Ana Estrada (© Jessica Alva Piedra)

Revolution mit einem Finger

Ana Estrada hat als erster Mensch in Peru das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstritten – gerade weil sie ihr Leben so liebt. Ein Protokoll ihres Kampfs um Freiheit.

Auf ihren großen Tag hat sich Ana Estrada lange vorbereitet. Sie hat zuerst im Kopf ihre Rede ausgearbeitet und dann mit dem rechten Zeigefinger in ihr Tablet getippt, dem einzigen Finger, den sie noch bewegen kann. Ihre Assistentin Zulma hat das Beatmungsgerät abgeschaltet, dann die Kanüle immer wieder aus Ana Estradas Luftröhre geholt und den Schleim abgesaugt. Dann hat sie eine neue Kanüle eingesetzt und sie mit einem Stöpsel verschlossen. Für rund zehn Minuten kann Ana Estrada jetzt unter großen Anstrengungen reden. Dann muss ihre Luftröhre wieder abgesaugt werden.

Es ist der 7. Januar 2021. Vor einer Fernseh-Kamera und mit ihrem Tablet auf dem Bett erklärt Ana Estrada per Videoanruf dem Richter und ihrer Fangemeinde in den sozialen Netzwerken, warum sie selber bestimmen will, wann und wie ihr Leben zu Ende gehen soll.

„Ich bin Ana Estrada, bin 44 Jahre alt. Mit zwölf Jahren bekam ich die Diagnose Polymyositis, eine progressive irreversible Muskelkrankheit“, beginnt sie ihre Rede vor dem Landesverfassungsgericht (11. Juzgado Constitucional de la Corte Superior de Justicia de Lima) mit krächzender Stimme.

 

Beim Rockkonzert sang Ana Estrada in der ersten Reihe mit

Als ich Ana Estrada vor sieben Jahren kennenlernte, krächzte ihre Stimme auch. Am Abend vorher hatte sie sich beim Konzert von The Cure die Seele aus dem Leib geschrien, zusammen mit Tausenden von Fans im Fußballstadion von Lima. „Als Rollstuhlfahrerin habe ich einen Platz ganz vorne bekommen“, hatte sie stolz erzählt. Ana konnte damals schon nur noch ihre rechte Hand bewegen. Aber dies reichte, um ihren Rollstuhl, Handy und Tablet zu bedienen. Oder ihre Lippen nachzuziehen, wenn jemand ihr einen Spiegel vor ihr Gesicht mit den haselnussbraunen Augen hielt. Sie konnte sprechen, lachen, einen Pisco Sour mit Strohhalm trinken, essen, was ihr schmeckt – und ihr eigenes Geld verdienen.

Als Psychotherapeutin half sie Menschen dabei, sich auf ihre Stärken zu besinnen. Sie lebte in einer eigenen Wohnung zusammen mit einer Assistentin, die ihr bei den Alltagsverrichtungen half. Ihre Lebenslust und ihr Wille zur Unabhängigkeit waren ungebrochen und beeindruckten mich sehr.

Ana Estrada sitzt seit 24 Jahren im Rollstuhl. Heute sind ihre Muskeln so geschwächt, dass sie nur noch ein paar Stunden täglich sitzen kann. Foto: Jessica Alva Piedra

 

Horror-Zeit im Krankenhaus

Vier Jahre später, 2017, traf ich Ana zufällig auf der Straße wieder. Sie war in ihrem elektrischen Rollstuhl unterwegs, in Begleitung ihrer Assistentin. Sie hatte nun ein Loch mit einem Stöpsel in ihrer Luftröhre und konnte nur sehr leise und mühsam erzählen, was ihr in den vergangenen beiden Jahren passiert war. Wie ihr unabhängiges Leben zu Ende ging, als die Krankheit auch ihre Atemmuskeln angriff.

Im Jahr 2015 musste sie auf die Intensivstation des staatlichen Krankenhauses verlegt werden. Ärztinnen schoben ihr einen Schlauch durch die Luftröhre und schlossen sie an eine Beatmungsmaschine an.

