Gewalt gegen Frauen ist leider ein weltweites Thema – also auch eines für Peru und Deutschland. Welche Erfolge und Rückschläge gibt es im Kampf gegen die Gewalt? Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zwischen Deutschland und Peru? Darüber tauschten sich bei einer Online-Veranstaltung der Infostelle Peru die peruanische Anthropologin und Feministin Dr. Angélica Motta, Dozentin an der National Universität San Marcos in Lima, und Johanna Wiest, Referentin für Häusliche und Sexualisierte Gewalt bei der deutschen Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES e.V., aus.
In Lateinamerika war die Bewegung „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“) 2016 ein wichtiger Meilenstein für die feministische Bewegung. In Peru organisierten sich für die Demonstration so viele Frauen wie noch nie. Neu war vor allem, dass die Frauen nicht nur aus den gutbürgerlichen, sondern aus verschiedenen sozialen Schichten und aus allen Distrikten der Stadt Lima kamen, und dass sich zum ersten Mal auch viele junge Frauen organisierten. Die Demonstration war wie „ein kleines Erdbeben für Peru“, berichtet Dr. Angélica Motto. Der hohe Mobilisierungsgrad hat das Thema der Gewalt gegen Frauen sehr viel sichtbarer gemacht. Ab jetzt wurden in den Medien Femizide auch als solche benannt. Den Straftatbestand gab es zwar schon seit 2011, vor 2016 wurde aber nie darüber gesprochen. Die Bewegung Ni una menos hatte vor allem große Wirkung bei jungen Frauen und Studentinnen, die sich gegen Gewalt und Diskriminierung wehrten.
Die Pandemie hat die stark gewachsene Bewegung dann sehr gelähmt. Und gleichzeitig wuchs eine starke Gegenbewegung ultrakonservativer Kräfte. Unter dem Motto „Con mis hijos no te metas“ („Finger weg von meinen Kindern“) kämpften sie gegen die Aufnahme von Gender und Geschlechtergleichheit in den Lehrplan peruanischer Schulen. Diese Kräfte haben unter dem autoritären Regime von Dina Boluarte noch mehr Gewicht bekommen, so Dr. Angélica Motta. Bei den Themen Frauenrechte und sexuelle Selbstbestimmung gab es Rückschritte, und es wird befürchtet, dass die „therapeutische Abtreibung“ (Abtreibung aus medizinischen Gründen) – in Peru die einzig gesetzlich zugelassene Indikation für eine Abtreibung – in Frage gestellt wird.
Nicht nur physische und psychische, auch strukturelle Gewalt gegen Frauen hat sich durch die Pandemie verschlimmert: die starke Belastung von Frauen durch unbezahlte Care-Arbeit hat noch zugenommen. Die Organisation der vielen Gemeinschaftsküchen (Ollas comunes) geschah ausschließlich durch Frauen, um nur ein Beispiel zu nennen. Eine Gesetzesinitiative zur Entlastung der Frauen und für mehr staatliche Verantwortungsübernahme im Betreuungssystem wurde auf Eis gelegt.
Johanna Wiest sieht einige Parallelen zwischen Peru und Deutschland: In Deutschland hat es viele Fortschritte gegeben, aber auch hier gibt es eine starke konservative Gegenbewegung, die den Feminismus als Bedrohung wahrnimmt. Und viele Erfolge auf politischer Ebene zeigen in der Umsetzung noch zu wenig Wirkung. So hat das Gewaltschutzgesetz die Partnerschaftsgewalt als gesamtgesellschaftliche Thematik zwar anerkannt. Doch das darin festgelegte Kontakt- und Näherungsverbot wird in der Praxis sehr oft nicht eingehalten. Trotz eines ausgesprochenen Verbots kommt es häufig zu Femiziden. Deshalb fordert TERRE DES FEMMES die Einführung einer elektronischen Fußfessel, was in Spanien zu sichtbaren Erfolgen geführt hat. 2018 hat Deutschland die Istanbul-Konvention ratifiziert (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt). Die Umsetzung sei jedoch mangelhaft, kritisiert Johanna Wiest. So fehlten in Deutschland 14.000 Frauenhausplätze. Ein großer Erfolg war die Einführung der „Nein heißt Nein“-Regelung 2016. Mit ihr hat sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung des Straftatbestands geändert: Auch wenn eine Frau „nur“ mündlich abgewehrt hat, ist ein sexueller Übergriff als solcher zu verfolgen.
Unbezahlte Care-Arbeit ist auch in Deutschland ein wichtiges Thema. Frauen haben durchschnittlich eine um 60% geringere Rente als Männer, nicht nur weil sie weniger verdienen, sondern auch weil sie deutlich mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten.
