Die Kriminalitätsrate in Peru nimmt immer weiter zu – und die Regierung scheint keinen Plan zu haben, um dagegen vorzugehen. Ein Überblick über die aktuelle Situation und mögliche Lösungsansätze.
Die Situation
Am 7. Oktober werden in Callao sieben Combi-Fahrer getötet. Am 8. Oktober gibt es in Lima sieben tödliche Angriffe in weniger als 12 Stunden. Am 3. November werden in Chorrillos zwei Busse mit Benzin übergossen und in Brand gesetzt, weil die Fahrer die geforderten Schutzgelder nicht bezahlt hatten. In Villa El Salvador wird ein mit Fahrgästen besetzter Bus der Linie 40 beschossen.
Dies sind nur wenige Schlaglichter auf eine traurige und dramatische Entwicklung: Die Kriminalität in Peru nimmt rasant zu, und die Regierung hat keinen Plan, dem entgegenzuwirken.
Die Fälle von Erpressung haben sich laut Angaben der Staatsanwaltschaft zwischen 2021 und 2023 vervierfacht, auf mehr als 22.000 pro Jahr. Sie finden in allen Landesteilen und Wirtschaftszweigen statt: in großen, mittleren und kleinen Betrieben, in Subsistenzbetrieben und sogar in Volksküchen. Und sie richten sich nicht etwa gegen wirtschaftlich starke Unternehmen, sondern hauptsächlich gegen Kleinunternehmer*innen in den Peripherien, wo es kaum staatliche Kontrollen gibt. Nach Gewerkschaftsangaben werden mindestens 40 Prozent der innerstädtischen Verkehrsunternehmen und 60 Prozent der Lebensmittelläden und Minimärkte von kriminellen Banden erpresst. Einer Studie des Menschenrechtsinstituts der Katholischen Universität IDEHPUC zufolge werden sogar sieben von zehn Busfahrer*innen erpresst. Von Bauunternehmern verlangen die Erpresserbanden durchschnittlich 15.000 Soles (3.600 Euro) pro Monat, heißt es in der Studie weiter. Rund 50 Prozent der 23.000 Ladenbesitzer*innen zahlen angesichts der Morddrohungen die Schutzgelder. Der wirtschaftliche Schaden der Erpressungen wird auf sechs Milliarden Soles (1,45 Milliarden Euro) geschätzt.
Anzeigen wegen Erpressung haben sich seit 2021 fast vervierfacht. 2023 gab es mehr als 22.000 Anzeigen, für 2024 wird eine weitere Zunahme erwartet. Schätzungen zufolge wird aber nur ein Viertel der Erpressungsfälle angezeigt. Die meisten Opfer verzichten auf eine Anzeige, einige aus Angst, andere, weil sie der Polizei misstrauen. Es gab auch Fälle, in denen die Erpresser von der Anzeige erfuhren und ihre Forderungen verdoppelten.
Die Streiks
Ein landesweiter Streik mobilisierte am 10. und 11. Oktober mobilisierte Tausende von Bürger*innen in Lima und anderen Regionen des Landes. Sie protestierten gegen die Unfähigkeit und die Mitschuld der Behörden an dieser Situation, forderten die Rücknahme des neuen Gesetzes zur organisierten Kriminalität sowie konkrete Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung. Transportarbeiter*innen, Lebensmittelhändler*innen, Ladenbesitzer*innen und Angehörige von Opfern der Proteste gegen Dina Boluarte demonstrierten in Huánuco, Junín, Piura, Huancavelica, Puno und Lima, wo sich auch viele Studierende beteiligten.
Die öffentlichen Verkehrsbetriebe in Lima, Callao und in einigen anderen Regionen des Landes stellten ihren Betrieb fast vollständig ein, um von der Regierung konkrete Maßnahmen gegen Erpressung und die zunehmende Kriminalität zu fordern. Etwa 13.000 Polizist*innen und 4.000 Soldat*innen sicherten das historische Zentrum. Im Norden Limas kamen sogar Panzer und Hubschrauber zum Einsatz.
Ende Oktober blockierten Tausende Landarbeiter*innen aus der Agrarexportindustrie an fünf Punkten die Panamericana, die wichtigste Verbindungsstraße des Landes. Auch sie protestierten gegen Erpressung und Gewalt. Bei den Protesten kam es zu Gewalt zwischen Demonstrierenden und Polizei, auf beiden Seiten gab es Verletzte. Die Blockaden erzeugen laut Handelskammer täglich Verluste in Höhe von 7,3 Millionen Euro.
