28. August 2003: Salomon Lerner, der Vorsitzende der Wahrheitskommission, übergibt Präsident Alejandro Toledo die 9 Bände des Berichts. ©DiarioElPeruano

20 Jahre Wahrheitskommission: Die Tatenlosigkeit derer, die es verhindern könnten

Der Filmemacher Heeder Soto aus Ayacucho ist selbst Sohn eines Verschwundenen. Er reflektiert hier darüber, was die Wahrheitskommission 20 Jahre danach erreicht hat.

 

Am Morgen des 8. April 2002 hatte sich die Sonne verborgen. Etwa hundert von uns marschierten vom zentralen Platz der Stadt Ayacucho, Peru, in Richtung Universität. Mehrere Mütter von ANFASEP[1] trugen Transparente und Fahnen mit den Namen der Verschwundenen. Sie wurden von mehreren Menschenrechtsaktivisten begleitet. Wir riefen: „Nie wieder Terrorismus, nie wieder staatliche Gewalt!” Auf der Straße schauten uns die Leute an, als wären wir Verrückte. Als wir auf dem Universitätsgelände ankamen, begann sich alles zu ordnen. Die ersten öffentlichen Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Comisión de la Verdad y Reconciliación, CVR) begannen. Die nationalen und internationalen Medien bereiteten sich auf die Übertragung des Ereignisses vor. Von diesem Tag an sollten die Welt und ganz Peru von den Gräueltaten erfahren, die zwischen 1980 und 2000 vom Leuchtenden Pfad[2] und den Agenten des Staates[3] begangen worden waren. Plötzlich waren auf einer Seite der Universität Schreie und Jubelrufe zu hören. Sie kamen von einer Gruppe junger Apristas[4], die in aggressivem Ton riefen: „Lügenkommission!“ Als „Mama Angélica”, die Präsidentin von ANFASEP, den Lärm sah, wollte sie mutig hingehen und sie zur Rede stellen: „Was für ein Unsinn! Habt ihr gar keinen Respekt? Hier sind die Opfer“, sagte sie. Wir mussten sie beruhigen, ebenso wie die jungen APRA-Mitglieder. Einige von ihnen kamen herein, um den Anhörungen zu folgen, andere verließen mit Jubelrufen auf ihre Partei den Saal.

In einem Teil der Anhörung, als ein Opfer seine Zeugenaussage machte, hörte der Übersetzer, der von Quechua ins Spanische übersetzte, plötzlich auf zu sprechen. Diejenigen, die kein Quechua verstanden, konnten nicht verstehen, was die Zeugin sagte. Sie konnten nur sehen, wie sie weinte. Später stellte sich heraus, dass der junge Übersetzer, schockiert von der Aussage, in Tränen ausgebrochen war und nicht mehr zu beruhigen war.

Die Wahrheitskommission begann ihre Arbeit im Jahr 2001 und legte ihren Abschlussbericht am 28. August 2003 vor. Darin wird die wahrscheinliche Zahl der Opfer mit 69.280 Personen angegeben. Nach den jüngsten Aktualisierungen des Zentralen Opferregisters ist die Zahl der Todesopfer mit 144.100 –  davon 28.727 Verschwundene –  noch deutlich höher (RUV, 2022). Salomón Lerner, der damalige Präsident der Wahrheitskommssion, stellte den Bericht mit folgenden Worten vor: „Der Bericht, den wir Ihnen vorlegen, enthüllt somit einen doppelten Skandal: den des Mordes, des Verschwindenlassens und der Folter in großem Ausmaß und den der Tatenlosigkeit, der Unfähigkeit und der Gleichgültigkeit derjenigen, die diese humanitäre Katastrophe hätten verhindern können und es nicht getan haben.“[5]

Diese Worte hallten noch im Bewusstsein einiger Peruaner*innen nach: der Familien der Opfer, die sich in den Worten wiederfanden, und anderer, die sich durch diese Aussage angegriffen sahen: die Streitkräfte, die Terroristen, die in die Verbrechen verwickelten Politiker und sogar einige Unternehmergruppen, die eher die Militärs als die Opfer verteidigten, wie der Unternehmerverband CONFIEP: “CONFIEP hält es für nicht hinnehmbar, dass ideologische Voreingenommenheit, politischer Opportunismus oder irgendwelche Absichten oder Interessen zu einer Verfälschung der historischen Wahrheit, zu einer offiziellen Geschichte oder einem erfundenen Mythos führen, den zukünftige Generationen als Geschichte akzeptieren, obwohl er in Wirklichkeit weder Geschichte noch Wahrheit ist”. (Arce, 2011, S. 28).[6]

Zwanzig Jahre nach der Vorlage des Abschlussberichts bleiben Fragen: Welche Fortschritte wurden gemacht, was wurde gelernt, was bleibt zu tun? Am selben Tag, an dem der Bericht der Wahrheitskommission vorgelegt wurde, starb “Mamá Angélica”[7] im Jahr 2017, ohne dass ihr verschwundener Sohn Arquímedes Ascarza gefunden wurde. Ich erinnere mich noch, wie sie das Foto ihres Sohnes mit sich trug und mit unglaublicher Kraft und Furchtlosigkeit die Verletzung der Menschenrechte anklagte.

