© Carola Mick

Sprachpolitik in einer gespaltenen Gesellschaft

Vom politischen Umgang mit der Sprachenvielfalt in Peru.

Am 15. Oktober hat die Literaturwissenschaftlerin Roxana Quispe erstmals eine auf Quechua geschriebene Doktorarbeit an der staatlichen San Marcos-Universität verteidigt und damit einen positiven Meilenstein gesetzt für die Anerkennung des Quechua als Wissenschafts-Sprache. Darüber darf man aber nicht vergessen, dass bis heute kein Schüler*in in Lima-Stadt auch nur eine Stunde Quechua im regulären Lehrplan hat, obwohl es vielleicht die Sprache seiner Eltern oder Großeltern ist. Warum das so ist, und was sich für die Sprecher*innen indigener Sprachen in Peru dennoch zum Positiven gewandelt hat, beschreibt die Linguistin Carola Mick in diesem Artikel.

 

Peru ist nicht nur in Bezug auf die geographischen und klimatischen Bedingungen oder die Artenvielfalt ein Land der Superlative, sondern weist auch eine außergewöhnliche kulturelle Vielfalt auf: Seit Juli 2011 hat die Regierung neben dem Spanischen 48 indigene oder autochthone Sprachen anerkannt – im Vergleich: in Ecuador sind es 14 und in Bolivien 36. Wie auch in Ecuador genießen diese 48 Sprachen in Peru den Status als Amtssprachen auf regionalem Niveau; anders als in Bolivien, dessen Verfassung allen Sprachen den gleichen offiziellen Status als Staatssprachen zuweist, ist in Peru (und Ecuador) allerdings nur das Spanische im ganzen Territorium als Amtssprache gültig (Sprachengesetz N°29735). Diese 48 unterschiedenen Sprachen in Peru werden nach Angaben des Bildungsministeriums 19 Sprachfamilien zugeordnet, was bedeutet, dass sie sich von der Struktur her so sehr unterscheiden, dass das gegenseitige Verständnis ihrer jeweiligen Sprecher*innen nicht gewährleistet ist. Gemäß der letzten Volkszählung des Nationalen Statistikamts (INEI) aus dem Jahr 2017 haben ca. 16% der Peruaner*innen in ihrer Kindheit in einer indigenen Sprache sprechen gelernt, während das Spanische nur ihre (eine ihrer) Zweitsprache darstellt, die sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten bereits in der Kindheit, während der Schulzeit oder erst im Erwachsenenalter erlernt haben.[1] Zum Vergleich: In der Europäischen Union gibt es 24 Amtssprachen, die nur drei Sprachfamilien angehören, und trotz dessen muss jährlich ungefähr eine Milliarde Euro in Übersetzung- und Dolmetscheraufgaben investiert werden. Wie löst der peruanische Staat eine mehr als doppelt so große Herausforderung?

 

Eine kulturell und sprachlich gespaltene Gesellschaft

Schon vor der Ankunft der spanischen Kolonialherren gab es in Peru ein Nebeneinander der in Verwaltung und Handel vorherrschenden Verkehrssprachen Quechua und, begrenzter, Aimara, gegenüber den auf lokaler, gemeinschaftlicher Ebene dominierenden anderen Sprachen und ihren Varietäten. In der Kolonialzeit wird das Quechua aus den meisten Bereichen vom Spanischen verdrängt, nur die Kirche bleibt den Sprachen der Indigenen und dem Quechua gegenüber noch bis zur Herrschaft von Carlos III. (ab 1770) ein wenig offener. Trotz der Anerkennung von Bürgerrechten für indigene Bevölkerung durch die Unabhängigkeitserklärung von San Martín im Jahre 1821 mussten mehr als 150 Jahre ‚republikanischer’ Geschichte vergehen, bis im Jahre 1975 im Zuge der Militärdiktatur von Juan Velasco Alvarado Quechua zur zweiten Amtssprache erklärt wurde. Auch wenn die Reformen Velascos sehr umstritten waren und sind, ist seitdem die Sprachenvielfalt in Peru Teil der politischen Agenda.

