In Peru scheint eine Regierungskoalition ihre Machtposition zu festigen, die versucht, eine starke antidemokratische Kontrolle über die Bürger*innen auszuüben. Diese Koalition besteht aus Regierung, Kongress, Streitkräften und Polizei, Wirtschaft, Medien, Staatsanwaltschaft, Justiz und Verfassungsgericht.
Der autoritäre Charakter des Regimes wird dabei immer deutlicher:
1. Das Recht auf Demonstrationsfreiheit wird verweigert.
Dies ist ein wesentliches Recht in jeder Demokratie. Von Anfang an wurde versucht, die im Dezember 2022 begonnenen Proteste zu diskreditieren, indem sie als terroristischer Aufstand dargestellt wurden, der nur Chaos stiften und dem Kommunismus an die Macht verhelfen wolle. In der Folge wurde eine militärisch-polizeiliche Antwort auf ein im Wesentlichen politisches Problem gegeben, nämlich die Forderung nach vorgezogenen Wahlen im Jahr 2023. Der Staat wendete unverhältnismäßig und willkürlich Gewalt an, was von den offiziellen Medien totgeschwiegen wurde. Alternative peruanische und zahlreiche internationale Medien und Organisationen hingegen haben die Gewalt kritisiert.
2. Staatsanwaltschaft und Justiz werden für die Verfolgung von Demonstrierenden und Dissidenten instrumentalisiert.
Den Protestierenden werden Verbrechen vorgeworfen, die sie nicht begangen haben. Der vielleicht willkürlichste Fall ist der von Yaneth Navarro aus Andahuaylas: Sie wurde in Lima verhaftet, weil sie 1.916 Soles für medizinische Versorgung, Lebensmittel und Mobilität der Demonstrierenden verteilt hatte. Sie wurde zu 30 Monaten Untersuchungshaft verurteilt für etwas, das kein Verbrechen ist.
Dieselbe Staatsanwaltschaft und die Justiz haben dagegen nur neun Monate Untersuchungshaft gegen den Kongressabgeordneten Freddy Diaz wegen Vergewaltigung verhängt; und neun Monate Untersuchungshaft gegen die Attentäter, die eine ganze Familie (sechs Personen, in der Nähe der Plaza San Miguel in Lima) ermordet haben. Die Unverhältnismäßigkeit ist offensichtlich und macht deutlich, dass die Verurteilung von Frau Navarro dem politischen Ziel dient, die Demonstrierenden einzuschüchtern.
Der Polizist John Torres Yataco, Mitglied der Spezialeinheit USE, kündigte am Tag nach dem Massaker von Juliaca seine Anstellung bei der Nationalpolizei PNP mit den Worten “Ich schäme mich für das Massaker” und forderte in einem Video Präsidentin Boluarte zum Rücktritt auf. Dafür soll er vor einem Militär- und Polizeigericht zu einer Haftstrafe verurteilt werden. So soll verhindert werden, dass andere Polizisten seinem mutigen Beispiel folgen.
Aus verschiedenen Teilen des Landes, vor allem aus den südlichen Anden, wird von willkürlichen Verhaftungen berichtet. Es werden angebliche Beweise gestreut und Gefängnisstrafen für Personen verhängt, deren einziges “Verbrechen” darin bestand, sich an Demonstrationen zu beteiligen, wie im Fall der vier jungen Männer aus der Gemeinde Cuyo Grande in Pisac, Cusco: Richard Camala (22), Ferdinan Huacanqui (33), Redy Huamán (20) und Joel Hivallanca (20). Auch in Chiclayo wurden die Anführer der Demonstrationen strafrechtlich verfolgt.
3. Polizeieinsätze verhindern Solidarität mit den Demonstrierenden.
Die Polizei hat in Lima mit verschiedenen Aktionen Menschen schikaniert, die sich mit den aus den Provinzen angereisten Protestierenden solidarisierten. Verschiedene Gruppen, Nichtregierungsorganisationen und Kirchengemeinden kümmerten sich um die Unterbringung der ankommenden Protestierenden und organisierten Spendensammlungen von Geld, Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung.
