Inhaftierung sowie die Vereidigung seiner Nachfolgerin, der Vizepräsidentin, und die Ernennung ihres Kabinetts. Zum anderen hatte niemand damit gerechnet, dass so viele die Freilassung des Präsidenten fordern würden, was ja bedeutet, dass sie den gescheiterten Versuch der Parlamentsauflösung als legitim empfanden, wohl aufgrund seiner anhaltenden Versuche der Destabilisierung. Die Proteste werden stärker, vor allem in den südlichen Hochanden und an der Südküste. Sie verlangen den Rücktritt von Präsidentin Dina Boluarte, die Auflösung des Parlaments sowie vorgezogene Neuwahlen. Manche fordern auch die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung sowie die Freilassung Castillos. Während Parlament und Präsidentin die soziale und politische Realität ignorieren, werden Streiks und Blockaden massiver. Die Antwort darauf ist gewaltsame Repression. Das hat zu der hohen Zahl von bisher 60 Todesopfern und Hunderten von Verletzten durch Schrotkugeln und scharfe Munition geführt.

Polarisierung nimmt zu

Die Zukunft ist ungewiss. Die Initiative der Präsidentin, die Wahlen auf März 2024 vorzuziehen, ist im Parlament gescheitert. Ebenso wenig wurde das Versprechen erfüllt, ein neues, technokratisches und effizientes Kabinett zu ernennen. Im Gegenteil fördert die Parlamentsmehrheit Gegenreformen mit dem Ziel, ihre Macht zu erhalten. Sie bewilligt wirtschaftliche und soziale Maßnahmen, die die Bürgerrechte verletzen, insbesondere die der indigenen Bevölkerung des peruanischen Amazonasgebietes. Das Misstrauen der Bevölkerung wächst weiter, ebenso die Verbitterung und Entrüstung aufgrund der anhaltenden klassistischen und rassistischen Misshandlung. Die Solidarität eines Teils der Bevölkerung mit dem abgesetzten Präsidenten hat mit diesem Gefühl der Ausgrenzung zu tun, nicht so sehr mit seinen Führungsqualitäten.

Was wir tun können

Was tun? Als erstes sollten wir die Forderungen stellen, dass die Mordfälle gründlich untersucht und die Verantwortlichen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Die Regierung muss sich ihrer Verantwortung stellen. Die aktuellen, meist spontanen sozialen Proteste bieten eine große Chance zur sozialen Transformation. Alles, was jetzt politisch erreicht werden kann, wird noch keine wesentlichen Veränderungen bringen, sondern bestenfalls Wegweiser für einen langen Prozesses des Aufbaus neuer wirtschaftlicher, politischer, sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Bedingungen sein. Autoritäre Tendenzen herrschen nicht nur in den traditionellen Machtgruppen der Regierung und des Parlaments vor. Sie weiten sich auch auf die verschiedenen Bereiche und Institutionen von Staat und Gesellschaft aus, selbst in verschiedenen Vertretungen und Führerschaften der betroffenen Schichten. Dies kann dazu führen, dass antidemokratische Führungsstile bestärkt werden. Das gleiche gilt für die mögliche Fortführung neoliberaler und umweltzerstörerischer Wirtschaftsmodelle wie etwa die illegale Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Wir müssen uns sehr ernsthaft mit der schwerwiegenden sozialen Spaltung auseinandersetzen, die dazu führt, dass die Unterteilung in Menschen erster und zweiter Klasse akzeptiert wird.

Wir brauchen neue Bedingungen der Organisation einer artikulierten gesellschaftlichen und politischen Staatsführung (Governance). Im Aufbau neuer Potenziale sollten wir uns  besonders an junge Menschen und Vertreter*innen von Bauern- und indigenen Organisationen richten. Bündnisse von Organisationen müssen gestärkt, interinstitutionelle Allianzen, die aktuelle Zersplitterung  von Engagement und Ressourcen muss überwunden werden. Wir müssen einen klaren Kurs bestimmen, der alte Paradigmen hinter sich lässt und uns zu dem südamerikanischen Konzept des „guten Lebens“ („buen vivir“) führt. Es ist höchste Zeit, dass NROs, Projekte und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit sich zusammenfinden, um über diese neuen Herausforderungen zu reflektieren und einen Weg zu finden, anders zu handeln.

              Carlos Herz, 25.01.2023

Carlos Herz ist Direktor der Nichtregierungsorganisation “Centro Bartolome de Las Casas” in Cusco

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