Die darauffolgenden Verfassungen von 1979 und 1993 übernehmen das Mehrsprachigkeitsprinzip sogar in erweiterter Form, da auch Aimara und „die anderen indigenen Sprachen“ (las demás lenguas aborígenes) davon formal profitieren. Aufgrund des dominanten einsprachigen kolonialen Erbes der weiterhin einflussreichen spanischsprachigen Eliten wird die Bilinguale Interkulturelle Erziehung (EBI) in den 1980er und 1990er Jahren aber zunächst nur als eine Art Kompensationsprogramm für Schulen in ärmeren und ländlichen Bezirken angesehen. Noch heute haben beispielsweise in der Großregion Lima ausschließlich die Kinder der elf [2] im Bezirk Oyón die Möglichkeit, Quechua zu erlernen, alternativ bleiben sonst nur noch die gezählten privaten Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Will man in Lima eine andere indigene Sprache erlernen, muss man ihre Sprecher*innen ausfindig machen und davon überzeugen, sich als Privatlehrer*innen zu betätigen. Interkulturalität und Zweisprachigkeit werden im weiterhin vorherrschenden nationalen Bildungsmodell nur als eine Zwischenstation verstanden, deren Ziel die Einpassung der Schüler*innen in eine einsprachig und monokulturell konzipierte nationale Gesellschaft ist.

Mit dem Wechsel der Reihenfolge der Buchstaben im Namen, von EBI zu EIB (Educación Intercultural Bilingüe), wird diese Form der ‚Interkulturalität’ jedoch ab Beginn des 21. Jahrhunderts in Peru vermehrt problematisiert, und es kommt nach und nach das Bewusstsein auf, dass die schlechten Bildungsergebnisse zwei/mehrsprachiger Schüler*innen mit der Diskriminierung zusammenhängen, die sie und ihre Gemeinschaften in einer einsprachig organisierten dominanten Gesellschaft erfahren.

Die Durchsetzung von Sprachrechten indigener Völker in Peru

Seit der Ratifizierung seiner Unterzeichnung durch das peruanische Parlament im Jahre 1993 hat das Übereinkommen N°169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Peru Verfassungsstatus; damit verpflichtet sich der peruanische Staat unter anderem, Sprachenrechte indigener Völker umfassend zu garantieren (Artikel 28). Erst die immer lauter werdenden Stimmen indigener Völker und die auf die Tragödie von Bagua im Juni 2009 folgenden Wahlversprechen haben jedoch Früchte getragen: Das Vizeministerium für Interkulturalität im in diesem Zuge gegründeten Kulturministerium ist seitdem mit der Implementierung des Gesetzes der vorherigen Konsultation indigener Völker (Ley del Derecho a la Consulta Previa a los pueblos indígenas u originarios, N°29785) beauftragt.

Seine Sprachenabteilung hat in diesem Hinblick bislang die Standardisierung von 42 indigenen Sprachen und die Verabschiedung von auf der Basis existierender Vorschläge[3] partizipativ erarbeiteten Alphabeten abgeschlossen, was für eine Ausweitung des bilingualen Bildungsangebots oder auch für die Übersetzung offizieller Dokumente nötig ist. Seit 2012 finden mindestens einmal jährlich staatlich organisierte Ausbildungen für Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen statt, von deren Angebot die Sprecher*innen von bisher 37 indigenen Sprachen profitieren können, wenn sie mit den Institutionen in ihrer Sprache kommunizieren wollen. Vom Bildungsministerium in Kooperation mit lokalen Organisationen erstellte Materialien für bilinguale Grund- und Vorschulen existieren bislang in 27 Einheimischensprachen.

Die im Jahre 2014 nach vorheriger Konsultation mit indigenen Organisationen beschlossene Reglementierung des 2011 verabschiedeten Sprachengesetzes garantiert Sprachenrechte umfassender. In diesem Zuge zertifiziert zum Beispiel das Vizeministerium für Interkulturalität zweisprachigen Beamt*innen, die sich bislang oft vor Kolleg*innen für ihre Mehrsprachigkeit schämten, ihre Sprachenkenntnisse zu zertifizieren, um den Bürgerservice zu verbessern. So können nun beispielsweise Eltern den von ihnen verwendeten Shipibo-Namen Metsá Biri (bedeutet: ‚leuchtend schön’) ihrer Tochter im Personalausweis eintragen lassen, wofür sie sich vorher ein spanisches Pseudonym ausdenken mussten[4].

