© Juanjo Fernández

Amazonas-Wasserstraße: Gut gemeint, aber schlecht geplant? Oder nur korrupt?

Im peruanischen Regenwald ist ein Grossprojekt mit unvorhersehbaren Auswirkungen in Planung: die amazonische Wasserstrasse. 2018 soll mit dem Bau begonnen werden. Wo steht das Projekt heute.

Das Projekt

Die Amazonas-Wasserstrasse (Hidrovía Amazónica) soll die Schifffahrt auf 2687 km an 365 Tagen im Jahr „sicher, verlässlich, wirtschaftlich und effizient“ machen und so zur Entwicklung des Personen- und Warentransportes sowie des regionalen, nationalen und internationalen Handels beitragen, indem es Kosten und Transferzeiten reduziert. Konkret sollen in den Flüssen Ucayali, Huallaga, Marañón und Amazonas 13 Stellen ausgebaggert werden, die während der Monate Juli bis Oktober für grosse Schiffe zu wenig Wasser führen. Im September 2017 vergab der peruanische Staat die Konzession für das Vorhaben an das chinesisch-peruanische Konsortium Concesionaria Hidrovía Amazónica (Cohidro).

Ein Fluss – was ist das?

Die vorhandenen Wasserstrassen nutzen und verbessern, statt Regenwald abzuholzen, um Strassen zu bauen, ist grundsätzlich sinnvoll. Den Fluss nur als Wasserstrasse zu sehen, ist jedoch eine enorm reduzierte Sichtweise. „Nicht alle Menschen und Kulturen sehen den Fluss nur als Wasserrinne. Für die indigene Bevölkerung ist der Fluss der Ort, wo sie wohnen, wo sie sich baden, woraus sie ihr Wasser nehmen, wo sie fischen, wo sie Beziehungen mit ihren Geistern eingehen. Der Fluss ist viel mehr als eine Wasserstrasse, der Fluss ist das Leben selbst“ sagen die beiden Missionare Manolo Berjón und Miguel Ángel Cadenas, die 20 Jahre bei Kukama-Indigenen am Marañón-Fluss gelebt haben.

In der Weltsicht der Kukama ist der Fluss ein Ort, wo Leute leben, wo es Städte gibt wie auf der Erde. Die Leute im Fluss leben gemeinsam mit den Tieren und Geistern. Die Kukama leben – wie andere indigene Völker im Amazonasgebiet – hauptsächlich vom Fischfang und familärer Landwirtschaft, die sie mit Kenntnissen über die Veränderungen des Flusses und des Wasserstandes betreiben. Meist ist der Fluss auch die Trinkwasserquelle.

Eine spirituell-kulturelle Landkarte des Flusses (© Flurina Doppler)

Im Wasserlauf des unteren Marañón tauchen Geisterschiffe auf und manchmal auch der “Pelacaras”, ein grosser, böser Mann mit riesigen Schuhen, der den Leuten die Haut vom Gesicht zieht. Es gibt Städte unter dem Fluss und die Muyunas, Strudel, welche die Eingänge zu den Städten markieren. Es gibt Orte, die speziell für den Fischfang geeignet sind, andere wo gewaschen wird und es gibt Orte, an denen sich die Puruwa zeigt, die Schutzmutter aller Mütter im Fluss.
In den letzten fünf Jahren hat das Team von Radio Ucamara aus Nauta in Zusammenarbeit mit der Naturschutzorganisation WCS die Dörfer am unteren Lauf des Marañón zu für sie wichtigen Orten befragt und diese in einer “kulturell-spirituellen” Karte festgehalten. Die Karte zeigt die materiellen und spirituellen Beziehungen der Kukama mit dem Fluss auf. Sie soll als ein Instrument zur Verteidigung des Flusses sein – gegen die Hidrovía, aber gegen die Verschmutzung des Flusses durch die zahlreichen Erdöllecks und andere Bedrohungen.

„Für uns ist der Fluss die große Schlange, die sich bewegt, die lebt“, sagt der Kukama Leonardo Tello von Radio Ucamara anlässlich der Präsentation der Karte an der Technischen Universität von Lima. „Jeder Eingriff in den Fluss bedeutet, dass die Kommunikation der Schamanen mit den anderen Wesen gestört wird. Die Folge davon ist eine Schwächung der ganzen Bevölkerung“.

Mal baggern und dann schauen, was passiert

Die grundlegende Kritik an der Wasserstrasse ist die fehlende Klarheit über die Auswirkungen der Grabungen. Der Fluss lebt, mäandert, ist in ständiger Bewegung. Nicht nur das Wasser, auch die Sedimente. Die Menschen, die an und mit dem Fluss leben, wissen, dass die Untiefen sich je nach Jahreszeit und Wassermenge verändern. Sie wissen auch, dass die Stellen, die ausgebaggert werden sollen, genau jene sind, an denen sich verschiedene Fische zur Vermehrung zurückziehen.

