Einst waren die indigenen Gemeinschaften im Anden-Hochland stolz, die einzigen Produzenten von Vikunja-Wolle zu sein. Wirtschaftliches Einkommen und spirituelle Bedeutung gingen dabei Hand in Hand. Inzwischen übernehmen jedoch internationale Luxus-Marken wie Loro Piana diesen Markt.
Im März 2024 veröffentlichte Bloomberg News einen investigativen Bericht des Journalisten Marcelo Rochabrún. Er berichtet über die Situation der Hochlandgemeinde Lucanas (Ayacucho) und deren Umgang mit Loro Piana, einem der Luxus-Bekleidungsunternehmen, das zu Louis Vuitton gehört.
Ein Vikunja-Pullover von Loro Piana kann bis zu 9.000 US-Dollar kosten, während der Distrikt Lucanas zu den ärmsten in Peru gehört: Gemäß der jüngsten Armutsstudie des peruanischen Statistikamts gelten 41 Prozent der Bevölkerung des Distrikts als arm, was bedeutet, dass die Menschen mit weniger als 91 US-Dollar pro Monat auskommen müssen.
In den letzten Jahren hat sich eine paradoxe Situation entwickelt: Die Gemeindemitglieder arbeiten unentgeltlich, um eine der wertvollsten Wollfasern der Natur zu ernten – die Wolle der Vikunjas, der kleinsten der vier südamerikanischen Kamele der Anden. Aber warum tun sie dies und wie hat alles angefangen? Bisher wurden keine angemessenen sozioökonomischen Studien durchgeführt, um die Ursachen zu ermitteln.
Von einer bedrohten Art zum wertvollsten Luxus-Wolllieferanten
1969 galten die Vikunjas fast ausgestorben. In diesem Jahr unterzeichneten die Länder, in denen es noch Vorkommen gab, ein internationales Abkommen zu ihrem Schutz, welches die Jagd und jegliche kommerzielle Nutzung verbot. Der Vertrag enthielt jedoch auch eine Sonderklausel für indigene Gemeinschaften, die es erlaubte, ihre Herden unter bestimmten Bedingungen für wirtschaftliche Zwecke zu nutzen. Die Gemeinschaften dürfen die Wolle also auf ihren eigenen Territorien scheren und verkaufen.
Im Jahr 1994 war Lucanas die erste Gemeinde, die diese Klausel nach dem bewaffneten Konflikt – der die Region noch ärmer und entvölkerter machte – anwandte, um wirtschaftliche Aktivitäten durchführen zu können. Man ging davon aus, dass die Vikunjazucht und das Scheren der Wolle ein Einkommen schaffen könnte, mit dem sich die Gemeinden aus der reinen Subsistenzwirtschaft lösen würden. Außerdem sah man darin eine Möglichkeit, die anhaltende Abwanderung der Jugend in die Städte zu stoppen.
Doch Lucanas wurde zum Opfer ihres eigenen Erfolgs. Externe Interessenten, darunter peruanische Zwischenhändler und Luxuskonzerne wie Loro Piana, sahen in der Situation eine Chance, Vikunja-Produkte in ihre internationalen Lieferketten für Luxusgüter zu integrieren.
Zunächst wurden zwischen Loro Piana und den Gemeinden – den Comunidades Campesinas – Vereinbarungen getroffen, wonach letztere dem Unternehmen jedes Jahr mehrere Kilo Wolle zu einem vorher festgelegten Preis lieferten. Diese Vereinbarungen wurden jedoch später zu einem der Hauptstreitpunkte in den Geschäftsbeziehungen zwischen den Landwirten und dem Unternehmen. Da die Gemeinden über keine angemessene rechtliche, geschäftliche und finanzielle Beratung verfügten, konnten sie keine Preise aushandeln, die die Kosten für ihre Arbeit und die erforderliche Ausrüstung deckte. Die Führer legten in den meisten Fällen fest, dass die Zahlungen als „Gemeinschaftseinkommen“ betrachtet wurden und somit Teil des kollektiven Vermögens der Gemeinde zählten. Wenn es überhaupt eine Bezahlung für die geleistete Arbeit gab, ging das Geld an die Gemeindeleiter. Die Landwirte, die die tägliche harte Arbeit des Hütens und Scherens verrichteten, arbeiteten unentgeltlich im Rahmen ihrer freiwilligen Stunden für die Gemeinschaftsarbeit. Das System begünstigte somit von Anfang an die Käufer der Wolle, welche sie die Preise vorgaben.
Im September 2000 wurde die Situation weiter verschärft, als mitten im Sturz der Regierung von Alberto Fujimori ein neues Gesetz verabschiedet wurde, das internationalen Konzernen bei der Viehzucht und der Gewinnung von Vikunja-Fasern die gleichen Rechte wie den indigenen Gemeinschaften einräumte. Von da an standen die Comunidades Campesinas mit ihrer Vikunja-Zucht in direkter Konkurrenz zu internationalen Konzernen, und eine wirtschaftliche Abwärtsspirale begann.
