Rocío Silva Santisteban

Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr

Die Feministin, Dichterin und Menschenrechtsaktivistin Rocio Silva-Santisteban zu den Protesten vom Juli 2023.

Zum Gedenken an das historische Datum des Streiks von 1977, der die Militärregierung dazu zwang, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, haben 25 Jahre später die verschiedenen Vertreter*innen der peruanischen Regionen, der Bauernverbände, der Verteidigungsfronten, der Gewerkschaften, der Studierenden, der informellen Arbeiter – des städtischen und ländlichen Prekariats – aber vor allem die Angehörigen derjenigen, die in den Monaten Dezember, Januar und Februar von der Polizei und der Armee getötet wurden, zu einer großen nationalen Mobilisierung in Peru am 19. Juli 2023 aufgerufen.

Von der Collao-Hochebene im Süden bis zu den Anden von Cajamarca im Norden, von den Arbeitervierteln Limas bis zum zentralen Regenwald in Pichanaki nimmt eine Bewegung namens “Die dritte Übernahme Limas” Gestalt an, die von den staatlichen Institutionen, insbesondere die Präsidentschaft der Republik und dem Kongress, mit Sorge betrachtet wird.

Auf Anweisung des Innenministers führt die Nationalpolizei in den Außenbezirken von Lima Kontrollen durch, bei denen Menschen, die in die Hauptstadt fahren, nach ihren Papieren gefragt, ihre Stimmen aufgenommen und Fotos von ihnen gemacht werden. Das hat es noch nie gegeben und ist verfassungswidrig. Ein schwerwiegender Eingriff. Zudem wurden gestern auf der Av. de la Peruanidad (Parque Campo de Marte) Hunderte von Polizeimotorrädern und viele junge Polizeischüler gesehen, die als “Ternas” für die Infiltration der Demonstrationen ausgebildet wurden. In vielen Straßen marschieren ganze Bataillone auf, einschließlich gepanzerter Fahrzeuge. Lima rüstet auf, als erwarte die Stadt eine Invasion von Fremden. Dies sind natürlich Mittel zur Einschüchterung der Mobilisierten. Wenn auch, nach den 49 Tötungen durch Schusswaffen in den letzten Monaten, garantierte Straffreiheit für Polizei und Armee das beste Mittel zur Einschüchterung ist.

Dein Name ist Straflosigkeit

Straflosigkeit: Das ist die Formel, mit der die Präsidenten der Republik seit Jahren soziale Konflikte bekämpfen. Doch in diesem Fall hat sie ein extremes Ausmaß erreicht. Denn es gibt keine ernsthafte staatsanwaltschaftliche Untersuchung des Massakers in Ayacucho (sechs Tote durch Kugeln aus dem Galil-Gewehr) oder der außergerichtlichen Hinrichtungen in Juliaca (siebzehn Tote durch AKM, Galil und Bleischrot), oder derjenigen, die in Andahuaylas, Virú, im zentralen Dschungel oder durch Tränengasbomben, die ihnen im Zentrum Limas an den Kopf geworfen wurden oder mit Kugeln in den Rücken aus 600 Meter Entfernung getötet wurden. Präsidentin Dina Boluarte wurde von der Generalstaatsanwältin Patricia Benavides interviewt, als würden sie im Buckingham Palace Tee trinken und nicht wegen Völkermordes angeklagt werden. Die Präsidentin, mit ihren französisch manikürten Händen, an denen Blut klebt, alles abgestritten: Ich habe nichts gewusst, ich bin kein Kommandeur, ich hatte keine Informationen, ich habe keine Entscheidungen getroffen. Aber der Chef des Oberkommandos der Streitkräfte, der zunächst leugnete, im Regierungspalast gewesen zu sein, konnte mit der Lüge nicht mehr weiterfahren, als die Staatsanwälte ihm das Besuchsregister zeigten. Da beschloss er, Boluarte direkt zu beschuldigen: Sie wusste es, sie ist die Oberkommandierende der Streitkräfte, sie war stündlich über die Geschehnisse in ganz Peru informiert.

Doch trotz der erschütternden Berichte von Human Rights Watch, der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) oder Amnesty International, die statistische Tabellen enthalten, die das rassistische Gemetzel in den indigenen Gebieten belegen, lassen sich die menschenverachtenden Staatsbeamten nicht einmal beirren. Dies gilt auch für den (politisch korrekten) Bericht der IACHR, der, so seltsam es auch klingen mag, die Ereignisse in Ayacucho als Massaker bezeichnet, nicht aber das Massaker in Juliaca. Alberto Otárola, der Ministerpräsident, hat die Berichte zunächst disqualifiziert, als ob sie nicht objektiv wären. Und wir anderen, die wir die Daten sammelten, wurden als Übertreiber, Störenfriede des sozialen Friedens oder gar als Terroristen behandelt.