Die meisten von ihnen erhielten Besuch von der Polizei, manche von der Staatsanwaltschaft. Sie haben keine Straftat begangen, aber man wollte ihnen weismachen, dass sie der Komplizenschaft mit Terroristen oder Vandalen angeklagt werden könnten, die sich bei allen Protesten unter die Demonstrationen mischen. Leider ist es damit gelungen, Menschen zu verängstigen, die sich mit den Protesten solidarisieren wollten. So wurde die Aufnahme von Bürger*innen aus den Provinzen erschwert.
Ganz anders wird dagegen Jorge Lazarte behandelt, einem Geschäftsmann, der 800.000 Soles gesammelt hat, um sich mit der Polizei zu solidarisieren, oder besser gesagt, um die polizeiliche Repression zu finanzieren. Lazarte erklärte in einem Interview: “Hören wir auf, uns vor dem Wort Tod zu fürchten. 50 Tote, das ist doch in Ordnung.
4. Die Regierung will das Strafmaß für die Zeit der Proteste erhöhen.
Präsidentin Boluarte und Premierminister Otárola haben einen Dringlichkeitsantrag in den Kongress eingebracht, der eine Verschärfung der Strafen für Straftaten während des Ausnahmezustands zum Ziel hat. Das Ziel ist klar: Die Bürger sollen davon abgehalten werden, sich an Demonstrationen gegen die Regierungskoalition zu beteiligen. So sollen leichte Körperverletzung mit acht bis 14 Jahren (bisher zwei bis fünf Jahre), schwere Sachbeschädigung mit vier bis acht Jahren (bisher ein bis sechs Jahre) und Krawalle mit mindestens 15 Jahren (bisher sechs bis acht Jahre) bestraft werden.
Der Gesetzentwurf sieht außerdem eine Verlängerung des Polizeigewahrsams auf 48 Stunden und sofortige Gerichtsverfahren für die Verhafteten vor.
5. Die Regierungskoalition erkennt das Recht des Volkes auf politische Partizipation nicht an.
Verschiedene Sprecher der Koalition tun die aktuellen Proteste als “politisch” ab. Boluarte erklärte der Bevölkerung wiederholt, dass sie bereit sei, über ihre sozialen Forderungen zu sprechen, nicht aber über politische. Die Bevölkerung wird von der Regierungskoalition offensichtlich als Empfängerin von Sozialprogrammen, nicht aber als politische Subjekte gesehen.
In den Worten eines Rondero-Führers aus Calca (Cusco), dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird, “handelt es sich um den Protest von Gemeinschaften indigener Völker, die diskriminiert werden und denen der Staat keine Beachtung schenkt. Es gibt keinen Respekt. Wir werden gedemütigt, weil wir Bauern, Landwirte, Viehzüchter sind. Das ist eine absolute Verhöhnung. Das ist ungeheuerlich, aber es macht uns stärker”.
Die Missachtung geht sogar so weit, dass eine der aktuellen Forderungen, nämlich die Bildung einer verfassungsgebenden Versammlung zur Änderung der Verfassung von 1993, als terroristische Stimmungsmache bezeichnet wird. Dies wurde von einem Staatsanwalt in Ayacucho und auch von einem hochrangigen Polizeichef so geäußert. Dabei ignorieren sie die Tatsache, dass es in Lateinamerika Teil des demokratischen Spiels ist, die Verfassung zu ändern. So hatte die Dominikanische Republik bereits 32 Verfassungen, Ecuador 20, Peru zwölf und Chile und Kolumbien zehn.
