„Wir müssen aufhören, im Namen der Betroffenen zu reden“

Interview mit Juan Carlos Ruiz, Anwalt und Abteilungsleiter für Indigene Völker und Verfassungsklagen bei der Menschenrechts-NRO “Instituto de Defensa Legal” (IDL)

Infostelle Peru: Die kulturelle Vielfalt Perus ist beeindruckend. Der große peruanische Schriftsteller José María Arguedas schreibt dazu: „Nein, es gibt kein vielfältigeres Land weltweit, keines mit größerer Vielfalt an Landschaften und Menschen; an Abstufungen von Temperatur und Hautfarbe, von Liebe und Hass,; jede Abstufung von Wärme und Hautfarbe, von Liebe und Hass, von Verkettungen und Feinheiten, von benutzten und inspirierenden Symbolen.“

Eine der Komponenten dieser Vielfalt sind die sogenannten indigenen Völker. Wer oder was sind die indigenen Völker in Peru? Sind sie nur die Völker des Amazonasgebiets oder sind auch die Bauerngemeinden in den Anden oder auch die Migranten aus den Anden, die in der Stadt leben darunter bezeichnet? Worüber reden wir, wenn wir in Peru von indigenen Völkern reden?

Juan Carlos Ruiz: Indigene Völker sind grundsätzlich diejenigen, die der Definition von indigenem Volk im Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entsprechen. Demnach haben indigene Völker drei Merkmale: 1) sie stammen von eingeborenen Bevölkerungsgruppen ab (die in dem Land oder in einen Gebiet, zu dem das Land gehört, zur Zeit der Kolonialisierung ansässig waren); 2) sie bewahren soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Traditionen ihrer Kultur; und 3) sie bezeichnen sich selber als einem indigenen Volk zugehörig.

Das peruanische Kulturministerium hat noch zwei Merkmale hinzugefügt: indigene Völker leben in ihrem angestammten Gebiet und sprechen ihre einheimische Sprache. Diese beiden Ergänzungen des Kulturministeriums sind nicht obligatorisch, aber gefährlich, weil mehrere Bergbauunternehmen damit argumentieren, um indigene Rechte zu leugnen. Die Ombudsstelle Perus hat beim Energie- und Bergbauministerium protestiert, weil das Ministerium die beiden letzten Anforderungen zum Anlass nahm, bestimmte Gemeinschaften vom Recht auf Vorab-Konsultation auszunehmen – ein Recht, das laut ILO-Konvention 169 nur indigenen Völkern zusteht.

Aber, wenn ein Bergbau- oder Erdölunternehmen mich von meinem Gebiet vertreibt, bin ich dann kein Indigener mehr? Oder wenn ich in der Schule die Sprache meiner Eltern nicht sprechen darf und sie nicht erlerne, wie dies bei den Kukama geschah, bin ich dann weniger indigen? Ehrlich gesagt sind diese zwei Anforderungen beliebig.

Indigen ist, wer von einem Ur-Volk abstammt, ganz oder teilweise ihre Bräuche einhält und sich selbst als indigen definiert. Es spielt keine Rolle, ob man in der Stadt, auf dem Land, in den Bergen, an der Küste oder im Amazonas-Gebiet lebt.

Infostelle Peru: Das Instituto de Defensa Legal arbeitet mit der Methode der strategischen Prozessführung. Das bedeutet, das Verfassungsrecht zu nutzen, um systematische Menschenrechtsverletzungen anzuklagen und Einfluss zu nehmen auf künftige politische Entscheidungen. Wie ist zurzeit in Peru die Lage der Rechte der sogenannten indigenen Völker? Und warum ist die juristische strategische Prozessführung eine gute Wahl, um die indigenen Rechte zu schützen?

Juan Carlos Ruiz: Die indigenen Völker unterscheiden sich nicht nur durch ihre andere Kultur, sondern auch weil sie in der peruanischen Gesellschaft unterdrückt sind und unter Asymmetrie der Macht und sozialen Ungleichheiten leiden. Zum Beispiel sind 0,03% der peruanischen Bevölkerung Träger des HIV-Virus, bei den indigenen Völkern sind es 7%. Indigene Völker als soziale Gruppen sind deutlich verletzbarer. Sie stehen in einer asymmetrischen Machtposition.

Ein paar Beispiele aus der Praxis:
Im Dialog von Saramurillo (es ging um die staatlichen Entschädigungen für die Erdöllecks der staatlichen Pipeline) hielten die Staatsvertreter die Indigenen für unsichtbar, nicht-existent.

