Strassenverkäuferinnen während des Lockdowns in Limas Altstadt (© Hildegard Willer)

„Eine Volkswirtschaft des 21. Jahrhunderts in einem Staat aus dem 19. Jahrhundert“

Erst im Jahr 2022 wird Perus Wirtschaft  wieder den Stand vor Ausbruch der Coronakrise erreichen, sagt Volkswirtschaftsprofessor Efrain Gonzales de Olarte.

Efrain Gonzales de Olarte ist Professor für Volkswirtschaft an der Katholischen Universität Perus. Er war viele Jahre Vizerektor und Rektor der Universität.

 

InfoPeru:  Herr Professor Gonzales de Olarte, wie beurteilen Sie die wirtschaftlichen Maßnahmen der peruanischen Regierung während des Lockdowns?

 

Gonzales de Olarte:  Diese Pandemie hat uns gezeigt, wie schrecklich die Ungleichheit in unserem Land ist. Sie wurde immer schlimmer, je länger die Quarantäne dauerte.  Zwei Drittel de Peruaner*innen arbeiten im informellen Sektor, verdienen jeden Tag das, was sie brauchen. Damit sie die Quarantäne einhalten konnten, sollten sie Hilfszahlungen erhalten.  Doch gerade die Informalität machte es schwer, dass diese Hilfsgelder ausgezahlt werden konnten. Es gab keine Adressregister, die Menschen hatten keine Bankkonten. Oder mussten bei einer der wenigen Bankfilialen Schlange stehen. Erst jetzt gibt es die elektronsichen Zahlungsmittel via Handy, aber sie sind noch nicht so weit verbreitet.

Gott sei Dank hatte der peruanische Staat viele Reserven. Die Makroökonomie Perus ist aus dem 21. Jahrhundert, aber die Mikroökonomie aus dem 19. Jahrhundert. Peru hat als erstes Land einen vollständigen Corona-Plan vorgelegt, mit Krediten für die Reaktivierung der Unternehmen. Die Zentralbank garantierte für das Hilfspaket, eines der größten weltweit, gemessen an der Wirtschaftskraft.

Aber das Gesundheitssystem funktionierte nicht. Denn der peruanische Staat ist institutionell sehr schwach. Wir hatten  weder eine adäquate Infrastruktur noch das Personal, um der Pandemie etwas entgegenzusetzen.  Unser Gesundheitssystem setzt auf Heilung in Krankenhäusern, statt auf  die Prävention in den Gesundheitsposten. Die Gesundheitsposten aber wurden geschlossen, und im Krankenhaus stieg das Risiko, an Covid-19 zu sterben.  Aus der Pandemie haben wir auch gelernt, dass eine Investition in die Prävention viel billiger kommt.

Der peruanische Staat ist schwach, weil er sehr klein ist.  Die Steuerquote (Anteil der gesamten Steuern am BIP) ist mit 16 Prozent sehr niedrig  (Vergleich Deutschland: 24 Prozent).  Die Staatsquote (Anteil der Staatsausgaben am BIP) beträgt 21 Prozent (Vergleich Deutschland 2017: 44,5 Prozent)

Wir haben so wenige Steuereinnahmen, weil der Reichtum so ungleich verteilt ist. 10 Prozent der Bevölkerung verdient mehr als 40 Prozent des Gesamtverdienstes, 20 Prozentder Bevölkerung dagegen weniger als 5 Prozent.

Dazu kommt, dass die meisten Steuern indirekt sind, wie z.B. die Mehrwertsteuer, und die Armen  mehr  von ihrem Einkommen davon bezahlen als die Reichen.  Das ist dramatisch in Peru. Die Leute mussten arbeiten gehen, und wir haben zwei Monate des Schreckens erlebt. Gott sei Dank sind die Corona-Zahlen seit zwei Wochen rückläufig.  Seit 1. Oktober erleben wir nun die vierte Phase der wirtschaftlichen Reaktivierung. Aber wir wissen nicht, ob dadurch die Coronainfektionen wieder steigen werden.

 

InfoPeru: Wie beurteilen Sie den Einsatz und die Verwendung dieser vielen Staatsgelder zur wirtschaftlichen Reaktivierung ?

 

Gonzales de Olarte:  Es ist logisch, dass ein großes Unternehmen mit einer größeren Anzahl an Beschäftigten  höhere Kredite braucht.  In Peru bekamen 5000 Firmen rund 70 Prozent der Reaktivierungskredite, die restlichen 30 Prozent gingen an Tausende von Klein – und Kleinstunternehmen.  Die Frage ist nicht, ob die Reichen mehr bekommen, sondern welche Auswirkung auf die Beschäfigung der Kredit hat.  Die Logik dahinter ist, dass man mehr Beschäftigungsketten in Gang setzt, wenn man z.B. einem großen Bergbauunternehmen Anschubkredite gibt. Aber das muss man genau anschauen. Wenn die Reaktivierungsphase vorbei ist, werden wir wahrscheinlich sehen, dass die Wirtschaftsstruktur sich nicht groß geändert hat. Und sie müsste sich ändern!

 

Infostelle: In welcher Hinsicht?

 

Gonzales de Olarte:  Anstatt die Kredite nach Größe der Unternehmen zu verteilen, sollten wir den Sektoren Kredite geben, welche am meisten Arbeitsplätze stellen und die ihre Produktivität verbessern müssen.  Der wichtigste Grund für die Ungleichheit ist Ungleichheit in der Produktivität. In Peru kann diese Spanne eins zu hundert betragen, wenn man z.B. die Produktivität eines Kleinbauern mit der Produktivität im Energie- oder Finanzsektor vergleicht.  Wir bräuchten eine Politik, die Beschäftigung schafft und dann durch gezielte Kredite und technische Unterstützung die Produktivität anhebt.