Alfonso Martínez, der damalige Leiter der peruanischen Behörde, die für die Regulierung des Vikunja-Handels zuständig ist, hatte sich für die Gesetzesänderung ein. Nachdem er seinen Staatsdienst aufgegeben hatte, gründete er seine eigene Maklerfirma, die Unternehmen wie Loro Piana beriet. 2007 wurde er sogar Geschäftsführer von Loro Piana in Peru. In dieser Position festigte Martínez die Firmenstrategie der Landnahme, unter anderem auch in der Nachbarschaft von Lucanas. Die Grundstücke von Loro Piana sind eingezäunt, so dass die Tiere dort nicht frei grasen können, wie dies in den indigenen Gemeinschaften üblich ist. Diese Praxis ist im Hinblick auf den Artenschutz umstritten, da sie zu genetischen Problemen im Tierbestand und zum Verlust der Artenvielfalt führen kann. Dies erkennt inzwischen auch Loro Piana an.
Produktion und Preise sinken
Loro Piana erhielt 2010 die Genehmigung, mit der Vikunja-Schur zu beginnen. Das Unternehmen begann mit einer kleinen Herde und erhielt dafür sogar Tiere von der peruanischen Regierung. Damit war es das erste private Unternehmen im Land, das Vikunjas scheren durfte. So wurde das bisherige Monopol der Vikunja-Zucht und Schur effektiv gebrochen und entsprechend auch die Anerkennung der vorherrschenden traditionellen Rolle der Comunidades Campesinas beim Artenschutz.
Die Situation führte zu einem allmählichen Preisrückgang. Von 330 US-Dollar pro Kilo Wollfasern im Jahr 2022 fiel der Preise auf 280 US-Dollar im Jahr 2023. Parallel dazu sinkt die Faserproduktion in Lucanas weiter. Die COVID-19-Pandemie verschärfte die Situation zusätzlich, da die Gemeinde zwei Jahre lang weder produzieren noch vermarkten konnte.
Gleichzeitig wird der angestammte und spirituelle Wert der Beziehung zwischen indigenen Gemeinschaften und den Vikunjas durch die Monetarisierung der Hirten- und Schafschuraktivitäten ausgehöhlt. In der Vergangenheit erhielten Mitglieder der Gemeinschaft keine individuelle Bezahlung, auch aufgrund von Traditionen, in denen individuelle Arbeit für Gemeinschaftsaktivitäten als Teil des gemeinsamen Gruppeneinkommens angesehen wurde.
Da es keine staatliche Politik gibt, die indigene Gemeinschaften bei der Entwicklung ihrer Lebensgrundlagen durch Zugang zu Wissen, Ressourcen und Infrastruktur unterstützt, verlieren die Menschen weiterhin die Hoffnung auf eine Tätigkeit, auf die sie einst stolz waren. Herden in Halbgefangenschaft und Landraub durch internationale Luxuskonzerne verschärfen die Situation. Kein Wunder, dass die Produktion weiter sinkt, da es keine Motivation gibt, so weiterzumachen wie in der Vergangenheit. Die Lucanas sind inzwischen keine Hüter der alten Traditionen mehr.
Quellen:
https://www.bloomberg.com/features/2024-lvmh-loro-piana-Vikunja/
https://www.bloomberg.com/news/videos/2024-03-13/inside-peru-s-secret-luxury-supply-chain-video
https://tesis.pucp.edu.pe/repositorio/handle/20.500.12404/5999
Internationales Jahr der Kameliden
Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2024 zum Internationalen Jahr der Kameliden erklärt (siehe Artikel im InfoPeru). Unter anderem soll deutlich gemacht werden, wie wichtig Kameliden für den Lebensunterhalt von Millionen von Haushalten in über 90 Ländern sind, insbesondere für indigene Völker und lokale Gemeinschaften. Von Alpakas bis hin zu Trampeltieren, Dromedaren, Guanakos, Lamas und Vikunjas tragen Kameliden zu Ernährungssicherheit, Ernährung und Wirtschaftswachstum bei und haben eine große kulturelle und soziale Bedeutung für Gemeinschaften in aller Welt. Die
Kameliden spielen eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) in Bezug auf die Bekämpfung des Hungers, die Beseitigung der extremen Armut, die Stärkung der Rolle der Frau und die nachhaltige Nutzung von Landökosystemen. Von der Bereitstellung von Milch, Fleisch und Fasern für Gemeinschaften über den Transport von Produkten und Menschen bis hin zu organischem Dünger – Kameliden gedeihen dort, wo andere Nutztierarten nicht überleben können.
Quelle: Welternährungsorganisation (FAO)