© Hildegard Willer

Flüchtlingskrise: Was Deutschland von Peru lernen kann

Wenn man als „Gringo“ mit Peruanern spricht, erscheint Deutschland oft als „gelobtes Land“, als unantastbares Vorbild, das man in Peru kopieren müsse. Im Umgang mit humanitären Krisen aber könnte Deutschland sich eine Scheibe von Peru abschneiden.

Fast 11.000 Kilometer Luftlinie trennen Deutschland und Peru, eine komplett verschiedene Geschichte, eine – wie wir sehen werden – andere Kultur und Sprache. Und doch gibt es seit jüngster Zeit eine Gemeinsamkeit, welche die beiden Länder verbindet: beide sind das Hauptziel einer gewaltigen Migrationsbewegung auf ihrem jeweiligen Kontinent.

500.000 Flüchtlinge – und Peru bleibt entspannt

Rund 500.000 Venezolaner hat Peru bisher aufgenommen. Sie fliehen vor einem verbrecherischen kommunistischen Regime, das keinen Ausweg aus der nicht enden wollenden Wirtschaftskrise findet und bestrebt ist, jegliche seiner Kritiker mundtot zu machen.
500.000 Venezolaner, das sind rund 1,6 Prozent der peruanischen Bevölkerung. Deutschland nahm 2015, je nach Zählung, zwischen 750.000 und einer Million Flüchtlinge auf. Das sind jedoch maximal 1,2 Prozent der Bevölkerung. Das wirtschaftlich deutlich schwächere Peru nahm also verhältnismäßig mehr Flüchtlinge auf als der „starke Mann“ Europas.

Trotzdem bleibt Peru relativ ruhig. Natürlich gibt es Venezolaner, die unter rassistischen Anfeindungen leiden. Natürlich wurden die sozialen Netzwerke überschwemmt mit Falschnachrichten und erfundenen Geschichten über venezolanische Gewaltverbrecher, oftmals unterstützt durch sensationsgierige Nachrichtenportale. Und natürlich sind die Behörden Perus mit der Registrierung der zahlreichen Migranten völlig überfordert.

Und doch: die peruanische Regierung bleibt handlungsfähig. Handlungsfähig in dem Sinne, dass sie nicht seit drei Jahren darüber diskutiert, ob eine Entscheidung in einer Notsituation, die nun nicht mehr rückgängig zu machen ist, nun richtig war oder falsch. Handlungsfähig in dem Sinne, dass sie nicht ständig mit sich selbst beschäftigt ist, sondern mit innenpolitischen Sachthemen: die Regierung von Präsident Vizcarra hat den Kampf gegen die Korruption aufgenommen, ein ambitioniertes Verfassungsreferendum für den 9. Dezember durchgesetzt – und ist mit dieser Strategie so beliebt wie nie zuvor.
Es gibt keine „Patriotischen Peruaner gegen die Venezolanisierung des Tawantinsuyu“, wie man das vielleicht nennen könnte, die jede Woche auf den Straßen Limas gegen venezolanische Flüchtlinge Stimmung machen würden, und keine Alternative für Peru, welche mit einer ausländerfeindlichen Rhetorik die Parlamente erobern würde. Im Gegenteil, der Rechtsaußen-Kandidat Ricardo Belmont erhielt bei den Bürgermeisterwahlen in Lima nur 3,89 Prozent.
Die venezolanische Flüchtlingskrise? Ist in Peru nur eine Randnotiz.

Das Recht auf Arbeit

Woran liegt das? Warum kommt das „kleine“ Peru mit der venezolanischen Flüchtlingskrise augenscheinlich besser klar als das „große“ Deutschland mit der afrikanisch-syrischen?

Zum einen liegt das an den Fakten.
Ein Venezolaner bekommt in Peru viel leichter eine Arbeitserlaubnis als ein Syrer in Deutschland. Helferorganisationen wie der bayerische Flüchtlingsrat klagen seit Jahren, dass Gesetze wie die 2+3-Regelung, die einem Flüchtling mit Ausbildungsvertrag insgesamt fünf Jahre Bleiberecht gewährt, nicht umgesetzt werden. Je nach Bundesland gleicht der Zugang zu einer Arbeitserlaubnis einem Spießrutenlauf oder einem Lottospiel.
Anders in Peru. Wer hier Asyl beantragt, bekommt bereits mit der Antragsstellung seine Arbeitserlaubnis. Noch dazu hat die Regierung den Ernst der Lage erkannt und eine „permiso temporal de permanencia“ (PTP) eingeführt, eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis, exklusiv für Venezolaner. Zugang zu ihr hat jeder, der bis zum 31. Oktober legal eingereist ist; ob das Programm verlängert werden wird, ist noch nicht bekannt.
Dass die „PTP“ zu beantragen ewig dauern kann und viele Migranten sich daher für das Asylrecht entscheiden, ohne ein wirkliches Recht auf Asyl zu haben? Geschenkt.