Die Wahrheitskommission untersuchte 73 Fälle von Menschenrechtsverletzungen, die von den Streitkräften und Terroristen begangen wurden. Davon wurden nur 53 Fälle strafrechtlich verfolgt:

„22 dieser Fälle führten zu Verurteilungen. Acht weitere endeten mit Freisprüchen für die angeklagten Polizei- und Militärangehörigen […]”.

„Solche Fälle kommen normalerweise nur langsam voran. Das hat mit den Schwierigkeiten der Ermittlungen zu tun und in vielen Fällen mit der mangelnden Kooperation der Streitkräfte, insbesondere der Armee, und vor allem des Verteidigungsministeriums, die die von der Staatsanwaltschaft und der Justiz angeforderten Informationen nicht zur Verfügung stellen (…) Es hat auch mit den knappen Ressourcen der Staatsanwaltschaft zu tun.” (OjoPúblico)[8]

Bei dem Tempo, mit dem die Justiz vorgeht, werden Menschen wie ich, Kinder von Verschwundenen, niemals Gerechtigkeit erfahren. „Meine Mutter sagte, dass mein Vater mich zum Zeitpunkt der Entführung schlafend in seinen Armen hielt. Ich war drei und er war 29 Jahre alt. Sie brachten ihn in ein Haus, das früher ein “Gemeindehaus” war, schalteten ein Tonbandgerät mit hoher Lautstärke ein und folterten ihn. Meine Mutter sagte, dass man trotz der hohen Lautstärke Schreie hören konnte” (H. Soto 2022)[9]. Von diesem Moment an ist mein Vater nur noch eine Nummer, nur noch ein Verschwundener. Er wurde von der Marine entführt und beschuldigt, ein Anhänger des Leuchtenden Pfades zu sein, ohne Beweise.

Diese Art, Opfer zu schaffen, hat sich nicht geändert. Im Dezember letzten Jahres starben 49 Menschen durch die Hände der Streitkräfte, die auf Demonstrierende schossen. Danach wurden die Toten als “Terroristen” bezeichnet[10], ohne dass es dafür Beweise gab. Die derzeitige Präsidentin, Dina Boluarte, setzte diesen Diskurs fort. Sie behauptete außerdem, dass die Toten auf ausländische Interventionen[11] zurückzuführen seien.

Peru hat heute ein gut funktionierendes Justizsystem. Deshalb sitzen mehrere ehemalige Präsidenten im Gefängnis, die wegen Menschenrechtsverbrechen und Korruption angeklagt sind. Aber es hat auch ein von Korruption durchsetztes System. Seine Institutionen, etwa die Streitkräfte, marschieren stolz vor der Nationalflagge, töten aber ohne Skrupel Bürger*innen. Es ist offensichtlich: 20 Jahre nach dem Abschlussbericht der Wahrheitskommission wurden kaum Fortschritte erzielt und es bleibt noch viel zu tun. Noch heute kann man die Worte von Salomón Lerner hören: Es sterben weiterhin Menschen wegen der Trägheit derjenigen, die es verhindern könnten und es nicht tun.

Heeder Soto

Übersetzung: Annette Brox

[1] ANFASEP: Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecidos del Perú, Nationale Vereinigung der Angehörigen von Entführten, Verhafteten und Verschwundenen in Peru.

[2] Die selbsternannte kommunistische Partei “Leuchtender Pfad” in Peru. Die Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru führte zwar keine bewaffneten Aktionen in Ayacucho durch, wohl aber im zentralen Regenwald.

[3] Die Agenten des Staates waren: Polizei, Armee und Marine.

[4] Sie gehörten der rechtsgerichteten politischen Gruppierung APRA an. Diese Gruppe erkennt bis heute den Wahrheitsgehalt des Abschlussberichts der Wahrheitskommission nicht an, da er sie für mehrere Menschenrechtsverletzungen während ihrer Regierungszeit verantwortlich macht. Ähnlich verhält es sich mit anderen Parteien wie der Acción Popular, dem Fujimorismo und anderen…

[5] Rede anlässlich der Vorstellung des Abschlussberichts der Wahrheitskommission: https://www.cverdad.org.pe/ifinal/discurso01.php

[6] Arce, G. A. (2011). La herencia del pasado. Fuerzas Armadas, Derechos Humanos y seguridad interior en el Perú contemporáneo [PUCP]. https://tesis.pucp.edu.pe/repositorio/bitstream/handle/20.500.12404/1317/TESIS La herencia del pasado.pdf?sequence=1&isAllowed=y

[7] Angélica Mendoza, die als Symbol für den Kampf um die Menschenrechte gilt. Nominiert für den Friedenspreis 2005.

[8] Siehe Artikel: https://ojo-publico.com/derechos-humanos/el-legado-la-comision-la-verdad-se-abre-paso-la-judicial

[9] Soto, H. (2022g). Vientos & memorias [Dokumentarfilm]. Saywa Films.

[10] “Regierungsvertreter äußerten sich wiederholt beleidigend über die Demonstranten und verunglimpften sie, indem sie ihnen unterstellten, sie seien “Terroristen“  https://www.hrw.org/es/report/2023/04/26/deterioro-letal/abusos-por-las-fuerzas-de-seguridad-y-crisis-democratica-en-el#_ftn57

[11] “Wir wissen inoffiziell, dass diese tödlichen Geschosse, genannt ‘dum dum’, die von den Ponchos Rojos mitgebracht wurden, über die peruanisch-bolivianische Grenze gelangt sind”, erklärte sie, ohne Beweise vorzulegen. https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-64421389