6. Die Bürgerbeauftragte (Defensora del Pueblo) soll abgesetzt, die Wahlorgane sollen kontrolliert werden.
Die Ombudsstelle Defensoría del Pueblo, die von Dr. Eliana Revollar geleitet wird, war eine der wenigen staatlichen Institutionen, die in der schweren Krise, die wir gerade durchmachen, ihrer Verantwortung gerecht geworden sind. Ihre Arbeit hat der Regierungskoalition jedoch missfallen. So gefiel es ihnen beispielsweise nicht, dass die Ombudsstelle darauf hinwies, dass “eine unverhältnismäßige Gewaltanwendung” stattfinde und “die Sensibilität für die Wertschätzung des Lebens verloren gegangen ist (…). Der Tod von Menschen bei Protesten ist kein ‚sozialer Preis‘ oder ‚Kollateralschaden‘. Er ist ein irreparabler Schaden, der die Familien in tiefe Trauer stürzt und die emotionale und kulturelle Kluft zwischen uns allen vertieft”.
Deshalb will der Kongress jetzt einen Nachfolger benennen. Und dafür hat er dieser Tage „ein bisschen Unterstützung“ vom Verfassungsgericht erhalten. Dazu muss man wissen, dass von den sieben Mitgliedern des Verfassungsgerichts sechs vom gegenwärtigen Kongress ernannt worden sind. In zahlreichen Fällen hat dieses Gericht in Abstimmung mit dem Kongress gehandelt. Am 23. Februar ermächtigten sie den Kongress, sich über das gerichtliche Verbot hinwegzusetzen, das ihnen untersagt, die Bürgerbeauftragte abzusetzen und einen neuen Bürgerbeauftragten zu ernennen. Außerdem fordert das Verfassungsgericht den Kongress auf, Artikel 99 der Verfassung so zu ändern, dass die Leiter der Wahlorgane (JNE, RENIEC, ONPE) angeklagt werden können, was ihre Unabhängigkeit gefährdet.
Wie mehrere Juristen und Analysten bereits kritisierten, verletzen diese jüngsten Urteile des Verfassungsgerichts die Gewaltenteilung, Bestandteil jeder Demokratie, und befreien den Kongress von jeglicher verfassungsmäßigen Kontrolle. Die ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichts, Marianella Ledesma, hat dies in einem im Internet kursierenden Video scharf verurteilt.
7. Falschinformationen werden verbreitet.
Bekanntlich haben wir Peruaner*innen zwei große nationale Traumata: den Krieg mit Chile und die Zeit des Terrorismus. Die Regierungskoalition hat mit einigem Erfolg das Schreckgespenst des Terrorismus wiederbelebt, vor allem in der Hauptstadt, um Angst zu erzeugen und zu verhindern, dass Lima massenhaft Solidarität mit denjenigen zeigt, die in die Stadt gekommen sind, um gehört zu werden. In der offiziellen Darstellung sind die Demonstrationen das Werk der Terrororganisation Sendero Luminoso. So erklärte der Leiter der Nationalen Direktion für Terrorismusbekämpfung (DIRCOTE), General José Zavala, in einem Interview mit Peru 21, ohne Beweise vorzulegen, dass “Sendero Luminoso überall im Land ist”.
Und die Monopolpresse zeigt nur die Gewalttaten bei Demonstrationen. Diese Woche haben sie zum Beispiel die verschiedenen friedlichen Demonstrationen ignoriert, die stattgefunden haben. In Puno versammelten sich mehr als 20.000 Menschen, ohne dass es zu einer einzigen Gewalttat kam, aber das gibt es für sie nicht. Ihr Ziel ist es, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Das ist ihnen teilweise gelungen.
Was in unserem Land geschieht, ist sehr ernst. Die Demonstrierenden haben Recht, wenn sie skandieren: “Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr!” Viele scheinen jedoch nicht zu erkennen, dass die Regierungskoalition einen zunehmend autoritären Weg eingeschlagen hat. Wir tun nichts dagegen. Noch ist Zeit.
Pilar Arroyo, IBC Coyuntura 27. Februar 2023
Leicht gekürzte Übersetzung: Annette Brox