© Kerstin Kastenholz

Zum Tod von „Mama“ Angélica Mendoza

Im Alter von 88 Jahren starb Ende August in Ayacucho Angélica Mendoza, die “Mutter” der Verschwundenen des peruanischen Bürgerkrieges. Kerstin Kastenholz hat sie persönlich kennengelernt.

1999 auf der Plaza von Ayacucho sah ich die Mamas* von ANFASEP, angeführt von Mama Angélica, das erste Mal. Sie hielten Plakate mit  Fotos von ihren verschwundenen Männern und Söhnen hoch und riefen: „Lebend habt Ihr sie uns genommen, lebend möchten wir sie wieder“. Damals wusste ich noch nicht, dass diese Frauen mich die nächsten 18 Jahre eng begleiten würden. Jetzt habe ich einen Sohn, dessen Opa in den 80er Jahren im peruanischen Bürgerkrieg verschwunden ist.

Mama Angélíca gründete 1983 die Opferorganisation ANSASEP (Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados y Desaparecidos del Perú), die hauptsächlich aus indigenen Frauen besteht, die in den 80er Jahren vom Land in die Stadt Ayacucho geflohen sind und ihre Familienangehörigen verloren hatten. Mama Angélica war Gründerin von ANFASEP und bis 2007 Präsidentin der Organisation. Zwischen 2007 und 2017 hielten verschiedene Frauen das Präsidentschaftsamt, momentan ist es Mama Juana, eine 58-jährige Künstlerin, die ihren Bruder im Krieg verlor.

Mama Angélica hat sich in den 80er Jahren, als der Bürgerkrieg besonders heftig tobte,  auf die Plaza gestellt und die Militärs öffentlich dazu aufgefordert, ihr ihren Sohn zurückzugeben. Wenn nicht irgendetwas an der Waffe ihres Gegenübers nicht funktioniert hätte, wäre sie schon damals gestorben. Aber sie überlebte. Sie suchte über viele Jahre nach ihrem Sohn in Schluchten und Tälern. Sie ging zum Gefängnis und forderte Einlass. Aber die Militärs lachten nur abwertend und beschimpften sie. Sie verlor die Angst und wagte alles. Mit ihrem eisernen Charakter schaffte sie es, so ziemlich jeden Politiker zu stellen, der ihr in den Weg kam.

Auch noch in hohem Alter hat sie viele Frauen dazu motiviert, auf die Strasse zu gehen und für Gerechtigkeit und Wahrheit zu kämpfen. Während des Krieges hat sie den Waisenkindern ein Dach über dem Kopf und in der von ihr errichteten Essenküche jeden Tag eine warme Mahlzeit gegeben. Ihre Tochter Anamaria kochte für die Kinder. Sie und ihre Mutter gaben den Kindern eine zweite Familie, nachdem diese ihre erste zum Teil verloren hatten. Ohne Mama Angélica gäbe es in Ayacucho heute auch  kein Erinnerungsmuseum, das erste in Peru. Dieses Museum zieht bis heute viele BesucherInnen aus Peru, aber auch aus anderen Ländern an.

August ist in Ayacucho der Monat der Erinnerung, es gibt viele Veranstaltungen, die sich mit dem Thema Vergangenheitsaufarbeitung beschäftigen. So passt es auch, dass nach 12 Jahren Prozess im Fall „Los Cabitos“ am 18. August 2017 zwei hochrangige Militärs verurteilt wurden, die für die Massenhinrichtungen in der Kaserne „Los Cabitos“ verantwortlich gemacht wurden. Pedro Edgar Paz Avendaño wurde zu 23 Jahren Haft verurteilt. Ihm wird unter anderem das Verschwinden von Arquímedes Ascarza, dem Sohn von Mama Angelica, zur Last gelegt.

Ohne Mama Angélica hätte es vielleicht auch keine Wahrheitskommission gegeben, die zwischen 2001 und 2003 gearbeitet hat. Der Bericht der Wahrheitskommission wurde am 28. August 2003 öffentlich übergeben. 14 Jahre später, am gleichen Tag, starb sie mit 88 Jahren und vielleicht mit der Befriedigung, dass der Täter ihres Sohnes seine Strafe erhielt.

