Gedenken an die Opfer des peruanischen Bürgerkrieges ©DiaroElPeruano

Sofia Macher:  „Die peruanische Gesellschaft hat die Opfer zwar gehört, aber es kam kein Dialog zustande“

Die Menschenrechtsaktivistin und ehemaliges Mitglied der Wahrheitskommission, Sofia Macher, zieht Bilanz über Erreichtes und Nicht-Erreichtes, 20 Jahre nach der Übergabe des Berichts zur Aufarbeitung des peruanischen Bürgerkrieges 1980 – 2000.

Sofia, wenn Du an den Prozess der Wahrheitskommission zurückdenkst: was ist Dir am stärksten in Erinnerung geblieben?

Sofia Macher:  Dass wir es überhaupt geschafft haben, dass der peruanische Staat eine Wahrheitskommission einrichtet. Es gelang während der sieben Monate dauernden Übergangsregierung von Valentin Paniagua. In den 30 Punkten, die der Dialogtisch der OAS zur Wiedererlangung der Demokratie empfohlen hatte, war keine Rede von einer Wahrheitskommission. Auch Paniagua wollte zuerst nichts wissen von einer Wahrheitskommission. Es war eine Forderung von uns Menschenrechtsgruppen, die wir uns seit 1983 für Gerechtigkeit für die Opfer einsetzten. In der Coordinadora Nacional de Derechos Humanos wussten wir, dass wir nur diese sieben Monate hatten, danach würde sich wieder alles um Wirtschaft und Korruptionsbekämpfung drehen. Für viele war der Terrorismus damals kein Thema mehr. Über 3000 Senderisten waren im Gefängnis. Deshalb war es unglaublich, wie viele Sektoren der Gesellschaft sich dennoch für eine Wahrheitskommission einsetzten. Erst gegen Ende seiner Übergangsregierung, unterzeichnete Paniagua dann doch das Dekret zur Schaffung einer Wahrheitskommission. Ich erinnere mich, wie wir vor dem Präsidentenpalast demonstrierten und der Berater des Präsidenten herauskam und mit Tränen in den Augen sagte: Er hat es unterzeichnet.

Im darauffolgenden Wahlkampf konnten wir alle Kandidaten, sogar Alan Garcia, dazu bringen, sich für die Schaffung einer Wahrheitskommission zu verpflichten.

Seit 1983 haben wir uns für Gerechtigkeit für die Opfer des Bürgerkrieges eingesetzt, für Gerechtigkeit für Frauen ohne Macht, viele von ihnen Analphabetinnen. All diese Jahre haben sie geklagt, dass ihre Angehörigen verschwunden sind, verhaftet oder getötet wurden. Und nun hat der peruanische Staat eingesehen, dass dies eine Sache des öffentlichen Interesses ist und deshalb eine Wahrheitskommission geschafften werden müsse. Dies war für mich ein unglaublicher Moment, der wenige Monate zuvor noch unvorstellbar war.

Die Soziologin Sofia Macher war Generalsekretärin der Koordination der peruanischen Menschenrechtsgruppenund eines von 12 Mitgliedern der Wahrheitskommission. ©SofiaMacher

Aus heutiger Sicht: was hat die Wahrheitskommission erreicht und was nicht?

Die Wahrheitskommission hat das Leben vieler Opferfamilien beeinflusst. Erstmals hat der Staat sie als Bürgerinnen und Bürger anerkannt und ihr Leid entschädigt.  Mehr als 230 000 Opfer sind im Entschädigungsregister verzeichnet. Und die offizielle Sicht auf die Geschichte hat sich geändert: es ist heute klar, dass die Zeit des Terrorismus nicht nur Bomben in Lima oder gesprengte Strommasten waren, sondern dass es ein Krieg im Innern des Landes war, der das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger zerstört hat. Die neun Bände des Berichtes der Wahrheitskommission beinhalten solide Daten, die als Grundlage für die Ausarbeitung von Entschädigungs- und Sozialprogrammen immer wieder zitiert werden. Die Wiederaufnahme der Gerichtsprozesse verurteilter Mitglieder von Sendero Luminoso und des MRTA hat sich ebenfalls auf den Bericht gestützt. Der Bericht hatte direkten Einfluss auf alle staatlichen Programme, die mit Opfern zu tun hatten.

