Unschuldig unter Terrorismusverdacht verhaftete Frauen werden freigelassen ©Nelly Plaza

„Ich habe es Ihnen nie erzählt, aber sie haben mich vergewaltigt.“

Ein Interview mit dem Menschenrechtsspezialisten Ernesto de la Jara über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Peru.

Vor zwanzig Jahren hat die peruanische Wahrheits- und Versöhnungskommission ihren Abschlussbericht präsentiert. Die Kommission spricht dort auch eine Art von Gewalt an, welche lange unausgesprochen blieb: Das Ausmaß sexualisierter Gewalt während des bewaffneten Konflikts der 80er und 90er Jahre. Der Bericht widmet der sexualisierten Gewalt gegen Frauen (1) ein eigenes Unterkapitel und folgte damit u.a. dem Beispiel der Wahrheitskommissionen Guatemalas (2). Aber wie steht es heute um die (strafrechtliche) Aufarbeitung dieser Gewalt?

Die Wahrheitskommission hörte sich die Aussage von MMMB an (3) und widmete ihr einen eigenen Teil des Abschlussberichtes. Laut dem Bericht wurde die damals 19-jährige Studentin Ende Oktober 1992 in Lima von Soldaten in Zivilkleidung entführt und vier Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten (4), während sie gefoltert und wiederholt vergewaltigt wurde, bevor sie sich vor der DIRCOTE (Nationale Direktion gegen Terrorismus) für die ihr vorgeworfenen Taten für schuldig erklärte (5). MMMB verbrachte mehrere Jahre in Haft, bekam dort ein durch eine der Vergewaltigungen gezeugtes Kind, bis sie schließlich unterstützt durch Ernesto de la Jara, Jurist und Gründer des Instituto de Defensa Legal, von der Wahrheitskommission und von einer Begnadigungskommission gehört wurde. In einem Strafprozess wurden Jahre später, im Oktober 2016, schließlich mehrere ehemalige Soldaten für ihre Entführung und Vergewaltigung verurteilt. Das Urteil stellte zugleich die erste Verurteilung von ehemaligen Soldaten wegen Vergewaltigung im Kontext des bewaffneten Konfliktes dar. (6)

Anna Kohte hat mit  Ernesto de la Jara über die Hürden bei der strafrechtlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und den Fall MMMB gesprochen (7).

Menschenrechtsanwalt Ernesto de la Jara, Gründer des Instituto de Defensa Legal ©privat


Wie ist es zu erklären, dass es bisher zu derart wenigen Verurteilungen wegen Vergewaltigungen kam? 

Ich würde sagen, dass die Menschenrechtsverletzungen, die am längsten gebraucht haben, aufgedeckt zu werden, die Vergewaltigungen waren.

Das Thema der Vergewaltigungen blieb lange im Verborgenen, da die Frauen selbst nicht darüber sprachen. Ein Problem war auch, dass diejenigen Frauen[, die hauptsächlich von der Gewalt betroffen waren,] in armen Verhältnissen und entlegen Gegenden lebten und nicht wussten, welche Rechte sie hatten. […] Niemand setzte sich für sie ein.

Später wurde auch bekannt, dass es eine Strategie des Militärs war, zu versuchen diejenigen Frauen zu heiraten, die eine Vergewaltigung anzeigten. Denn bis in die 90er Jahre wurde es nicht als Vergewaltigung gewertet, wenn die Frau den Vergewaltiger heiratete – nicht nur im Kontext des bewaffneten Konfliktes, sondern in jedem Kontext. Also haben viele versucht, diese schreckliche Gesetzgebung zu ihren Gunsten zu nutzen. Aber das Gesetz gibt es heute nicht mehr. [Anm. der Verfasserin: Die Straffreiheit durch spätere Heirat wurde 1997 abgeschafft. (8)]

Gibt es weitere Faktoren, welche die wenigen Fälle strafrechtlicher Verfolgung erklären?

1995 wurden die berühmten Amnestiegesetze während der Zeit von Fujimori erlassen. Diese waren wesentlich schlimmer als die Amnestiegesetze in Zentralamerika oder Argentinien, weil sie nicht einmal die Untersuchung der zugrundeliegenden Tatsachen zuließen. D.h. die Gesetzgebung untersagte nicht nur die Verurteilung sondern auch die Untersuchung der Fälle.

Erst im Jahr 2001 hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Barrios Altos (9) erklärt, dass die Amnestiegesetze unwirksam sind. Die [Unwirksamkeit der Amnestien] gilt für alle Länder der Region. Erst danach wurden rechtliche Schritte möglich. Dann begannen die alltäglichen Probleme: Die Justiz dauert in allen Angelegenheiten furchtbar lange in Peru, umso länger dauert sie in einem Vergewaltigungsfall wie in der Gemeinschaft Manta und Vilca [Anm. der Verfasserin: dieser Fall wird derzeit (immer noch) verhandelt] oder in einem Fall wie dem von MMMB, selbst wenn sie durch Institutionen Unterstützung erhalten.