Als die “terroristische” The New York Times über die Menschenrechtsverletzungen mit einer Reihe von Videos berichtete, die von Bürgern in der Nähe gesammelt und mit ihren Mobiltelefonen aufgenommen worden waren, und zwar in tadelloser Darstellung, die zeigte, wer und wie die Schüsse direkt auf die Körper der Menschen abgefeuert wurden, sagte eine peruanische Journalistin, die jetzt nach rechts recycelt wurde und kürzlich einen Preis an ihrer Heimatuniversität in New York erhielt, in der Schlagzeile der (nie parteiischen) Zeitung El Comercio: “Das sind parteiische Berichte”.

Aber als The Economist ebenfalls berichtete, dass Peru nicht mehr eine “fehlerhafte Demokratie”, sondern ein “hybrides Regime” sei, beauftragte das peruanische Außenministerium die US-Agentur Patriot Stategies, für 55.000 Dollar im Monat in Washington das Desaster zu “säubern”. Den Angehörigen der Opfer werden 50.000 Soles für jeden Ermordeten gezahlt: Das Leben eines Arztes aus Juliaca, eines jungen Fußballers aus Andahuaylas, eines jungen Freiwilligen in einem Tierheim in Puno ist 50.000 Soles wert. Die Monetarisierung von allem ist der harte Kern dieses grausamen Kapitalismus, der die Peruaner zu absolutem Misstrauen und ungeheuren Unmenschlichkeit führt.

Gemeinsam, aber nicht durcheinander

Im Gegensatz zu den ersten Mobilisierungen nach dem Sturz des Präsidenten Pedro Castillo wurde dieser Aufruf des Nationalen Einheitskomitees des Kampfes für Peru – CONULP (Comité Nacional Unificado de Lucha por el Perú) – geplant, organisiert, mit der Basis konsultiert und vor allem debattiert. Am 1. und 2. Juli wurde auf einer Versammlung mit 580 Delegierten im populären Distrikt Puente Piedra eine Konsensagenda beschlossen, die unter anderem den Rücktritt von Dina Boluarte, die Schließung des Kongresses und die Konsultation über eine verfassungsgebende Versammlung vorsieht. Zu einigen Punkten wurde kein Konsens erreicht. Der Forderung nach Wiedereinsetzung des Präsidenten Castillo, die in einer heftigen Debatte von einer Gruppe von 40 überzeugten Anhänger*innen des ehemaligen Präsidenten Castillo erhoben wurde, stimmte die CONULP-Versammlung nicht zu. Ein großer Teil, darunter auch die Delegierten aus Cusco, war völlig anderer Meinung und forderte, die Forderung nach schnellstmöglicher Durchführung von Neuwahlen einzufügen. Aber auch dieser Punkt wurde nicht in die Tagesordnung aufgenommen, obwohl es sich zudem um eine Forderung von mehreren Institutionen unterschiedlichen Profils aus Lima als auch der so genannten Bürgerkoalition und der Coordinadora Nacional de Derechos Humanos handelt. Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass bei dem Treffen in Puente Piedra so eine Art Pakt vereinbart wurde: “Wir werden nicht auf das Thema der vorgezogenen Wahlen bestehen, wenn ihr nicht auf eine Wiedereinsetzung besteht”. Alle waren sich einig, dass diese Punkte weiter “an der Basis” diskutiert werden sollten.

Um die Wahrheit zu sagen: Die Leute werden mit ihren eigenen Agenden auf die Straße gehen.

In den letzten sieben Jahren haben wir Peruaner*innen die Zerstörung der Parteipolitik, die Verwandlung des Kongresses in eine wilde Lobbymesse, den Rückgang des Vertrauens in den sozialen Zusammenhalt, des Respekts vor der nationalen Polizei und andererseits den Anstieg der Korruption als Staatsräson miterlebt.

Wir sind es leid: Die Pandemie hat geliebte Menschen getötet, die uns inspiriert haben. Der Lockdown löste die Schminke des BIP-Wachstums der letzten zwanzig Jahre: Wir hatten nicht einmal 100 Betten auf Intensivstationen im ganzen Land mit 33 Millionen Einwohner*innen. Und schließlich erlebten wir den entropischen Sturz eines Regimes, das mehr schlecht als recht  die Stimmen der einfachen Menschen, der Bauerwachen, der Landbevölkerung und der Hoffnungen symbolisierte.

Das nennt man, wie der peruanische Rockmusiker und Poet Daniel F. zu sagen pflegte, die Tötung der Illusion.

Aber trotzdem stehen wir hier mit zum Himmel erhobenen Armen und Fäusten.

Der Beitrag erschien zuerst bei https://desinformemonos.org/esta-democracia-ya-no-es-democracia/

Übersetzung: Andreas Baumgart