Eine der Hauptsorgen der Indigenen ist daher, dass ihre Lebensgrundlage gefährdet ist, wenn durch das Ausbaggern der Fischbestand sinkt. Weitere Befürchtungen sind, dass sich die Trinkwasserqualität durch das Aufwühlen der Sedimente verschlechtern und dass die Veränderung des Wasserlaufes zu vermehrten Überschwemmungen führen wird.

Die Millionen Kubikmeter Sedimente, die ausgegraben werden, sollen laut Plan der Firma an einem anderen Ort im Fluss deponiert werden. „Und was passiert beim nächsten Hochwasser?“, fragt der Amazonas-Experte Alberto Chirif1. „Wo wird diese Erde enden? Oder geht man davon aus, dass sie sich brav dort stillhalten wird, wo sie abgelagert wurde, um der Umwelt und der Firma keine Probleme zu machen? Und was wird mit dem Erdöl geschehen, das in den letzten 50 Jahren in die Flüsse gelaufen ist und als Dekontaminierungsmassnahme mit chemischen Mitteln im Flussbett des Marañón gebunden wurde? Was wird geschehen, wenn diese Verschmutzung wieder aktiviert wird und in die Nahrungskette gelangt? Niemand weiss es und niemand will es sich vorstellen.“

Auch über die Auswirkungen aus wirtschaftlicher Sicht besteht keine Klarheit. „Es gibt keine Kosten-Nutzen-Analyse. Das einzige was man weiss, ist, dass die Firma Cohidro 95 Millionen US-Dollar investieren wird, aber wir wissen nicht, wie viel Geld den lokalen Handel begünstigen wird, und noch viel weniger, wie viel die indigenen Gemeinschaften davon profitieren werden“, sagte der Wirtschaftsanalyst José Carlos Rubio zum Online-Portal Mongabay2.

Ohne Kampf keine Mitbestimmung

2013 reichte die indigene Organisation ACODECOSPAT Klage gegen den peruanischen Staat ein, weil sie zu dem Projekt nicht konsultiert worden waren. 2015 wurde die Klage gutgeheissen und eine Vorabkonsultation durchgeführt3. Nach abgeschlossener Vorabkonsultation wurde das Projekt ausgeschrieben und im Juli 2017 erhielt das Consorcio Hidrovías II4 den Zuschlag. Im September 2017 unterschrieb das peruanische Transport-Ministerium den Vertrag mit einer Laufzeit von 20 Jahren mit der Concesionaria Hidrovía Amazónica S.A. (Cohidro), ein Joint Venture zwischen der chinesischen Sinohydro Corporation Ltd. und der peruanischen Firma “Construcción y Administración S.A.“.

Der Konsultationsprozess „war kein interkultureller Dialog, sondern vielmehr ein Durchdrücken“, meint der Anwalt Juan Carlos Ruiz Molleda von Instituto de Defensa Legal. Er kritisiert vor allem die zu kurzen Fristen und die abstrakte Sprache, die der Realität der indigenen Gemeinschaften nicht angepasst waren. Dennoch: es gab auch positive Punkte. Einer davon ist die erreichte Vereinbarung, dass die betroffene Bevölkerung an der Erarbeitung der Umweltverträglichkeitsstudie beteiligt werden muss. Erst wenn diese von den zuständigen Behörden akzeptiert wird, kann mit den Grabungen begonnen werden.

Es fehlt an Daten, Zeit und interkultureller Sensibilität

Zurzeit ist die von Cohidro beauftragte Firma ECSA daran, die Umweltverträglichkeitsstudie zu erarbeiten. Ihr Plan, wie sie die Bevölkerung daran beteiligen will, wurde Mitte Februar von der zuständigen Behörde bewilligt. Ende Februar fand die erste Runde Workshops mit der Bevölkerung statt.

„Es besteht ein grosses Unwissen seitens der Ingenieure von ECSA, wie die Workshops mit der Bevölkerung durchgeführt werden sollen. Bei den Präsentationen werden Bilder gezeigt, die nichts mit der Realität der indigenen Gemeinschaften zu tun haben, und es werden sogar Quecha-sprachige Übersetzer aufgeboten – im Amazonasgebiet, wo diese Sprache nicht gesprochen wird“, sagte Francisco Rivasplata der NGO DAR zum Onlineportal Mongabay.

Sowohl ORPIO wie auch die nationale Dachorganisation AIDESEP hatten den Plan wegen fehlender Berücksichtigung interkultureller Aspekte schon vor Beginn der aktuellen Workshops angefochten. Sie kritisieren auch, dass bis jetzt weder Cohidro noch der Staat über eine Karte mit allen vom Projekt betroffenen indigenen Gemeinschaften verfügen. Die Beschwerden der indigenen Organisationen gegen den Plan waren bisher erfolglos.