Wie gravierend die Gewalt gegen Frauen auch in Deutschland ist, zeigen die Statistiken: Zwischen 2018 und 2022 nahmen die Vergewaltigungen von 9.234 auf 11.896 zu. Die Aufklärungsquote scheint mit 85 % hoch, enthält allerdings auch alle eingestellten Verfahren, bei denen es nie zu einem Urteil kam. Tatsächlich kommt es nur bei einer von 100 Vergewaltigungen zu einer Verurteilung des Täters. Auch die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt hat zugenommen und lag 2022 bei deutlich über 120.000. Jede vierte Frau erlebt in ihrem Leben häusliche Gewalt. Ein wichtiges Thema ist auch die Nachtrennungsgewalt. In 90% der Trennungen aufgrund von Gewalt geht die Gewalt nach der Trennung weiter. Die Zahl der Femizide war 2022 in Peru (132) und Deutschland (133) nahezu gleich – bei einer deutlich höheren Bevölkerungszahl in Deutschland. In Peru kam es nur in 23 Prozent der registrierten Femizide zu einer Verurteilung des Täters. Der Staat wird so zum Komplizen der Gewalttäter, indem er weitgehend Straffreiheit gewährt, kritisiert Dr. Angélica Motta. Daran hat die starke patriarchale Struktur in Peru einen wesentlichen Anteil, ist sie überzeugt. Seit der Kolonisierung wirkt diese als historische Macht. Auch wenn in den prähispanischen Gesellschaften Männer in der Regel mehr Macht hatten, war die Rolle der Frauen deutlich weniger marginal. Der ausgeprägte Sexismus und Rassismus sind ein Produkt der Kolonisierung. Gegenüber diesen historisch seit Jahrhunderten wirksamen Strukturen entfaltet die Gesetzgebung nur eine schwache Wirkung. Darum spielt Bildung eine so fundamentale Rolle für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Und deshalb wehren sich die ultrakonservativen Kräfte so vehement gegen eine geschlechtersensible Erziehung.
Auch das Internet und soziale Medien wie Tiktok spielen in der Festschreibung von Geschlechterstereotypen eine große Rolle, ergänzt Johanna Wiest. Dagegen würde in deutschen Schulen viel zu wenig sexuelle Aufklärung und Medienkompetenz vermittelt.
Besonders sind in Peru indigene Frauen von Benachteiligungen betroffen – in der Bildung, beim Einkommen, bei den Arbeitsbedingungen. Zuletzt gab es leichte Verbesserungen, was die Bildungschancen indigener Frauen angeht. Dies hat auch zu tun mit der starken politischen Beteiligung indigener Frauen, meint Dr. Angélica Motta. Der starke Protagonismus bei den politischen Protesten Anfang 2023 hat indigene Frauen viel sichtbarer gemacht und zu einer starken Solidarisierung und gegenseitigen Unterstützung geführt.
Und was hat die feministische Bewegung aus ihren Erfahrungen gelernt, wovon andere soziale Bewegungen profitieren könnten?
In Peru hat die Bewegung Ni una menos den Feminismus für viele Frauen geöffnet, die sich vorher nicht angesprochen fühlten – junge Frauen, Frauen aus allen Stadtbezirken und sozialen Milieus. Diese Bereicherung hat auch zu erheblichen Konflikten geführt, die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich in der feministischen Bewegung wieder. So warfen die neu hinzugekommenen den Feministinnen der Mittelschicht vor, die Bewegung zu „kapern“. Die historisch gewachsene gesellschaftliche Fragmentierung setzt sich in der feministischen Bewegung fort, wie in anderen sozialen Bewegungen auch.
Dies kann Johanna Wiest auch für die feministische Bewegung in Deutschland bestätigen. Gesellschaftliche Strukturen und Diskriminierung sind auch hier präsent. So wird über feministischen Kolonialismus debattiert, die Stimmen nichtweißer Frauen werden zu wenig gehört, unterschiedlichen Vorstellungen und Lebensentwürfen wird zu oft mit Arroganz begegnet.
Deshalb sind Austausch und gegenseitige Unterstützung so wichtig, war die Schlussfolgerung des intensiven zweistündigen Gesprächs. Auch die Teilnehmer*innen hatten hier einige Anregungen: Mut machen, hinsehen, Netzwerken, Feminismus dekolonisieren, Erfahrungen teilen, aus dem akademischen Zirkel ausbrechen – waren einige Schlagworte beim abschließenden Brainstorming.