Über diese Zeit schreibt sie später in ihrem Blog “Ana: Für Sterben in Würde”:

Es ist meine erste Nacht auf der Intensivstation. Ich habe einen Schlauch im Mund und kann nicht sprechen. Ich weiß nicht, wie spät es ist, ich wurde in einen anderen Raum verlegt, weil ich sehr „unruhig“ sei. Jetzt bin ich weit weg von den anderen Patientïnnen. Hier ist alles dunkel, und auf einmal höre ich die Stimmen meiner Mutter, meines Bruders, meiner Freundinnen. Stimmen, die sich überlappen und keinen Sinn ergeben.

Ich habe eine Panikattacke.

Ich höre einen Radiosender, und dasselbe Lied läuft immer und immer wieder.

Unfreiwillig beiße ich auf den Schlauch, will ihn ausspucken. Ein Alarm geht los. „Ana, beiß nicht auf den Schlauch“, sagt eine Krankenschwester und schaltet den Alarmknopf aus.Ich konzentriere mich und beiße nicht mehr. Ich habe Angst, dass die Krankenschwester mich schimpft.

Das Radio und die Stimmen machen mich wieder verrückt. Jetzt kommt ein Arzt im Praktikum und will mich abhorchen. Ich weiß, es ist eine Fantasie. Nicht wirklich.

„Ana, wenn du weiterhin auf den Schlauch beißt, muss ich dir eine „boca de mayo“ (Anm. eine Art Beißschiene) anlegen.“ Was ist das? Was will die mir antun? Ist die Krankenschwester wirklich? Ich konzentriere mich.

Die Stimmen und der Klang des Liedes, das sich immer wiederholt, werden stärker, und ich lenke mich ab und erschrecke. Ich erschrecke mich zu Tode. Ich weiß nicht, ob meine Augen geschlossen oder offen sind. Ich weine. Speichel läuft aus meinem Mund, den ich nicht schlucken kann, weil der Schlauch mich daran hindert. Ich bin in einem Horrorfilm.

Mir kommen Bilder aus den Filmen Johnny zieht in den Krieg (1971) und Der menschliche Tausendfüßler (2009) in den Sinn. Ich fühle mich gefangen und erniedrigt von der Krankenschwester. Ich kann nicht klar sehen. Ich kann nicht schreien. Ich bin an meinen eigenen Körper angenäht. (Blogeintrag vom 13.01.2020)

Nach der Horror-Zeit auf der Intensivstation ändert sich Ana Estradas Leben komplett. Sie darf das Krankenhaus verlassen, aber ihre Wohnung wird zu einer Intensivstation umfunktioniert. Sie hat ein Loch in der Luftröhre, dort ist ihre Beatmungsgerät angeschlossen. Eine Sauerstoffflasche für besonders schwere Attacken steht neben ihrem Bett. Tag und Nacht betreut sie eine Krankenschwester.

Ana Estrada kann nicht mehr sprechen und muss ihre Arbeit als Psychotherapeutin aufgeben. Ihre betagten Eltern ziehen zu ihr in die Wohnung. Ihren geliebten Kater Amaru muss sie verschenken, weil „eine Katze sich nicht mit einer Intensivstation verträgt“, wie sie per Whatsapp schreibt.

Wer in Peru beim Sterben hilft, macht sich strafbar

Während sich ihre Außenwelt immer mehr reduziert auf ihr Krankenzimmer, reift in ihr die Klarheit heran, dass sie nie mehr eine solch fremdbestimmte Horror-Zeit in einem Krankenhaus verbringen möchte. Vor drei Jahren fragt sie schließlich zaghaft einen befreundeten Juristen, ob ihr jemand dabei behilflich sein könne, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wenn es denn soweit sein würde. „Hier in Peru unmöglich”, ist dessen Antwort. In Peru gilt der Artikel 112 des Strafgesetzbuchs: „Wer aus Mitleid einen unheilbar Kranken tötet, der ihn ausdrücklich darum bittet, und im Bewusstsein, damit seinem unerträglichen Leiden ein Ende zu setzen, wird mit einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als drei Jahren bestraft.“

Doch Ana Estrada wäre nicht Ana Estrada, wenn sie sich damit zufrieden gäbe. „Wahrscheinlich hätte ich verdeckte Sterbehilfe organisieren können, aber ich habe nie etwas heimlich getan. Dies ist nicht meine Art“, sagt sie im Whatsapp-Interview. Deshalb beginnt Ana Estrada mit dem zu kämpfen, was ihr geblieben ist: ihr glasklarer Verstand, ihre innere Stärke, ihr Talent zu schreiben und in Kontakt zu treten, ihr Tablet, Internet, ein Finger zum Tippen.