Zudem verliert die internationale Kooperation an Interesse. Ich habe immer gesagt, was für ein Wahnsinn das ist: in dem Moment, in dem in diesen Fällen ein Fortschritt gemacht werden kann [schwindet das Interesse daran]. Wir in IDL mussten von irgendwoher Geld bekommen, aber es gab keine Unterstützung mehr für strategische Prozessführung in Fällen von Menschenrechtsverletzungen, da wir schon in einer „anderen Epoche“ angelangt waren. Auch jetzt gibt es keinerlei Mittel. Dies schränkt [die Arbeit] sehr ein. Es gibt nur sehr wenige Anwälte und Anwältinnen, welche sich mit diesen Fällen befassen. Sie haben allgemein keine Mittel und niemand denkt sich: „Ich werde mich speziell der strafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigungen widmen“.

Wie kommt es, dass einige Frauen das Schweigen nach so langer Zeit brechen?

Mir passiert es immer noch, dass Personen, die ich seit dem Jahr 2000 sehe und mit welchen ich eine besondere Beziehung habe, weil wir uns während ihres Gefängnisaufenthaltes kennengelernt haben, plötzlich zu mir sagen „Doktor, ich habe es Ihnen nie erzählt, aber sie haben mich vergewaltigt.“

Und wie war es im Fall von MMMB?

MMMB sah ich immer [bei meinen Gefängnisbesuchen]. Sie war immer sehr aktiv und schaute mich nicht einmal an. Eines Tages fragte ich sie: „Und Sie wollen nicht mit einem Anwalt sprechen?“ Und sie sagte „Nein, warum? Ich werde hier [im Gefängnis] bleiben. Ich werde nicht rauskommen.“ Ich fragte sie ab und zu, bis sie eines Tages zustimmte, mit mir zu sprechen. […] Also fing sie an, mir ihre Geschichte zu erzählen. Aber erst beim fünften oder sechsten Mal erzählte sie mir etwas Wesentliches: Dass sie mehrmals vergewaltigt worden war – durch mehrere Soldaten, mehrere Tage lang. Und dass sie eine Tochter hatte, welche durch die Vergewaltigung gezeugt worden war. Von Vergewaltigungen hatte ich schon oft gehört, aber das nicht.

Wie kam es, dass MMMB aus der Haft entlassen wurde?

Es wurde eine Begnadigungskommission aufgrund des internationalen und des nationalen Drucks eingerichtet. [Anm. der Verfasserin: Die Kommission wurde im August 1996 geschaffen, um dem Präsidenten die Begnadigung von Personen vorzuschlagen, welche ohne die erforderlichen Beweise für Terrorismus oder Hochverrat verurteilt worden waren und von denen sich annehmen ließ, dass sie keine Verbindung zu einer terroristischen Organisation oder Taten hatten.]

Ich legte den Fall der Begnadigungskommission vor, die sich aus sehr guten Leuten zusammensetzte: aus dem ersten Ombudsmann, Jorge Santistevan [de Noriega], Pater Hubert Lanssiers und Gino Costa (dem Exekutivsekretär). Es war also perfekt. […] Schlussendlich empfahlen sie den Fall zur Begnadigung und sie wurde [1998] begnadigt. […]

Wie erlebte MMMB die vielen Befragungen?

Ein Beispiel dafür, wie schwierig es dennoch ist, die spezifische Natur von Vergewaltigungsdelikten und dessen Auswirkungen auf die Opfer zu verstehen, ist die Tatsache, dass sogar in Fällen, in welchen die Behörden eine opfersensible Herangehensweise haben, Fehler gemacht werden. Ich erinnere mich an eine Befragung, der MMMB im Rahmen der Ermittlungen in ihrem Fall unterzogen wurde. Überraschenderweise wurde sie nur von Männern befragt, und sie gingen sehr detailliert darauf ein, ob es stimmte, dass sie vor der Vergewaltigung noch Jungfrau war, oder auf Einzelheiten der Tat selbst.

Wie ging es nach der Begnadigung für MMMB weiter?