Die öffentlichen Anhörungen waren sehr wichtig. Erstmals wurde in Peru die Geschichte aus der Sicht der Opfer gehört und im Bericht der Wahrheitskommission niedergeschrieben. Aber hier stieß die Kommission auch an ihre Grenzen. Die peruanische Gesellschaft hat die Opfer zwar gehört, aber es kam kein Dialog zustanden. Die Opfer bekamen keine Antwort. Die peruanische Gesellschaft zeigte zwar Betroffenheit, wenn sie die Opferaussagen hörte, aber sie setzte dies nicht in Bezug zu ihrem eigenen Leben. Die Menschen fühlten sich dafür nicht verantwortlich. Es war, wie wenn sie einen traurigen Film gesehen hatten, ein wenig weinten, aber sobald sie das Kino verließen, ihr Leben wie vorher weiterführten.

Warum ist diese Verbindung zwischen den Opfergeschichten und der peruanischen Gesellschaft als Ganzes nicht gelungen?

Weil dies lange historische Prozesse sind, die viel mehr Zeit brauchen. Das haben wir bei den Protesten Anfang dieses Jahres wieder gesehen. Diese Proteste gehen an unsere Grundfesten als Republik. Wir sind immer noch eine geteilte Gesellschaft: auf der einen Seite die Stadtbevölkerung, und dort die ländliche, indigene Bevölkerung, die anders ist.  Ich erinnere mich an eine Anekdote. Nach einer Veranstaltung im Rahmen der Wahrheitskommission im Kulturzentrum der Katholischen Universität (im schicken Nobelviertel San Isidro, d.Red.), kommt im Waschraum eine Frau auf mich zu: „Sie sind doch von der Wahrheitskommission, nicht wahr? Ich wusste nicht, dass die Indigenen genauso leiden wie wir“. Für die Frau war es eine neue Erkenntnis, dass eine indigene Frau genauso leidet, wie sie, wenn ihren Kindern etwas angetan wird. Und daran hat sich bis heute nicht geändert. Es wird höchstens nicht mehr so direkt gesagt, weil es politisch inkorrekt ist.

Der peruanische Staat hat bis heute die Interkulturalität nicht integriert. Die Bewohner der Anden sind weiterhin die Anderen, die Prä-Modernen. An dieser Sicht hat auch die Wahrheitskommission nichts ändern können.

Auch die Opfer des Terrorismus aus der Stadt oder der Mittelschicht – auch wenn es sehr viel weniger waren als in der ländlichen Bevölkerung -, fühlen sich nicht als Teil des Berichtes der Wahrheitskommission. Die Unternehmer, die von der MRTA entführt wurden, die Angehörigen der ermordeten Politiker der APRA: sie alle haben sich nicht in das Opfer-Register eingeschrieben. Das Bild des Opfers ist geprägt vom armen, auf dem Land lebenden, Quechua sprechenden Bauern.

 

Wenn ich auf die jüngsten Proteste schaue, auf die inzwischen 50 von Polizei und Militär ermordeten Bürgerinnen und Bürger, dann scheint es, dass wir aus dem Bericht der Wahrheitskommission nichts gelernt haben….

 Das Narrativ, dass die Indigenen einen “Flecken” darstellen, der gesäubert werden muss, ist bis heute gültig. Den Soldaten und Polizisten, die die jüngsten Proteste bekämpften, wurde gesagt, bei den Demonstranten handele es sich um Terroristen und Feinde. Peru ist immer noch ein gespaltenes Land. Die Hauptverantwortung, dass da nichts vorwärts geht, tragen die Politikerinnen und Politiker. Anstatt zu verhandeln, schicken sie Militär und Polizei und waschen sich danach die Hände. „Ich habe nichts damit zu tun“. Das hat Belaunde (Präsident Perus von 1980 – 1985) vor 40 Jahren gesagt, und heute sagt es genauso die Präsidentin Dina Boluarte.

 

Aber Peru ist heute ein anderes Peru als vor 40 Jahren….