Dazu kommt, dass in einem halben Jahr Wahlen anstehen. Die Regierung entscheidet nichts Wichtiges mehr und ist mit der Pandemie voll ausgelastet. Dabei sollte zumindest ein wenig Augenmerk auf die mittel – und langfristige Entwicklung nach Abklingen der Pandemie gelegt werden. Aber dafür braucht es einen stärkeren Staat als den peruanischen . Was wir nun sehen werden, sind populistische Wahlversprechen.

 

InfoPeru: Als eine Notmaßnahme erlaubte die Regierung den Menschen sich einen Teil ihrer privaten Altersrente auszahlen zu lassen. Im Parlament gibt es Vorschläge, dass auch die staatliche Rente ausbezahlt werden könne, lange bevor die Menschen ins Rentenalter kommen. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?

 

Gonzales de Olarte:  Das ist ein großer Fehler.  Man löst kein Problem, indem man das Geld der Rentner*innen freigibt. Die Renten in Peru sind sowieso sehr niedrig, und es gibt drei verschiedene Rentensysteme (staatlich, privat, und eines für Polizei und Armee).

Es sind unverantwortliche, aber sehr populistische Vorschläge, um in den nächsten Wahlen Stimmen zu bekommen. Dabei müsste unser Rentensystem reformiert und vereinheitlicht werden.  In einem Land mit so viel Ungleichheit wie dem unseren sollte die Rente am Ende eines Arbeitslebens zu mehr Gleichheit verhelfen, nicht zu mehr Ungleichheit.

 

InfoPeru:   Der Einbruch der peruanischen Wirtschaft durch die Coronakrise ist gewaltig. Aber könnte nicht auch die Erholung genauso schnell wieder vonstatten gehen ?

 

Gonzales de Olarte:  Laut  Vorhersagen wird die Wirtschaft dieses Jahr um mindestens 12 Prozent einbrechen, ich halte 14 Prozent für wahrscheinlicher.  Nächstes Jahr wird die Wirtschaft um zehn Prozent wachsen, es wird also immer noch ein Minuswachstum  geben. Erst im Jahr 2022 wird die Wirtschaft wieder ihren Stand vor der Coronakrise erreichen und ins positive Wachstum kommen.

Die peruanische Wirtschaft ist auf den Export von Rohstoffen ausgerichtet. Dieser hat unter Corona nicht so sehr gelitten. Damit erwirtschaften wir die notwendigen Devisen und verhindern, dass der Wechselkurs einbricht.  Es hängt also von der Nachfrage ab. Peru exportiert zu fast gleichen Teilen nach Europa, USA, China und Lateinamerika. Sofern deren Nachfrage nach peruanischen Gütern nicht einbricht, sieht es nicht so pessimistisch aus.

Peru hat ein Gesetz, nachdem jeder Staatshaushalt mindestens mit 1 Prozent im Plus liegen muss. Und gesetzlich ist es auch nicht möglich, dass die Zentralbank dem Staat Geld leiht. Damit bleibt dem Staat, wenn er Geld braucht, nur übrig, Staatsanleihen auszugeben.

 

InfoPeru: Wo zeigen sich die größten Ungleichheiten ?

 

Gonzales de Olarte:  Die  Armen werden ärmer sein am Ende der Pandemie, weil sie in der Zeit kein Einkommen hatten, wohingegen die Mittelschicht nur wenig Einkommen verloren hat. Und die Oberschicht gar keines.   Der Dienstleistungssektor, darunter auch der Tourismus, werden am meisten leiden. Viele der dort Beschäftigten werden woanders einen Job suchen müssen.

 

InfoPeru: Warum ist es eigentlich so schwierig, den Anteil der informell Beschäftigten in Peru – einen der höchsten in ganz Lateinamerika – zu senken ?

 

Gonzales de Olarte:  Was verstehen wir unter Informalität? Jemand, der keine Steuernummer hat? Oder, wer nicht sozialversichert ist? Oder wer kein Bankkonto hat?

Für mich ist die Informalität die Fassade der niedrigen Produktivität. Du wirst keinen Kredit bei der Bank bekommen, wenn du ein Grundstück, sagen wir in Villa El Salvador, als Garantie hinterlegst. Die Bank wird daran kein Interesse haben, sie will deinen Cashflow, deinen Umsatz, sehen.  Und der ist niedrig, wenn deine Produktivität niedrig ist. Diese verhindert, dass du dich bei der Steuerbehörde registrierst, oder dass du zur Bank gehst.

Außerdem ist der Staat sehr schwach, um zu formalisieren.

 

InfoPeru:  Sehen Sie auch  Chancen in der Coronakrise ?

Gonzales de Olarte:  Die Pandemie hat uns auch gezeigt, dass Zusammenarbeit besser funktioniert als der Individualismus. Ein Beispiel sind die Volksküchen, oder private Hilfsaktionen.

Es gibt mehr Bewusstsein über die Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Dies muss sich auch in der Politik bemerkbar machen. Und die Wissenschaft hat profitiert. Man hat gemerkt, dass die Wissenschaft Leben retten kann.

Die Pandemie hat einen kulturellen Wechsel eingeläutet. Aber ein solcher  Wechsel dauert mehrere Generationen.

 

Das Interview führte Hildegard Willer

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