Rocío Silva Santisteban

„Als Abgeordnete müssen wir für etwas stehen“

Rocio Silva Santisteban ist eine bekannte Dichterin, Journalistin, Feministin und Menschenrechtsaktivistin. Bei den Kongresswahlen 2020 wurde sie für die linke „Frente Amplio“ ins Parlament gewählt. Andreas Baumgart hat mir ihr gesprochen.

 

Andreas Baumgart (AB): Zuallererst gratuliere ich  dir herzlich zu deiner erfolgreichen Kandidatur und deiner künftigen parlamentarischen Arbeit. Ich finde es großartig, dass der Feminismus erneut im Kongress vertreten ist und durch dich jetzt auch noch mit Poesie und Literatur verbunden. Wie fühlst du dich angesichts deiner künftigen Aufgaben?

 

Rocio Silva Santisteban (Rocio s-S): Nun, in Wahrheit ist es eine echte Herausforderung! Die Zusammensetzung des Kongresses ist sehr komplex. Die Partei mit den meisten Abgeordneten ist Acción Popular, und sie hat nur 25 Sitze bei ca. 10% der Stimmen. Mit 25 Sitzen erreicht man nichts. Für die Verabschiedung eines Gesetzes ist eine Mindestzahl von etwa siebzig Sitzen erforderlich. Viele werden definitiv gemeinsam abstimmen und Bündnisse eingehen müssen. Auffallend war, dass neben der Zersplitterung in lauter kleine Fraktionen zwei Gruppen hervorgetreten sind, denen man nicht so viele gewählte Abgeordneten zugetraut hat. Eine davon ist die FREPAP. Wir haben es mit einem Archipel zu tun und damit dieser Kongress funktionieren kann, wird es viele Debatten und eine Menge Konsens geben müssen. Wie auch immer, die Menschen warten darauf, dass der Kongress funktioniert. Abgesehen von den Positionen der neuen Gruppen beunruhigt mich, dass sie auch keine Erfahrung mitbringen. Wir zum Beispiel, die Frente Amplio, treten mit den Erfahrungen an, die wir bereits im letzten Kongress machen konnten. Wir haben auch einige Gesetzentwürfe und Vorschläge in den Kommissionen hinterlassen. Die neuen Gruppen fangen bei null an, beunruhigend.

 

 

AB: Was können die Gründe dafür sein, dass sich viele feministische Frauen und LGBTI-Menschen, die ja in Kollektiven, in Gruppen und individuell sehr aktiv sind, von den politischen Parteien fernhalten und nicht parlamentarisch betätigen möchten?

Rocio S-S: Ich denke, dass sich die politischen Parteien in einer sehr tiefen Krise befinden. Feminismus und LGTBI-Aktivismus finden grundsätzlich nicht in Parteien, sondern in Bewegungen, in Kollektiven statt. Meiner Meinung nach sollte sich das in Peru ändern. Hier sollte nicht nur die Politik der Parteien, sondern auch die der Bewegungen neu überdacht werden. Z.B. wie man Bewegungen in die formellere Sphäre der Politik einbezieht. Was können die Frauen noch machen, die im Vergleich zu vor 10 Jahren heute einen sehr starken feministischen Aktivismus praktizieren? Heute ist der feministische Aktivismus mächtig stark und ich glaube, das hat viel mit den Bewegungen #NiUnaMenos, #MeToo und den „grünen Halstüchern“ in Argentinien zu tun. Lateinamerika befindet sich in einem Moment wichtiger feministischer Gärung, aber wie gesagt, nicht innerhalb von Parteien. Sie sind ausgesprochen formalistisch und bürokratisch, was die Aktivist*innen abschreckt.

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AB: In einem Interview verteidigst du die Entkriminalisierung der Abtreibung in Fällen von Kindervergewaltigung. Feministinnen vertreten, dass Frauen autonom entscheiden können, d.h. sie fordern die Entkriminalisierung der Abtreibung bei wenigen Ausnahmen. Wie stehst du dazu und kann dies heute so propagiert werden?