Mitte November gab es erneute Proteste, zu denen mehr als 200 Organisationen von Transportunternehmen, Händler*innen und Studierenden aufgerufen hatten. Die Demonstrationen fanden während eines Treffens des wichtigen Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums APEC statt. Präsidentin Boluarte fürchtete im Vorfeld, die Sicherheit des internationalen Treffens nicht garantieren zu können, und forderte die Unterstützung von 600 mit Kriegswaffen ausgestatteten US-Soldaten an. Premierminister Gustavo Adrianzén forderte indes, dass es während des Gipfels keine Proteste geben dürfe. Und Regierungssprecher Fredy Hinojosa sprach von „Landesverrätern”, die das internationale Ereignis verhindern wollten. Kurz entschlossen erklärte Boluarte dann die drei Tage des APEC-Treffens zu arbeitsfreien Tagen in der Hoffnung, so die Proteste kleinzuhalten. Dies konnte jedoch weder Demonstrationen in Lima, Piura, Trujillo und Nuevo Chimbote noch neuerliche Blockadeaktionen in Junín, Ica, Arequipa, Cusco und Puno verhindern.
Während der Demonstrationen kam es zu willkürlichen Festnahmen. Die Polizei setzte Tränen-gasbomben gegen friedlich Demonstrierende ein. Und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Gewerkschaftsführer*innen, was die Menschenrechtsorganisation Coordinadora Nacional de Derechos Humanos als „Teil einer Strategie der Verfolgung von Personen, die ihr Recht auf friedlichen Protest wahrnehmen“ kritisierte.
Die Ursachen
Wie kam es zu dieser Zuspitzung der Situation, wer ist verantwortlich?
Die Kriminalwissenschaftlerin Sofía Vizcarra Castillo sieht einen direkten Zusammenhang mit der Verabschiedung des neuen Gesetzes gegen das organisierte Verbrechen (Ley 32108) im Juli. Erpressung gilt seither nicht mehr als ein Verbrechen der organisierten Kriminalität. Das verhindert den Einsatz spezieller Ermittlungsmethoden und erschwert die Bekämpfung dieser Delikte. Denn mit dem neuen Gesetz gelten nur noch Gruppen als kriminelle Vereinigung, die Straftaten begehen, welche mit einer Strafe von mehr als sechs Jahren geahndet werden. Damit sind Korruption, Einflussnahme, Erpressung, Entführung und Menschenhandel ausgenommen. Außerdem dürfen Durchsuchungen nur noch in Anwesenheit der Person, gegen die ermittelt wird, und ihres Anwalts durchgeführt werden. Also muss die Durchsuchung vorher angekündigt werden, womit den Tätern die Beseitigung von Beweisen erleichtert wird.
Doch diese Entwicklung dauert schon länger an. Analyst*innen machen dafür unter anderem die politische Instabilität der Regierung verantwortlich. Seit dem Amtsantritt von Dina Boluarte hat es sieben Innenminister gegeben, was eine hohe Fluktuation bei den stellvertretenden Minister*innen, Büroleiter*innen und anderen hohen Beamt*innen zur Folge hatte. Auch der oberste Polizeikommandant wurde dreimal ausgewechselt.
Dazu kommt, dass die personelle und sachliche Ausstattung der Polizei äußerst prekär ist. Von den knapp 18.000 Fahrzeugen der Nationalpolizei ist fast die Hälfte nicht einsatzfähig. 44 Prozent der Polizeikommissariate fehlt die Grundausstattung, um ordentlich arbeiten zu können. Ein wesentlicher Faktor ist außerdem die Korruption. Gegen 25.000 bis 27.000 Polizeibeamte – je nach Quelle – wurden wegen unterschiedlicher Delikte Disziplinar- oder Strafverfahren eingeleitet. Nicht wenige Polizeibeamt*innen arbeiten mit den kriminellen Banden zusammen.
Ein Polizeibeamter, der anonym bleiben will, sieht das Problem im mangelnden Interesse in den Führungsetagen von Polizei und Innenministerium, die polizeiliche Aufklärung zu stärken. „Die Nationalpolizei verfügt über Ressourcen, setzt diese aber nicht richtig ein. Das Kriminalitätsgeschehen hat uns überrollt, weil wir technologisch nicht mit der Technologie der Kriminellen mithalten können.“ Von Juni bis August 2024 sind die Polizeieinsätze gegenüber dem Vorjahr sogar deutlich zurückgegangen.
Es scheint fast, als habe die Polizei resigniert. Es gibt zahlreiche Zeugen, die berichten, dass sie, wenn sie zur Polizei gingen, um eine Erpressung anzuzeigen, die Antwort erhielten, „Zahlt lieber, die Polizei kann da nichts machen.“
Sehr viel grundsätzlicher fällt die Analyse von Rudecindo Vega Carreazo auf der Plattform OtraMirada aus. Er ist der Überzeugung, dass die Situation der Unsicherheit nur ein „Symptom eines ernsteren Leidens“ ist, nämlich der strukturell verankerten Kriminalität. Verantwortlich seien die Mafias in der Politik, die die Institutionen kontrollieren und behaupten, die Kriminalität zu bekämpfen, tatsächlich aber selbst Komplizen und Verbündete des Verbrechens sind. Peru sei keine Demokratie mehr sondern eine Kriminokratie, kein Rechtsstaat, sondern ein Verbrechensstaat, so Vegas schonungslose Analyse. Heute gebe es „drei Perus“: das kriminelle Peru, das sich der Wirtschaft, der Straße und der Regierung bemächtigt hat; das formelle Peru, das sich im kriminellen eingerichtet hat und gegen das informelle vorgeht; und das informelle Peru, das gegen die beiden anderen kämpft und/oder sich ihnen anpasst.