ECSA arbeitet inzwischen weiter an der Umweltverträglichkeitsstudie. Der Umweltingenieur Jorge Abad der Technischen Universität UTEC kritisiert das Vorgehen: „Es wird an der Umweltverträglichkeitsstudie gearbeitet, aber es fehlt an grundlegender Information. Zuerst müsste eine Messbasis erstellt werden.“ Auch ECSA anerkennt, dass die Datenlage über das Flusssystem ungenügend ist, weist jedoch darauf hin, dass es in der Zeit, die für die Erarbeitung der Studie zur Verfügung steht, unmöglich ist, alle fehlenden Informationen zu erheben. „Wir machen das bestmögliche mit der vorhandenen Information“, sagten die Sprecher der Firma.

Zweiter Konsultationsprozess gefordert

Jorge Pérez von ORPIO glaubt nicht, dass die Umweltverträglichkeitsstudie eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Beeinträchtigung der Fischerei und die weiteren Bedenken geben wird. Deshalb hat ORPIO bereits Mitte März verlangt, dass die Umweltverträglichkeitsstudie ebenfalls einer Konsultation unterzogen werden soll. Die Möglichkeit dafür wurde in den Vereinbarungen der 2015 durchgeführten Vorabkonsultation festgehalten. Eine Antwort der Behörden auf die Forderung steht noch aus.

Unter ExpertInnen in Sachen indigene Rechte wird heftig darüber debattiert, zu welchem Zeitpunkt eines Projekts und zu welchen Projektunterlagen die Vorabkonsultation (free prior, informed consent) stattfinden soll. Findet die Konsultation früh statt, gibt es meist noch zu wenig konkrete Informationen, um eine „informierte Meinung“ bilden zu können, wird erst konsultiert, wenn der Vertrag schon unterschrieben ist und die Umweltverträglichkeitsstudie und weitere Dokumente vorliegen, ist es keine „Vorab“-Konsultation mehr. Logische Folgerung für viele ist daher, dass es Standard sein müsste, dass ein Projekt in verschiedenen Phasen einen Konsultationsprozess durchlaufen muss. Eine Forderung, die hier in Peru momentan politisch so gut wie keine Chancen hat.

Das Misstrauen bleibt

„Das Projekt beginnt, wie alle in Peru, schlecht, weil der wissenschaftliche Ansatz fehlt. Es ist vielmehr ein Management-Thema und gut für die Regierung. Aber ich glaube, die wissenschaftliche Sichtweise müsste Vorrang haben. Es ist etwas anderes, eine Strasse zu bauen oder ein Flussbett auszugraben. Nicht nur wegen der Sedimente, sondern weil es der Lebensraum verschiedener Arten ist, die auf dem Grund des Flusses leben. Die Vorgehensweise macht mir Sorgen, denn das Amazonasgebiet ist ein Erbe für die ganze Welt“, sagt der Umweltingenieur Abad.

Der Amazonas-Experte Alberto Chirif formuliert seine Bedenken etwas weniger neutral: „Ist dieses Projekt Ausdruck von guten Absichten – die Schifffahrt auf den Flüssen zu verbessern –, welche lediglich ohne jegliche Kenntnisse über die Dynamik der Flüsse und die wirtschaftliche und soziale Situation im Amazonasgebiet formuliert wurden, oder ist es vielmehr – wie die Interoceanica Sur – eine Initiative, deren Zweck sie selbst ist, sowie die Gelder, die unter dem Tisch bezahlt werden, um die Erwartungen der Firmen und die Gier der Beamten zu befriedigen?

Spätestens wenn – voraussichtlich im November dieses Jahres – die Umweltverträglichkeitsstudie abgeschlossen ist, wird das Projekt in die nächste heisse Phase gelangen.


Flurina Doppler (Ethnologin, Fachkraft von Comundo beim Forum Solidaridad Perú


1 http://www.servindi.org/actualidad-noticias/07/03/2018/hidrovia-amazonica-malos-calculos-u-otro-cuento-como-la-interoceanica

2 In einer Machbarkeitsstudie, die das Transportministerium 2005 für das Teilstück Yurimaguas bis zum Zusammenfluss von Huallaga und Marañón erstellte, werden die Investitionskosten (für die Ausgrabungen und die Signalisierungen) sowie die Unterhalts- und Betriebskosten dem prognostizierten Nutzen gegenübergestellt. Die Möglichkeit von negativen wirtschaftlichen Effekten wie beispielsweise Einkommens- (und Ernährungs-) Einbussen wegen vermindertem Fischbestand oder dem Ausfall von Landwirtschaftsproduktion wegen Überschwemmungen wurden in die Berechnung nicht einbezogen. Ebenso wenig potenziell negative Auswirkungen auf den lokalen Handel wegen zu hoher Gebühren für die Schiffe.

3 Gegenstand der Konsultation waren die vom Transportministerium vorgeschlagenen Vorgaben (Terms of Reference) für die Erarbeitung der Umweltverträglichkeitsstudie.

4 Ein Konsortium der chinesischen Firma Sinohydro Corporation Ltd. und der peruanischen Firma Construcción y Administración S.A.