 

21 Sprachen im peruanischen Amazonasgebiet sind vom Aussterben bedroht

Auch die Revitalisierung vom Aussterben bedrohter Sprachen in Peru ist mittlerweile eine Priorität des Vizeministeriums für Interkulturalität. Gemäß der UNESCO sind in der peruanischen Amazonasregion 21 Sprachen vom Aussterben bedroht, weil sie über sehr wenige, fast ausschließlich erwachsene und/oder isolierte Sprecher*innen verfügen, was ihre Weitergabe an die folgende Generation gefährdet. Vor zwei Jahren zum Beispiel wurde Amadeo García, der damals 68-jährige letzte Sprecher des Taushiro vom Kulturministerium zum Anlass des internationalen Tages der Muttersprachen geehrt, 2018 widmet sich ihm der Dokumentarfilm Ucuañuca und man kann seine Stimme auf einer im Internet verfügbaren Laut-Landkarte (mapa sonoro) abspielen. Aber mangels Kommunikationsmöglichkeiten mit Anderen wird seine Sprache dadurch natürlich leider nicht lebendiger.

Es gibt wenige Vorbilder, wie man eine vom Aussterben bedrohte Minderheitensprache wiederbeleben kann, aber im Falle des Quechuas sind die Sprecherzahlen in den zehn Jahren zwischen den letzten Volkszählungen um fast eine halbe Million gestiegen, von 13.0% auf 13.6% der Bevölkerung. Die Sprache profitiert von ihrem interregionalen und internationalen Sonderstatus, was zeigt, dass die Revitalisierung der indigenen Sprachen einer gemeinsamen Anstrengung von Politik, Zivilgesellschaft, Familien und allen Bereichen des Gesellschaftslebens auch über die Grenzen hinweg bedarf: Die Weitergabe einer Sprache an die nächste Generation findet dann erfolgreich statt, wenn der Alltag Gelegenheit dazu gibt, Wortschatz und Kommunikationsfähigkeit zu aktualisieren und entwickeln.

Teils auf Anregung des indigenen Kulturvereins Chirapaq haben in diesem Hinblick mehrere lokale und regionale Radiosender indigene Sprachen in ihr Programm integriert. Der staatliche Fernsehsender TV Peru bietet mittlerweile einmal täglich auf nationaler Ebene ausführliche Fernsehnachrichten in Quechua (Ñuqanchik, 5h30am, seit 2016) und Aimara (Jiwasanaka, 5am, seit 2017), seit 2018 wird am Samstagmorgen das Kulturmagazin Ashi Añane in Asháninka ausgestrahlt, und dieses Jahr haben Radio Nacional und TV Peru ein Regionalprogramm in Shipibo-Konibo aufgenommen, welches auch den Sprecher*innen anderer Sprachen in Ucayali Aufmerksamkeit widmen will. Natürlich sind vor allem die Jugend und die Bildungsarbeit gefragt, wobei dies nicht nur eine institutionelle Aufgabe ist: In der Kukama-Kukamiria-Gemeinde in Loreto haben die rechtzeitigen gemeinsamen Anstrengungen der Generation der Ältesten und der Jugendlichen in Zusammenarbeit mit dem regionalen Sender Radio Ucamara und vielseitiger Unterstützung beispielsweise der Münchener Gruppe Create your Voice oder von Studierenden der Pontificia Universidad Católica del Perú Früchte getragen: Die Sprache erfreut sich heute nicht nur innerhalb der Gemeinde einer regen Verwendung, sondern lebt auch in populären Musikvideos auf Youtube und Facebook weiter, ebenso wie die Quechua-Lieder des Rappers Liberatokani oder die Quechua-Übersetzungen von Popmusik der Sängerin Renata Flores.