Neben Mama Angélica sind in den letzten Jahren viele Frauen der Opferorganisation ANFASEP gestorben. Einige aus Altersgründen, andere aber auch, weil sie kein Geld für die medizinische Versorgung hatten. Die meisten Mitglieder ANFASEPS leben bis heute in extremer Armut. Die meisten Frauen sind gestorben, ohne zu wissen, wo ihre Familienmitglieder sind, die sie Jahrzehnte lang verzweifelt gesucht haben.

Durch das Charisma von Mama Angélica wurde ANFASEP immer bekannter in der Öffentlichkeit und ihre Forderungen wurden von den Politikern angehört. Aber es ist noch ein langer Weg, bis alle Forderungen umgesetzt werden. Eine der Forderungen bezieht sich darauf, eine ca. 28 Hektar große Gedenkstätte an dem Massenhinrichtungsplatz „La Hoyada“ in der Stadt Ayacucho zu errichten, einem der wahrscheinlich weltweit größten Exhumierungsorte (neben Guatemala). Heute wird das Gelände „La Hoyada” jedoch von Grundstückshändlern und von den in der Nähe wohnenden Familienangehörigen der Militärs z.T illegal besetzt.

Dass die Frauen von ANFASEP und deren Kinder aber bis heute nicht wirklich anerkannt sind, zeigt die Einweihung des Erinnerungsortes „Lugar de la Memoria“ (LUM) im November 2015 in Lima. Es ist das größte Museum Perus zum peruanischen Bürgerkrieg und wurde grossenteils mit deutschen Entwicklungshilfegeldern erbaut. 90% der Eingeladenen und der Redner bei der Einweihung waren der weißen Mittel- und Oberschicht Limas zuzuordnen, Mama Angélica und ein paar andere Frauen von ANFASEP saßen abseits, sie wurden nicht auf die Bühne gerufen. Es gab viele verschiedene Reden, aber die Betroffenen aus den Anden, die den Bürgerkrieg hautnah miterlebt hatten, kamen nicht zu Wort. Sie kämpfen seit Jahren um Entschädigung und in diesem für sie so wichtigen Ereignis wurden sie, wie so oft, ignoriert und ausgegrenzt. Das ist ein Spiegelbild von dem, was heute in Peru passiert.

Mama Angélica sprach aus Prinzip immer Quechua, auch auf politisch hochkarätigen Veranstaltungen, bei denen niemand Quechua verstand. Sie hat ihre Rechte, ihre Sprache, Identität und Kultur verteidigt. Ich habe meinem kleinen Sohn noch ganz viel zu erzählen. Was ist mit seinem Opa passiert? Bis heute scheint niemand etwas zu wissen. Er spricht Quechua und betritt somit den langen Weg, den Mama Angélica und die anderen Frauen von ANFASEP gegangen sind. Und so lebt sie in meinem Sohn bis heute weiter.


© Kerstin Kastenholz

Kerstin Kastenholz

Kerstin Kastenholz ist Mitglied der Infostelle Peru e.V. und lebt zwischen Berlin und Ayacucho. Sie hat 2007 im Museo de la Memoria in Ayacucho gearbeitet und hat seither regelmässigen Kontakt mit ANFASEP.


*Das Wort “Mama” wird im Quechua als Synonym für “Frau” – “Señora” gebraucht.

Der Zeitzeugenbericht von Mama Angelica befindet sich in dem von Kerstin Kastenholz herausgegebenen  Buch: „Hasta cuando tu silencio, Testimonios de Dolor y coraje“.

Der Film „Wanderer der Erinnerung“, 2014, zeigt auch in Bildern die Geschichte von ANFASEP. Auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=anTmi23S8Jw

Wer eine Spende für ANFASEP und den Erinnerungsort „La Hoyada“ machen möchte, kann dies mit dem Titel „ANFASEP“ auf das Konto der Infostelle tun. Die Spenden werden direkt an ANFASEP weitergeleitet.

Kontoangaben: Informationsstelle Peru e.V., IBAN: DE74430609678216759100, BIC GENODEM1GLS, GLS-Bank Bochum, Vermerk “ANFASEP”