Ihr Blog macht Ana Estrada berühmt

Am 17. Januar 2019 gibt sie sich der Welt zu erkennen mit ihrem Wunsch „Ana sucht den würdevollen Tod“. Ihr Blog „Ana. Por una muerte digna“ (dt. Ana. Für Sterben in Würde) ist geboren.

„Ich hatte große Angst, wie meine Umgebung reagieren würde, aber allen gefiel dieser erste Text und sie ermutigten mich, weiter zu machen. Die Sache wuchs, und nach und nach verlor ich die Furcht, dank der Menschen die mich begleiteten und mir Mut machten“, schreibt Ana Estrada.

Schnell werden die Medien auf Anas Geschichte aufmerksam –und durch sie eine junge Fotografin. Jessica Alva ist 32 Jahre alt und auf der Suche nach einem Abschlussprojekt für ihr Fotografie-Studium, als sie von Ana Estrada in einer peruanischen Zeitschrift liest. Sie schlägt ihr vor, sie fotografisch zu begleiten. Ana Estrada willigt ein. Das ganze Jahr 2019 besucht Jessica Alva sie mindestens zweimal pro Woche. Zuerst dokumentierte sie ihre Leben, die täglichen Verrichtungen. Oft bleibt sie nach den Aufnahmen noch zum Plaudern. So entstand die Idee, Ana Estrada in von ihr selbst gewünschten Porträts in Szene zu setzen.

Foto: Jessica Alva Piedra

Mit Aktfotos den geschundenen Körper zurückerobern

Ana Estrada hat sichtlich Spaß daran. Sie zeigt immer mehr von ihrem Körper, lässt sich ihre Arme bemalen, veröffentlicht Fotos ihres nackten Körpers in den sozialen Netzwerken und in einem Film der Deutschen Welle und reflektiert darüber in ihrem Blog.

Ich zeige meinen Körper, weil er für mich literarisches Material ist. Genauso wie mein Schreiben ist es das Authentischste, was ich habe. Diese beiden Waffen haben mich zu einer freien Frau ohne Scham gemacht. Davor gibt es kein Zurück. Wenn eine Frau sich ihres Körpers und ihres Begehrens bemächtigt, dann hält sie niemand auf. Aber wenn eine Frau mit körperlichen Einschränkungen und zwei Fremdkörpern in ihrem Körper sich öffentlich zeigt, dann kann sie unbequeme Fragen und sogar Zensur und Zurückweisung hervorrufen. Denn für die Gesellschaft ist eine Frau mit Behinderung asexuell, ohne Begehren, sie ist keine Frau, sondern ein Mädchen.

Während Ana Estradas Kampf für einen selbstbestimmten Tod sie immer mehr zu einer öffentlichen Person macht, drehen sich die Fotosessions mit Jessica Alva im Zimmer von Ana Estrada um das genaue Gegenteil, um Intimität. Und um Leben. „Ich suchte nicht den Tod, sondern die Schönheit, den Körper, die Erotik“, erzählt die junge Fotografin.

Ana Estrada und ihre Pflegerin kugeln sich vor Lachen auf dem Bett. Foto: Jessica Alva Piedra

Zu erleben, wie Ana Estrada sich ihren versehrten Körper mittels der Fotografie und der Literatur zurückeroberte, hat tiefen Eindruck bei Jessica Alva hinterlassen. „Ihre Suche danach, wie sie sich mit ihrem Körper ausdrücken kann, hat mich fasziniert. Denn es sind auch meine Fragen: Was bedeutet es, in einem Körper zu wohnen, was bedeutet Freiheit?“

Das Jahr, in dem sie Ana Estrada fotografiert hat, ist Jessica Alva unvergessen: „Dass ich Anas mentale Stärke, ihre Klarheit im Ausdruck und ihre Widerstandskraft so nahe erleben durfte, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit und Bewunderung.”