Überhaupt scheinen die in den indigenen Gemeinden sehr verbreiteten neuen Technologien (das Handy!) ein strategisch wichtiges Instrument der Sprachvitalisierung zu sein: Das Vizeministerium für Interkulturalität hat im Jahr 2017 Applikationen zum Erlernen von Grundkenntnissen in 15 indigenen Sprachen entwickelt, die man sich auf das Handy herunterladen kann. Daneben soll es auch Initiativen geben, indigene Sprachen im Online-Übersetzungsservice Googletranslate als Option anzubieten. Blogger*innen veröffentlichen in ihren Facebook-Konten oder auch auf Lamula.net mehrsprachig (zum Beispiel: Escribiendo la Amazonía, auf Spanisch und Wampis, Isabel Ananco). Mit der Verabschiedung der standardisierten Alphabete und der voranschreitenden Alphabetisierung der Schüler*innen in ihren Sprachen kommen immer mehr Bücher in indigenen Sprachen oder zweisprachig auf den Markt, nicht nur schulisches Material, wovon auch die mündliche Literatur in indigenen Sprachen profitiert. Bis zum 21. November können bei der Defensoría del Pueblo außerdem Beiträge zum Poesie-Wettbewerb in indigenen Sprachen eingereicht werden.

 

Peruanische Sprachpolitik gilt trotz Einschränkungen als Vorbild in der Region

Obwohl die Anerkennung der indigenen Sprachen aus verfassungsrechtlicher ebenso wie kultureller Sicht in Peru weniger weit geht als in den Nachbarländern Bolivien und Ecuador, inspirieren die konzipierten sprachpolitischen Maßnahmen Perus andere Regierungen, wie zum Beispiel die Region Chaco in Argentinien. Neben den noch nicht abgeschlossenen oben genannten Aufgaben sowie der konkreten Durchsetzung der angekündigten sprachpolitischen Maßnahmen bleiben aber weitere große Herausforderungen, wie beispielsweise die Verankerung interkultureller und mehrsprachiger Prinzipien im regulären Bildungssystem und auf der institutionellen Ebene generell[5]; die Öffnung der Sprachenpolitik für sprachliche Variation über die anerkannten Sprachgemeinschaften hinaus; die zweisprachige Erziehung auf Sekundarschul- und Hochschul-Niveau; die Ausweitung des Stipendienangebots für Studierende aus indigenen Gemeinschaften; die Verankerung einer kontinuierlichen Repräsentation indigener Völker auf institutioneller Ebene; … Es ist klar, dass das Ringen indigener Sprachen ums Überleben keinen Selbstzweck darstellt, sondern vom Zusammenhalt einer plurikulturellen Gesellschaft handelt.

Carola Mick

Carola Mick ist Romanistin, Assistenzprofessorin am Lehrstuhl für allgemeine Sprachwissenschaften an der Universität von Paris (René Descartes). Sei fast vier Jahren arbeitet sie für das französische Institut für Entwicklungsforschung (IRD) an einem wissenschaftlichen Projekt zum Prinzip der vorherigen Konsultation indigener Völker, in Zusammenarbeit mit der Pontificia Universidad Católica del Perú (PUCP).

Fussnoten:

[1] Nicht alle dieser Sprecher*innen identifizieren sich mit einem indigenen oder autochthonen Volk (25.7%), und nur 57% dieser Personen, die sich einem indigenen Volk zugehörig fühlen, haben eine indigene Sprache als Erstsprache erlernt. Die Statistik sagt nichts über Zwei- oder Mehrsprachigkeit aus.

[2] Es handelt sich um drei Kindergärten, sechs Grundschulen und zwei Sekundarschulen, gemäß Angaben des Bildungsministeriums aus dem Jahre 2013.

[3] Insbesondere das missionarisch motivierte und politisch nicht unumstrittene US-amerikanische Sommerinstitut für Linguistik (SIL) war diesbezüglich sehr aktiv.

[4] Das dafür zuständige Amt erstellt seit 2012 die Serie “Namensschätze” (tesoros de nombres) in indigenen Sprachen, die als Leitfaden für ihre Veramtlichung dient.

[5] Es existiert zwar das theoretische Modell der interkulturellen Erziehung für alle (Educación intercultural para Todos, EIT), im nationalen Lehrplan taucht das Konzept aber nicht auf.