Rocio S-S: Ich vertrete die Entkriminalisierung der Abtreibung in einem umfangreichen Maß. Allerdings muss ich als Parteimitglied die Position der Partei vertreten. Sie vertritt die Entkriminalisierung der Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung. Für mich ist das eine Minimalposition. Selbst deren Durchsetzung wird im aktuellen Parlament schwierig werden. Sowohl bei den Rechten als auch innerhalb der Linken gibt es die konservativen Sektoren. Im Parlament vertrete ich die Vereinbarungen, die wir innerhalb unserer Partei getroffen haben.

 

Rocio Silva Santisteban mit Parteigenossinnen im Lokal der Frente Amplio. Im Hintergrund die Portraits von Maria Elena Moyano und Jose Carlos Mariategui

AB: Im neuen Parlament gibt es viele Kräfte, die gegen den Genderansatz anstürmen und alles tun werden, um ihn aus der Schulbildung zu verbannen. Siehst du im Rahmen der gegenwärtigen politischen Landschaft Verbündete im Parlament, den Genderansatz und die entsprechende Praxis zu verteidigen?

Rocio S-S: Dazu müssen wir eine bessere Sichtung der gewählten Kongressabgeordneten durchführen. Wir sind mit dem Problem konfrontiert, dass viele Parteien in den Kongress gewählt wurden, die wir als „Surrogate“ bezeichnen. Sie verfügen über eine Wahlberechtigung und bieten oder verkaufen verschiedenen Personen die Kandidatur. Wir haben es deshalb mit einer heterogenen Gruppe von Menschen zu tun, die zu bestimmten Themen unterschiedlichste Ansichten haben. Gestern zum Beispiel zeigte ein Fernsehsender die Siegesfeier von Acción Popular in deren Lokal. Und wer hat die Erklärungen abgeben? Vier ältere weiße Männer. Und völlig getrennt davon, tritt dann in einem anderen Fernsehsender eine junge dunkelhäutige Mestizin auf, die ihre Ideen sprachgewandt und überzeugend rüberbringt und die an zweiter Stelle auf der Liste derselben Partei kandidierte. Sie wanderte quasi alleingelassen als einzige Frau von Fernsehsender  zu Fernsehsender und wurde weder als Erste, Zweite noch Dritte gehandelt. Was passiert da? Warum sind es diese weißen Herren, die sich in der Öffentlichkeit im Erfolg sonnen können?

Wenn Accion Popular sich mit Fuerza Popular und FREPAP, die sich bereits deutlich gegen den Genderstandpunkt positioniert haben,  noch mit anderen Parteien verbünden, um den Genderansatz aus dem Lehrplan der Schulen zu streichen, werde ich mich auf die Hinterbeine stellen und sehr energisch werden. Zumal es auch in meiner Partei einige unklare Positionen gibt. Zuerst müssen wir pädagogisch vorgehen, die Parteilinie etwas absenken, um es in alten Begriffen auszudrücken, um den Schullehrplan zu verteidigen. Und wir werden uns mit den Morados und anderen Parteien in dieser Hinsicht verbünden müssen, die dasselbe Ziel verfolgen.

AB: Bei Fuerza Popular hatten wir es quasi mit einer weiblichen Mafia an der Spitze zu tun. Ihre oberste Führerin Keiko im Gefängnis und zahlreiche dazu gehörende weibliche Abgeordnete, die inzwischen zu anderen Parteien übergelaufen sind. Oft sind es sogar Frauen, die die Emanzipation von Frauen aggressiv angreifen. Welche Erklärungen gibt es dafür?