Zwei Jahre vom ersten Blogeintrag bis zur Anhörung

Ana Estradas Stimme, als Worte mit dem Zeigefinger in das Tablet getippt, finden immer mehr Gehör. Jeden Tag solidarisieren sich Menschen auf Facebook, Twitter und Instagram mit Ana Estradas Anliegen. Die peruanische Ombudsstelle nimmt sich ihres Falles an und beantragt einen Schutzmechanismus (span. acción de amparo) für Ana Estrada beim Verfassungsgericht.

In ihrem Fall, argumentiert der Ombudsmann, sollte der Artikel 112 des Strafgesetzbuches nicht zur Anwendung kommen, weil Ana Estradas Recht auf einen würdigen Tod Teil des in Artikel 1 der peruanischen Verfassung verankerten Rechts auf ein Leben in Würde sei.

Am 7. Januar 2021, zwei Jahre nachdem Ana Estrada zum ersten Mal mit ihrem Blog in die Öffentlichkeit getreten ist, kommt ihr großer Tag. Das Verfassungsgericht wird Ana Estradas Antrag auf selbstbestimmtes Sterben anhören.

Zulma, ihre Krankenschwester, hat ihre Lunge abgesaugt. Die Rede ist vorbereitet. Fotografin Jessica Alva ist gekommen, um den Moment zu dokumentieren. Der Ombudsmann spricht sein Plädoyer vor dem Verfassungsgericht. Ana Estrada erzählt in den zehn Minuten, die ihre Atemmuskeln ihr zugestehen, warum ihre Lebensgeschichte in den Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod mündet.

Foto: Jessica Alva Piedra

Das Urteil bringt ihr Freiheit

Am 22. Februar 2021 verkündet das Landesverfassungsgericht sein Urteil. Es weist das Gesundheitsministerium an, Ana Estradas Wunsch auf selbstbestimmten Tod zu respektieren. Keine Instanz legte Berufung ein. Nur das Oberste Verfassungsgericht muss das Urteil noch absegnen.

Für das sonst so konservative Peru ist dies ein revolutionäres Urteil. Als zweites lateinamerikanisches Land nach Kolumbien hat Peru das Recht auf einen würdigen Tod bekräftigt. Ana Estradas beharrlicher Kampf, geführt mit einem Finger vom Krankenbett aus, hat wenige Menschen unberührt gelassen. Inzwischen ist auch ein Gesetzesvorschlag im Kongress eingebracht worden, der das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zum Gesetz erheben soll.

Paradoxerweise ist in Peru, in dem so viele Menschen jemand Geliebten an das Coronavirus verloren haben, gerade der Erfolg Ana Estradas auf einen selbstbestimmten Tod einer, der Mut und Hoffnung gibt. Ihre Anwältin Josefina Miró Quesada Gayos von der Ombudsstelle schreibt dazu im Rechts-Blog Justicia en las Américas„Das Urteil erkennt an, dass die Menschenwürde über dem (biologischen) Leben steht, im Einklang mit Artikel 1 unserer Verfassung.”

Für Ana Estrada bedeutet das Urteil vor allem eins: „Jetzt bin ich frei. Mein Kampf war immer einer auf das Recht, wählen zu dürfen.“

Ob sie deprimiert sei und deshalb sterben wolle, sei sie oft gefragt worden. Ihre Antwort im Blog, eine Woche nach der Anhörung vor dem Verfassungsgericht:

Wie könnte ich deprimiert sein und zugleich diese große Kampagne aufrecht erhalten, die mit der Zeit gewachsen ist und immer größere Kreise gezogen hat? Ich liebe das Leben. Ich achte es. Ich liebe und werde geliebt.

————————–

Text: Hildegard Willer

Blog-Auszüge: Ana Estrada (übersetzt von Hildegard Willer)

Fotos: Jessica Alva Piedra

Der Beitrag erschien zuerst auf der Plattform freier Journalisten www.riffreporter.de