Warum einige in Peru für eine neue Verfassung auf die Straße gehen – und andere finden, dies würde Perus ins Chaos stürzen.
Seit mehreren Jahren steht der Wunsch nach einer neuen Verfassung Perus im Raum. Die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung wird vor allem von linken Gruppierungen eingebracht. Ex-Präsident Pedro Castillo hatte die Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf seiner Agenda – der Kongress lehnte dieses Ansinnen jedoch ab.
Als die Proteste nach dem Selbstputsch von Castillo im Dezember 2022 ausbrachen, war immer wieder der Ruf „Asamblea Constituyente“ – „Verfassungsgebende Versammlung“ zu hören. Die linke Partei Peru Libre – mit der Castillo an die Macht gekommen war – knüpfte ihre Zustimmung für vorgezogene Neuwahlen an eine gleichzeitige Abstimmung über eine verfassungsgebende Versammlung – und trug damit auch zum Boykott baldiger Neuwahlen bei.
Doch die meisten Peruaner*innen finden, dass ihre alte Verfassung in dieser Form nicht mehr taugt. Bei der letzten Umfrage des Instituto de Estudios Peruanos im Februar 2023 haben sich 36% der Befragten für eine neue Verfassung ausgesprochen. 46% wollten die bisherige Verfassung modifizieren.
Der Streit, ob Peru eine neue Verfassung braucht, wird Peru weiterhin beschäftigen. Doch worum geht es hier eigentlich? Warum sehen einige in einer neuen Verfassung die Möglichkeit zur politischen Erneuerung und andere darin den Anfang vom Ende des peruanischen Erfolgsmodells?
Die heute gültige Verfassung von 1993 wurde von Alberto Fujimori nach dessen Selbstputsch – also der Schließung der beiden Kammern der Legislative – in Auftrag gegeben, von einer gewählten Versammlung, in der die „Fujimoristas“ die Mehrheit stellten, erarbeitet und am 31. August 1993 in einem Volksentscheid von 52% der Peruaner*innen angenommen. Für viele Gegner der jetzigen Verfassung ist deren Entstehung unter einem autoritären Regime ein grundsätzlicher Makel. Als die Verfassung 1993 verabschiedet wurde, steckte den Peruaner*innen die Erfahrung von Hyperinflation, Auslandsverschuldung, Mangelwirtschaft und maroden Staatsbetrieben noch im kollektiven Gedächtnis. Alberto Fujimori hat 1990 damit begonnen, die Staatsbetriebe zu privatisieren und Auslandsinvestitionen ins Land zu locken, denen er langfristige Verträge zugestand.
Bis heute wird um die Verfassung von 1993 erbittert gestritten. Dabei geht es vor allem um sechs Verfassungsartikel, in denen es um die Rolle der Wirtschaft in Peru und um die Bedeutung des Staates im wirtschaftlichen Handeln geht.
Artikel 58 betont die freie Privatinitiative und die soziale Marktwirtschaft. Aufgabe des Staates ist vor allem Arbeitsförderung, Gesundheit, Bildung, Sicherheit, öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur.
Artikel 60: Keine Staatsbetriebe
„Der Staat erkennt den wirtschaftlichen Pluralismus an. Die nationale Wirtschaft stützt sich auf die Koexistenz verschiedener Eigentums- und Betriebsformen. Nur wenn ausdrücklich per Gesetz erlaubt, darf der Staat subsidiär unternehmerisch tätig werden, direkt oder indirekt, und nur wenn ein großes öffentliches Interesse oder ein offensichtliches öffentliches Einverständnis herrscht. Staatliche und nichtstaatliche Unternehmen unterliegen denselben gesetzlichen Regeln.“
Artikel 62: Investitionsverträge können nicht abgeändert werden“(…) die Vertragsbedingungen können nicht durch Gesetze oder neue Bedingungen verändert werden. Konflikte können nur von Schiedsgerichten oder ordentlichen Gerichten geschlichtet werden, so wie dies im Vertrag vorgesehen ist. Der Staat darf durch „contratos-ley“ (Verträge, die Gesetzesstatus haben) Garantien und Sicherheiten geben, die von der Legislative nicht abgeändert werden können, ohne den vorher genannten Schutz aufzugeben.“
Artikel 70: Schutz des Privateigentums
“Das Recht auf Eigentum ist unverletzlich. Der Staat garantiert es. Es wird in Harmonie mit dem Gemeinwohl und innerhalb des gesetzlichen Rahmens ausgeübt. Niemand darf enteignet werden, es sei denn aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlicher Notwendigkeit, durch ein Gesetz erklärt, und nach der Zahlung einer angemessenen Entschädigung (…).“ Peruanische und ausländische Personen, juristische wie natürliche, werden gleich behandelt.
