10 Jahre nach dem „Baguazo“

Am 5. Juni 2009 kamen in Bagua rund 30 Menschen ums Leben beim Zusammenstoss zwischen Indigenen und peruanischer Polizei. Welche Lehren Peru daraus gezogen hat oder auch nicht, erklaert Alicia Abanto.

Am 5. Juni 2009 verursachte die Verantwortungslosigkeit der damaligen peruanischen Regierung eines der bedauernswertesten Vorkommnisse Perus: die Tragödie von Bagua. Auch wenn seitdem 10 Jahre vergangen sind, so sind die Probleme, die damals den Konflikt auslösten, bei weitem nicht verschwunden.

Auch die Rechte der indigenen Völker sind noch nicht vollständig anerkannt. Wir veröffentlichen dazu ein Interview, das Noticias SER mit Alicia Abanto Cabanillas geführt hat. Alicia Cabanillas ist bei der staatlichen Ombudsstelle Defensoría del Pueblo für Umwelt, öffentliche Dienstleistungen und indigene Völker zuständig.

Inwieweit hat es Fortschritte gegeben bei der Durchsetzung von Rechten und Forderungen der indigenen Völker nach den Ereignissen von Bagua vor 10 Jahren?
Alicia Abanto, staatliche Ombudsstelle Defensoria del Pueblo. (© noticiasser.org)

Alicia Abanto: Wir können drei Aspekte nennen: Zum einen sind die Rechte der indigenen Völker sichtbarer geworden. Der Staat – sowohl die Exekutive als auch die Judikative – nehmen sie heute ernster. Zum Beispiel wurde in diesen Jahren eine landesweite Richtlinie für Interkulturelle Gesundheit verabschiedet, ebenso ein landesweiter Bildungsplan für zweisprachige interkulturelle Erziehung und bei den Gerichten wurde eine Stelle eingerichtet, die für einen besseren Zugang bei Themen der interkulturellen Justiz sorgen soll.

Zweitens sind wir bei der Implementierung staatlicher Dienstleistungen weitergekommen, zum Teil sind sie noch in einer Anfangsphase, denn staatliche Dienstleistungen in die Selva zu bringen, ist sehr aufwendig. Der Staat investiert hier immer mehr, aber die Fortschritte sind sehr langsam.

Und drittens sind wir von einer Etappe der gewaltsamen Auseinandersetzung ohne Dialog zu einer Auseinandersetzung mit Dialog gekommen. Die Dialogprozesse erlaubten, mit den indigenen Völkern Übereinkünfte zu schließen bei Themen wie der Vorabkonsultation oder in den verschiedenen Runden Tischen, die nach verschiedenen sozialen Konflikten eingerichtet wurden. Glücklicherweise, ist es nicht mehr zu einer so gewaltsamen Auseinandersetzung wie in Bagua gekommen.

Und in welchen Aspekten hat sich nichts oder nur wenig getan?

Bei der Titulierung von Kollektivland gibt es einen grossen Rückschritt. Mehrere Jahre lang gab es praktisch keine staatliche Titulierungspolitik, und erst seit 3 Jahren wurde die Titulierung wieder angegangen. Auch wenn sie jetzt über die Mittel verfügen, so geht da doch recht wenig voran, wir hoffen, dass sich das bald ändert.

Ein anderes Thema ist die Vorabkonsultation bei Investitionsprojekten in Bezug zu den verpflichtenden Umweltstudien. Dort gab es praktisch keine Fortschritte, aus Angst und Widerstand in den Ministerien, die Vorabkonsultation gleichzeitig zum Prozess der Abnahme der Umweltstudien durchzuführen.

Ein drittes Thema ist, wie bereits gesagt, die schleppende Ausweitung staatlicher Dienstleistungen, wie Trinkwasser und Gesundheit, welche die Unversehrtheit der indigenen Völker garantieren.

Was bedeutete der „Baguazo” in Bezug auf das Fehlen von Interkulturalität?

Es bedeutete ein vollständiges Scheitern jener, die damals an der Macht waren und die Möglichkeit hatten, den Konflikt anders anzugehen. Sie taten gerade das Gegenteil dessen, was notwendig wäre, um einen konstruktiven, auf gutem Glauben basierenden Dialog zu fördern, einen demokratischen Dialog in einem vielsprachigen und multikulturellen Land mit hoher Ungleichheit, in dem die indigenen Völker systematisch ausgeschlossen und diskriminiert werden.