Strategien und Lösungen
Was tun?
Viele setzen in dieser Situation auf eine starke Hand, einen Führer, der der Unsicherheit ein Ende setzt, auch wenn dabei Menschenrechte nicht respektiert werden. Die Vorschläge beschränken sich in der Regel auf den Bau neuer Gefängnisse, Militärpatrouillen in den Straßen, höhere Strafmaße, die Verhängung des Ausnahmezustands und die Ausweisung der Venezolaner*innen, die oft als verantwortlich für den Anstieg der Kriminalität gelten.
Die Regierung reagierte bisher vor allem mit der Verhängung des Ausnahmezustands – bereits drei Mal, zuletzt am 27. September in 14 Bezirken Limas und in einem in der benachbarten Hafenstadt Callao. Dennoch kam es zu keinem Rückgang der Verbrechensrate.
Außerdem legte die Regierung einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung des „urbanen Terrorismus“ vor. Er sieht eine Erhöhung des Strafmaßes für Erpressung und Auftragsmorde vor. Außerdem sollen neu alle Ermittlungen gegen Polizisten wegen Handlungen während eines Ausnahmezustands vor den Militärgerichten und nicht vor den Strafgerichten verhandelt werden.
Der Wissenschaftler Wilson Hernández hält nichts von diesen Plänen. Studien hätten nachgewiesen, dass sich Kriminelle nicht von der Härte der Strafen abschrecken lassen. Eine Erhöhung der Zahl der Festnahmen könnte seiner Überzeugung nach eine größere abschreckende Wirkung haben. „Was getan werden muss, ist, staatliche Maßnahmen sowie die Polizei zu stärken und sie mit einem Budget auszustatten. Es muss eine ernsthafte Säuberung der Polizei durchgeführt werden. Denn wie will sie Verbrechen verfolgen, wenn es viele Polizist*innen gibt, gegen die wegen schwerer Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch ermittelt wird“, so Hernández.
Ebenso wichtig wäre die geforderte Aufhebung des neuen Gesetzes 32108, da dann Erpressungsdelikte als organisierte Verbrechen effektiver verfolgt werden könnten, bekräftigt auch der ehemalige Innenminister Avelino Guillén. Nach den Protesten beschloss der Kongress einige Änderungen, nahm das Gesetz aber nicht zurück.
Pilar Arroyo vom Instituto Bartolomé de las Casas macht Vorschläge für sehr konkrete Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung:
- Eine Kontrolle der Verkaufsstellen von gestohlenen Mobiltelefonen, mit denen 70 Prozent der Erpressungen durchgeführt werden. 2023 wurden 1,7 Millionen Mobiltelefone gestohlen, das sind 4.644 pro Tag. Die Verkaufsstellen dieser Handys sind allgemein bekannt, also kennt sie auch die Polizei. Dort finden sich wichtige Kontaktpersonen.
- Eine enge Zusammenarbeit mit dem Bankensektor, über den die Schutzgeldzahlungen abgewickelt werden.
- Eine Polizeireform, die vor allem die Ermittlungsarbeit stärkt. Dafür braucht es eine bessere personelle und materielle Ausstattung.
- Mehr Kontinuität bei den staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung. Voraussetzung hierfür ist mehr politische Kontinuität im zuständigen Innenministerium.
- Verbesserung der Situation von jungen Menschen, insbesondere die Schaffung von beruflichen Perspektiven. 85,4 Prozent der jungen Menschen sind informell beschäftigt.
Rudecindo Vega Carreazo hält wenig von neuen Gesetzen, Regeln und Maßnahmen. Sie könnten wenig oder gar nichts gegen die kriminellen Wirtschaftszweige ausrichten, die massenhaft Arbeitsplätze und neuen Reichtum schaffen. Und sie könnten auch nichts oder nur sehr wenig gegen die kriminellen Banden und Organisationen ausrichten, die bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz ihre Verbündeten haben. Die strukturelle und institutionalisierte Kriminalität lasse sich nicht mit Regeln lösen. Vielmehr brauche es einen neuen Sozialpakt zwischen allen Akteuren. Nur gemeinsam könne es gelingen, den Kriminellen auf der Straße und in der Regierung entgegenzutreten. Dazu müssten sich die „offizielle Welt“ (Unternehmen, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen), gute Politiker*innen und engagierte Bürger*innen zusammenschließen, um die Demokratie und den Rechtsstaat wiederzuerlangen.
Unterdessen greifen immer mehr Betroffene zur Selbsthilfe, da sie nicht mehr darauf vertrauen, dass Polizei und Justiz die Verbrechen verfolgen und verhindern. Beschäftigte in Volksküchen, auf den Märkten und Nachbarschaftsinitiativen verteidigen sich selbst – mit Trillerpfeifen, Stöcken und „Volksgefängnissen“.