Im Amazonasgebiet gibt es mehrere Infrastrukturprojekte, die sehr starke Auswirkungen auf die Bevölkerung haben werden, wie eine neue Stromtrasse, eine Fernstrasse oder die Ausbaggerung des Flusses zur “Fluss-Autobahn”. Wenn es eine Strasse gibt, werden auch illegale Goldschürfer ins Gebiet kommen. Eine Straße durch den Regenwald wird gebaut, dann werden bestimmt die illegalen Bergbauunternehmen verstärkt aktiv.

Ein anderes Beispiel sind die von den Erdölaustritten betroffenen Gemeinden in Loreto. Die Unfälle geschahen im Juni 2014, bis heute haben sie keine ärztliche Hilfe erhalten. Das sind fast vier Jahre! Solche Beispiele zeigen uns die Apathie des peruanischen Staates, sich um die indigene Bevölkerung zu kümmern.

Zur strategischen Prozessführung: Wenn eine Verfassungsklage nicht mit einer sozialen Bewegung und einer Medienarbeit zusammengeht, macht sie eigentlich keinen Sinn. Die Leute bzw. die Gemeinschaft, um die es geht, müssen den Inhalt der Verfassungsklage kennen und dahinter stehen, damit wird der Prozess zu einem Instrument des politischen Kampfes, um ein bestimmtes Thema auf die öffentliche Agenda zu setzen. Eine Klage alleine ist schwach, und wenn ein Richter merkt, dass hinter einer Klage nur ein Anwalt steckt, wird er ihm nicht viel Aufmerksamkeit schenken. Aber wenn er merkt, dass hinter einer Klage eine soziale Gruppe und Bewegung steht, dann wird er sie ernst nehmen.

Infostelle Peru: Wir kann man sich für die indigenen Völker einsetzen, ohne in eine Art von Kolonialismus zu verfallen, das heißt, ohne den indigenen Völkern von außen Themen und Strategien aufzudrücken, die nicht ihre sind?

Juan Carlos Ruiz: Ich kenne Klagen, die geschrieben wurden, ohne sie der Gemeinschaft, um die es geht, vorzulegen. Es ist wichtig, dass die Rechtsanwälte ihre Star-Rolle ablegen und den Opfern nicht die Show stehlen. Ein Prozess muss Anlass geben, über Bürgerrechte zu reden, um einen Reflexionsprozess in einer Gemeinde einzuleiten. Die betroffene Gemeinde muss die Klage kennen und genehmigen, sonst benutzen wir Rechtsanwälte die indigenen Gemeinschaften nur für unsere Zwecke. Es ist auch wichtig, dass wir nicht im Namen der Betroffenen oder der Armen sprechen, sondern dass wir sie selber zu Wort kommen lassen. Die Armen sollen mit ihrer eigenen Stimme reden, wenn wir stattdessen in ihrem Namen reden, dann fallen wir in das Muster des Kolonialismus.

Infostelle Peru: Welche Erfolge kann die strategische Prozessführung verbuchen? Kannst Du uns die drei wichtigsten Urteile nennen und ihre Folgen für die Rechte indigener Völker in Peru?

Juan Carlos Ruiz: Die Urteile, die am meisten Auswirkungen haben auf die Rechte indigener Völker, haben mit Infrastrukturprojekten (Strassen- oder Staudammbau), mit der Erdölförderung und dem Bergbau zu tun. Auf allen drei Gebieten gibt es Urteile zugunsten der Rechte indigener Völker, dass diese vor Projektbeginn konsultiert werden müssen.

Da haben wir einmal das Urteil über den Ausbau der Wasserstrassen im Amazonasgebiet. Es ist ein Meilenstein, weil es besagt, dass staatliche Projekte mit Auswirkungen auf indigene Völker, vorher konsultiert werden müssen.

Dann haben wir das Urteil in erster Instanz zur Erdölbohrung im Lote 116. Es besagt, dass die indigenen Völker vorher konsultiert werden müssen und dass alle Entscheidungen, die ohne Konsultation gefällt worden sind, annulliert werden.

Dann die Urteile im Fall der Bergbaukonzessionen in Atuncolla und Jatucachi. Das Urteil von Jatucachi annulliert Bergbaukonzessionen, die nicht vorher konsultiert wurden. Dasjenige von Atuncolla ermahnt die Bergbaubehörde INGEMET, keine Bergbaukonzessionen zu vergeben, ohne vorher die Bauerngemeinschaften zu konsultieren.

Das Interview führte César Bazán Seminario