 Genau, es ist ein anderes Peru. In den letzten 20 Jahren wurde die Schulbildung ausgeweitet, auch wenn sie qualitativ schlecht sein mag, so ist sie doch flächendeckend. Die Kinder der Bauernfamilien – früher Opfer des Terrorismus – studieren heute an der Universität, sie sind „modern“ geworden.  Die Proteste nach der Absetzung Castillos waren den auch keine Proteste für bessere staatliche Dienstleistungen, sondern es waren politische Proteste: “Ich habe als Bürgerin diesen Präsidenten gewählt und Du, Regierung – Kongress, achtest diese meine Wählervotum nicht“.  Dies ist eine andere Situation als vor 40 oder 30 Jahren.

Hat die Dezentralisierung die Situation und die Rechte der Menschen nicht verbessert?

Peru hat bis heute keine klare Politik für den ländlichen Raum. Wie ist es möglich, dass die Erdgas-Pipeline durch Puno verläuft und Puno selbst kein Gas für Heizungen hat? Dass wir im Winter aus Lima weiterhin Decken und Pullover für die frierenden Kinder schicken?  Das hat damit zu tun, dass das Finanzministerium in Lima entscheidet. Und Gas für Heizungen, oder Wasser und Abwasser in abgelegenen Dörfern einzurichten – auf denen zudem wenige Menschen leben -, ist sehr teuer.  In der Logik des Finanzministeriums rechnet sich das nicht. Wir brauchen aber flächendeckende Basisversorgung, auch wenn sie zehnmal teurer ist.  Oder nimm den „Canon“, also die Steuern aus Bergbau oder Erdölförderung, die direkt in die betroffene Region fließen. 90% davon geben die Regionen nicht aus. Klar ist auch Korruption im Spiel, aber da ist noch das Finanzministerium mit seinen Vorgaben. Die Einnahmen aus dem Canon dürfen nicht für laufende Ausgaben verwendet werden.

Es kann doch nicht sein, dass heute noch jeder Dorfbürgermeister dem Finanzministerium in Lima seine Aufwartung machen muss, um Geld zu bekommen. Sicher gibt es auch Unfähigkeit oder Korruption in den Regionen, aber der hinter dem Finanzministerium steckende Zentralismus ist schrecklich.

Und wie steht es um das Parlament, den Kongress?

Im Bericht der Wahrheitskommission forderten wir, dass die Verteilung der Abgeordneten geändert werden soll. Wir haben große Bevölkerungsgruppen in den ländlichen Gebieten, die im Kongress nicht angemessen vertreten sind. Ein Beispiel: aus ganz Ucayali im Amazonasgebiet, hat drei Abgeordnete. Ich bin sicher, dass sich nicht alle Menschen aus Ucayali von ihnen vertreten fühlen. Wir haben zwar einen Vertreter für die Peruaner, die im Ausland leben. Aber die indigenen Gruppen haben keine Vertretung im Parlament. Seit Beginn der Unabhängigkeit von Spanien hat Peru mit strukturellen Problemen zu kämpfen, die bis heute nicht gelöst sind. Es erfüllt mich mit Hoffnung, dass die ländlichen Gemeinden heute politisch aktiv sind. Das Einfordern ihrer Rechte ist wichtig: dass sie ein Recht auf staatliche Investitionen haben, dass der Staat die Versorgung gewährleisten muss. Das ist ein Recht, kein Almosen.

 

Könnte aus dieser neuen Politisierung der ländlichen Gemeinden, die von Lima gewaltsam niedergeschlagen wurde, ein neuer bewaffneter Kampf entstehen?

Das glaube ich nicht. Der bewaffnete Kampf ist die Entscheidung eines politischen Akteurs.  Nur weil du arm und ausgeschlossen bist, greifst du noch nicht zu den Waffen. Und ich sehe bisher keinen politischen Akteur, der zum bewaffneten Kampf aufruft.

Die jüngsten Proteste waren weitestgehend friedlich, auch wenn es hie und da zu Ausschreitungen kam. Ich hoffe, dass wir damit eine neue Seite unserer Geschichte aufschlagen in Peru. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der nächste Präsidentschaftskandidat oder -kandidatin ohne die Stimmen aus dem Süden Perus gewinnen kann. Für mich sind das eher hoffnungsvolle, positive Zeichen.

Das Gespräch führte Hildegard Willer