Geplante Planlosigkeit

Zum anderen liegt das aber auch, wir hatten es bereits angedeutet, an der Kultur. Sicher, der kulturelle Unterschied zwischen den spanischsprechenden Venezolanern und den spanischsprechenden Peruanern mag kleiner sein als der zwischen einem Deutschen und einem Syrer. Doch das ist nicht alles.

Deutschland ist weltweit bekannt dafür, eine Kultur der „hohen Unsicherheitsvermeidung“ zu pflegen. Deutsche sind pünktlich und kommen nie zu spät; es gibt Vorschriften und Regeln bis hin zum Krümmungsgrad von Gurken (eine Regel, die deutsche Transport-Lobbyisten europaweit durchgesetzt hatten); sie planen alles, sogar ihren Urlaub; und wenn ein ursprünglich gefasster Plan scheitert, dann ist die Hölle los.
Ganz anders Peru, ein Land, das sich durch eine „niedrige Unsicherheitsvermeidung“ auszeichnet. Von „hora alemana“ spricht der Peruaner, wenn ein Treffen pünktlich stattfinden soll. Von „hora peruana“ spricht er, wenn doch wieder alle zu spät kommen. Mündliche Absprachen dienen dazu, eine Beziehung zu etablieren, sind aber nicht unbedingt als verbindlich zu betrachten. Und im Alltag regiert die „Feuerwehr-Mentalität“: anstatt planvoll zu kalkulieren, welche Aufgabe die wichtigste und dringendste ist, hechtet der Peruaner von einem Problem zum nächsten, je nachdem, wo es eben gerade „brennt“.

Peru ist auf die Flüchtlingskrise besser vorbereitet als Deutschland

Das sind Vorurteile, ohne Zweifel, aber sie haben einen wahren Kern. Und dieser Kern wird im Umgang mit den Flüchtlingen zum Trumpf. „Deutsche Gründlichkeit ist super, aber jetzt wird deutsche Flexibilität gebraucht“, sagte Angela Merkel Anfang 2016, ein Satz, den heute schon keiner mehr zu zitieren wagt. Die Peruaner wissen, was Flexibilität bedeutet. Sie sind auf ihre Flüchtlingskrise besser vorbereitet als die stets verplanten Deutschen, denn sie sind mit ihrer Mentalität in der Lage, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren. Merkel hatte ihrem Land im Wahlkampf 2013 versprochen, dass es mit ihr keine großen Überraschungen geben werde. Zwei Jahre danach kam dann die große Überraschung, doch die Deutschen mögen keine Überraschungen. Diese Krise wäre zu meistern gewesen, wenn Merkel einen strukturierten Plan vorgelegt hätte und sich mit allen Akteuren der Gesellschaft zu einem runden Tisch zusammengesetzt hätte. Aber diesen Plan gab es nicht, und wenn es keinen Plan gibt, ist wie gesagt die Hölle los in Deutschland. (siehe dazu auch https://asyl.dillingen.de/index.php/aktuelles/396-wir-koennten-das-schaffen)

In Peru gab es noch nie einen Plan. Die Idee, dass sich die Zukunft vorausplanen ließe, ist den Peruanern fremd: „vamos a ver“, wir schauen, was kommt. Und reagieren dann spontan auf die Herausforderungen, die sich uns stellen.
In Peru gab es auch keinen starken Staat, der versagen könnte angesichts einer nicht zu bewältigenden Krise. Durchwurschteln ist Staatsräson, und so wurschteln sich die Venezolaner eben durch auf einem schwarzen Arbeitsmarkt, der schon vorher bestand, und in einem System, das schon vorher auch mal „fünfe gerade sein“ ließ.

Was kann Deutschland also von Peru lernen? Dass es angesichts einer Krise nichts nützt, sich endlos darüber zu streiten, ob diese oder jene Entscheidung richtig oder falsch war. Dass man die Krise anpacken muss, mit Optimismus und dem Wissen, dass das Leben eben nicht planbar ist. Und dass man sich nicht wegducken sollte wie Angela Merkel angesichts der Rechtspopulisten, die immer nur dagegen sind, ohne selbst eigene Vorschläge zu machen, sondern als Präsident mit mutigen Reformen vorangeht wie Martín Vizcarra. Mit Reformen, die das Land tatsächlich braucht.

 

Jan Doria
(Jan Doria studiert in Tübingen Medienwissenschaft und Spanisch und verbringt ein Auslandssemester an der Katholischen Universität Perus).

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