In einem Kontext von derartiger Ungerechtigkeit, stellt das, was in Bagua geschah, ein Scheitern unseres demokratischen Zusammenlebens dar. Dennoch bin ich der Meinung, dass die darauf folgenden Regierungen der letzten 10 Jahre etwas gelernt haben und, jede Regierung auf ihre Art, eine dialogfähigere Haltung zu den indigenen Völkern zeigten. Das soll man auch anerkennen.

Was ist Deine Bilanz zur Umsetzung der Vorabkonsultation?

Die Exekutive hat eine Reihe von Richtlinien konsultiert. Zum Beispiel in der Bildung, interkultureller Gesundheit und bei Naturschutzgebieten. In diesen Konsultation kam es zu guten Vereinbarungen.

Wir sehen aber auch, dass bis heute, keiner der 45 Konsultationsprozesse im Rahmen der Umweltstudie eines Megaprojektes stattgefunden hat. Die Regierung hat der Umweltbehörde SENACE keine Kompetenz gegeben, um die Konsultationen gleichzeitig zum Evaluationsprozess der Investitionsprojekte durchzuführen.

In der Exekutive gibt es keine politische Entscheidung für solche Massnahmen. Andererseits bittet die Ombudsstelle das Kulturministerium darum, eine Richtlinie zu stoppen, welche die Nicht -Durchführung der Vorabkonsultation bei öffentlichen Infrastruktur-Megaprojekten akzeptiert. Dies ist wichtig, denn die Rechte der indigenen Bevölkerung werden direkt davon betroffen, und die Konsultation findet nicht zu dem Zeitpunkt statt, den das Gesetz vorsieht.

Was kannst Du sagen, wie das Energie- und Bergbauministerium, das Kulturministerium und das Transportministerium die Vorabkonsultation umsetzen?

Es gibt positive Beispiele. so haben das Bildungs- und das Gesundheitsministerium eine Konsultation durchgeführt über die Richtlinine und Pläne, die eine direkte Auswirkung auf die indigenen Völker haben. Aber andere Ministerien, wie zum Beispiel das Energie- und Bergbauministerium, das Transportministerium und sogar das Kulturministerium, haben hier bisher nicht denselben Eifer gezeigt.

Wir beanstanden dies, denn in diesen Ministerien wurden Normen verabschiedet, welche die Nicht-Durchführung der Konsultation zum richtigen Zeitpunkt gutheissen.

Und das Umweltministerium?

Wir sehen mit Sorge, dass das Umweltministerium nicht fordert, dass die Vorabkonsultation Teil der Umweltevaluation wird. Das heisst, dass all diese Ministerien etwas ändern müssen in Bezug auf ihre Haltung zur Vorabkonsultation. Es ist eine politische Entscheidung, die nicht getroffen wird, wie sie sein sollte.

Einige Organisationen indigener Völker fordern, dass die Gesetzesvorlagen im Parlament, die mit ihren Rechten zu tun haben, ebenfalls einer Vorabkonsultation unterzogen werden. Wie steht es um diese Forderung?

Leider hat das Parlament seit 2011 keine Konsultation mehr durchgeführt, und hat sein eigenes Parlament auch nicht dahingehend geändert, dass die Konsultation ein Teil des parlamentarischen Procederes wird. Das Parlament hat in diesen Jahren den indigenen Völkern sehr wenig Beachtung geschenkt. Seit der Verabschiedung des Gesetzes zur Vorabkonsultation (im Jahr 2011, d.Red.) hat das Parlament keine Gesetze verabschiedet, die für die Kollektivrechte der indigenen Völker spezifisch oder relevant sind.

Was unternimmt die staatliche Ombudsstelle Defensoría del Pueblo gegen diese Mängel?

Wir haben eine grosse Zahl von Empfehlungen ausgesprochen, nur zum Thema der Vorabkonsultation sind es über 50. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass auch die Regional- und Lokalregierungen Gelder für die Belange der indigenen Völker zur Verfügung stellen müssen. Ausserdem muss die Beteiligung der indigenen Frauen in den Konsultations- und Dialogprozessen und bei der Rechtsausübung besser gewährleistet werden. Die Gesetzgebung für indigene Völker hat keine Gender-Komponente, das ist sehr beunruhigend. Wir müssen die Gesetzgebung daraufhin durchleuchten, um die indigenen Frauen besserzustellen.


Spanisches Original des Interviews: http://www.noticiasser.pe/index.php/entrevista/alicia-abanto-lo-ocurrido-en-bagua-fue-un-fracaso-para-nuestra-vida-democratica

Übersetzung: Hildegard Willer