Artikel 79: Legislative kann den Staatshaushalt nicht ändern
“Die Vertreter im Kongress können weder neue Staatsausgaben veranlassen noch bisherige erhöhen.”
Artikel 84: Autonomie der Zentralbank
„Die Zentralbank ist autonom innerhalb ihres organischen Gesetzes (…)… Die Bank darf den Staatshaushalt nicht finanzieren, mit Ausnahme des Kaufs von Anleihen auf dem Sekundärmarkt, wie es das Gesetz vorsieht.“
Die Befürworter der gültigen Verfassung von 1993 betonen, dass Perus Wirtschaft nur dank dieser neuen Verfassung wachsen und zum bisherigen Boom führen konnte. Infolge dieses Wirtschaftswachstums konnten neue Sozialprogramme eingeführt werden, die die Armut nachweislich verringert haben. Auch war damit Geld für neue Infrastrukturprojekte und höhere Staatsausgaben vorhanden ( z.Bsp. höhere Lehrer- und Arztgehälter).
Befürworter dieser Wirtschaftsstrategie setzen auf Wirtschaftswachstum, ohne welches sich Peru nicht weiter entwickeln könne.
Dass die Zentralbank autonom ist und weder Legislative noch Exekutive einfach Geld drucken lassen können oder die Staatsausgaben erhöhen, ist ein Eckpfeiler der makroökonomischen Stabilität Perus, die trotz politischer Dauerkrise bis heute hält. Bis heute sind die Inflation und die Auslandsschulden Perus im lateinamerikanischen Vergleich eher gering.
Befürworter einer neuen Verfassung dagegen betonen, dass die bisherige Verfassung ein neoliberales Wirtschaftssystem festschreibt. Dass dort die Rolle des Staates als Steuerer der Wirtschaftspolitik fehlt (Stichwort: Industriepolitik) und dies nicht gleichbedeutend mit Staatsbetrieben ist. Dass die bisherige Verfassung zwar Wirtschaftswachstum und makroökonomische Stabilität gebracht hat, dass sie aber nicht fähig war, Arbeitsplätze zu schaffen oder den starken Sektor der informellen/illegalen Ökonomie einzubinden und stattdessen Korruption gefördert hat (Stichwort Odebrecht-Skandal). Sie hat einseitig den Rohstoffsektor gefördert. Schließlich gehe es heute um nachhaltiges, umweltverträgliches Wachstum, das in der Verfassung keine Rolle spiele.
Die politische Krise Perus, so die Befürworter einer neuen Verfassung, sei auch ein Symptom und Folge der einseitig neoliberalen Verfassung.
Schließlich fehlen in der Verfassung von 1993 auch Aspekte wie die multikulturelle und dezentrale Verfasstheit Peru sowie die Verankerung von sozialen und kulturellen Menschenrechten.
Hildegard Willer
Quellen und vertiefende Lektüre:
Text der Verfassung (in spanisch): https://www.congreso.gob.pe/Docs/files/documentos/constitucion1993-01.pdf
Waldo Mendoza Bellido: Carta abierta a los “constituyente lovers” https://pqs.pe/opinion/carta-abierta-a-los-constituyente-lovers-por-waldo-mendoza-exministro-de-economia/
Fernando Villaran: Respuesta a Waldo Mendoza. El modelo económico y la constitución. https://www.revistaideele.com/2023/01/25/respuesta-a-waldo-mendoza-el-modelo-economico-y-la-constitucion/