Sie wollte eine strafrechtliche Verurteilung [gegen die Vergewaltiger] erreichen und gleichzeitig eine finanzielle Widergutmachung, weil sie sehr arm war. Das Urteil wurde erreicht, in welchem eine Gefängnisstrafe für einige, aber nicht für alle [Verantwortlichen] angeordnet wurde. Sie erlangte allerdings keine finanzielle Entschädigung durch den Staat. […]

[Anm. Der Verfasserin: Eine Schwierigkeit neben vielen war, dass MMMB ihre Tochter nicht einem Vaterschaftstest unterziehen wollte – welcher eine eindeutige Bestimmung eines der Vergewaltiger bedeutet hätte – aus Angst, dass dieser dann das alleinige Sorgerecht erstreiten würde.]

MMMB arbeitete [nach ihrer Freilassung] als Lehrerin und war eine hervorragende Lehrerin. […] Aber dann wurde dieses Gesetz [2017] erlassen, dass eine Person, welche wegen Terrorismus inhaftiert worden war, nicht mehr lehren darf. […] Ihre wirtschaftliche Lage wurde dadurch sehr prekär und sie begann Reis anzubauen.

Ist zu erwarten, dass es zu einer weiteren strafrechtlichen Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt gegen Frauen kommen wird?

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass in allen Fällen willkürlicher Festnahmen, mit denen wir befasst waren, die Frauen vergewaltigt worden waren. […]. Es gibt allerdings kein großes juristischen Team mehr. Wir hatten damals ein Team von 15 bis 20 Personen, die Vollzeit und landesweit in 18 Gefängnissen arbeiteten.

Heute gibt es drei Personen, die sich um alle Fälle kümmern. […] Was heute mehr Aufmerksamkeit erhält – was ich nicht für schlecht erachte –  ist die Erinnerungskultur [“memoria”]. Wir bei IDL haben jedoch beschlossen, dass wir uns in erster Linie um die rechtliche Aufarbeitung der Fälle kümmern.

Anna Kohte

Anmerkungen:

(1)  Obwohl es auch Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Männer gab, widmete die Wahrheitskommission das Kapitel explizit Frauen, welche hauptsächlich durch diese Form der Gewalt betroffen waren. Zum Zeitpunkt des Abschlussberichtes waren 527 Frauen und 11 Männer als Vergewaltigungsopfer/-überlebende namentlich registriert. Siehe Wahrheits- und Versöhnungskommission, Abschlussbericht, S. 273 u. 357. Heute geht die Coordinadora Nacional de Derechos Humanos von mind. 6000 Fällen aus.

(2)  Abschlussbericht der “Comisión para el Esclarecimiento Histórico”, 1999, <https://www.centrodememoriahistorica.gov.co/descargas/guatemala-memoria-silencio/guatemala-memoria-del-silencio.pdf>. Zuletzt aufgerufen am 26. August 2023.

(3)Es ist ihr Wunsch, nicht mehr namentlich genannt zu werden.

(4)Wahrheits- und Versöhnungskommission, Abschlussbericht, S. 377ff.

(5)Wahrheits- und Versöhnungskommission, Abschlussbericht, S. 379.

(6) Siehe zu dem Urteil „Condena por violación sexual por parte de agentes del Estado durante el conflicto armado Perú : El caso de MMMB“, 19. Februar 2020, <http://blog.pucp.edu.pe/blog/marcelahuaitaalegre/2020/02/19/condena-por-violacion-sexual-por-parte-de-agentes-del-estado-durante-el-conflicto-armado-peru-el-caso-mmmb/>. Zuletzt aufgerufen am 26. August 2023.

(7)Das Interview wurde am 17. August 2023 aufgenommen. Es handelt sich um einen kleinen Ausschnitt des Interviews, welcher für diesen Beitrag gekürzt und übersetzt wurde.

(8) Die Straffreiheit wurde erst 1991 ausgeweitet (bei Gruppenvergewaltigungen reichte es ab 1991 aus, dass das Opfer einen der Täter heiratete) bevor die Straffreiheit durch Heirat 1997 abgeschafft wurde. Siehe Beatriz Merino Lucero, Matrimonio y violación. El debate del artículo 178 del Código Penal Peruano, Lima, 1997; Calvin Sims, “Justice in Peru: Victim Gets Rapist for a Husband”, New York Times, 12. März 1997, <www.nytimes.com/1997/03/12/world/justice-in-peru-victim-gets-rapist-for-a-husband.html>; Reuters, “Peru’s Congress Repeals Law Protecting Rapists”, New York Times, 5. April 1997, <www.nytimes.com/1997/04/05/world/peru-s-congress-repeals-law-protecting-rapists.html>. Zuletzt aufgerufen am 26. August 2023.

(9)Siehe für eine Zusammenfassung auf Englisch: https://iachr.lls.edu/sites/default/files/iachr/Cases/Barrios_Altos_v_Peru/benson_barrios_altos_v._peru.pdf. Zuletzt aufgerufen am 04. September 2023.