Rocio S-S: Natürlich. Ich habe es schon unzählige Male gesagt: es geht nicht um einen Krieg der Geschlechter. Frauen sind nicht besser und verteidigen nicht immer die Rechte der Frauen. Das Problem ist das System des Patriarchats. Wir müssen verstehen, dass viele Frauen darin vollkommen funktional sind. Das peruanische ist ein machistisches, kolonialistisches, kapitalistisches und extraktivistisches Patriarchat. Es gibt zahlreiche Frauen, die da perfekt hineinpassen. Keiko Fujimori ist ein Beispiel für diese komplette Funktionalität. Mehr noch, sie setzt die politische Arbeit ihres Vaters fort. Wir Frauen, die wir uns dessen bewusst sind, müssen die Emanzipation hochhalten und Bewusstsein darüber schaffen, was männliche Herrschaft bedeutet. Es ist kein Kampf gegen euch Männer, sondern gegen das das Patriarchat. Patriarchat und Machismus fügen auch den Männern Schaden zu, weil es sie zu den gewalttätigen Wesen macht.

AB:  Eine Frau zu sein bedeutet natürlich nicht, sich nur mit Aspekten rund um Gender befassen zu müssen. Du hast dich von jeher vielen anderen Themen gewidmet und deine Ansichten dazu veröffentlicht. Weißt du schon, welches die Prioritäten deiner künftigen parlamentarischen Arbeit sein werden?

Rocio S-S: Innerhalb der Partei haben wir uns schon darüber abgesprochen. Ein Thema, das mir sehr wichtig erscheint und das hoffentlich in dieser Legislaturperiode behandelt wird, ist ein Gesetz zum allgemeinen Landrecht. Damit soll sowohl nach wirtschaftlichen als auch ökologischen Kriterien entschieden werden, welche Zonen in unserem Land für den Abbau von Rohstoffen genutzt werden dürfen und welche nicht. Wir möchten die Quellgebiete und Wassersysteme schützen, die unser Leben gewährleisten. Dies durchzusetzen wird eine meiner konkreten Tätigkeiten werden. Ich positioniere mich  klar gegen den Extraktivismus. Darunter verstehe ich nicht die Rohstoffgewinnung an sich, sondern die Förderung großer Mengen von Rohstoffen für den Export, wobei keine zusätzliche Wertschöpfung für das Land entsteht.

Wir müssen also sehen, welchen Zusatznutzen wir aus diesen Rohstoffen ziehen können, ohne dass wir weiterhin eine reine Vorratskammer für China und andere Länder bleiben, wie es im Moment der Fall ist. Unsere Rolle im Kontext der Weltwirtschaft zerstört unsere Ressourcen und wir schützen unsere eigene Bevölkerung nicht.

Außerdem bin ich eine Frau der Linken, die die Rechte der Arbeiter*innen verteidigt, die sie zu einem so hohen Preis erkämpft und für die sie so viel geopfert haben. Jetzt geht es darum, schon einmal erreichte und entzogene Rechte zurückzugewinnen. Eine Reihe von Regelungen zur Flexibilisierung von Investitionen schränken heute die Arbeitnehmerrechte ein. Für uns hat der Schutz der Arbeiterrechte Vorrang und ich habe ein besonderes Interesse daran, ein Gesetz zum Schutz von Hausangestellten durchzusetzen. Sie gehören mit zu den am stärksten ausgebeuteten Sektoren bei teilweise sklavenhalterischen Bedingungen.

Das sind meine Vorschläge, das ist meine Agenda. Sie ist viel weiter gefasst als das Thema Frauen und Gender. Für mich ist wichtig, dass die Kongressabgeordneten neben ihrer gesetzgeberischen und kontrollierenden Funktion auch für etwas stehen sollen. Deshalb werde ich mich in den nächsten anderthalb Jahren mit allen mir zu Verfügung stehenden Mitteln der Verbreitung unserer Ideen widmen. Unser Augenmerk darf nicht nur auf der Gewinnung von Wählerstimmen liegen, sondern auf der Basisarbeit zur Verbreitung unserer emanzipatorischen Ideen. Wir richten uns gegen eine Ideologie, die auf Hyperkonsum setzt und Menschen nur als individualistische und egoistische Konsumenten sieht. Dem müssen wir Alternativen wie eine solidarische und zivilgesellschaftliche Ökonomie der Bürger*innen entgegenstellen. Lasst uns selbst neu denken: Was ist das Ziel unseres Lebens? Geld zu verdienen, um uns ein Haus oder ein Auto zu kaufen, oder ist es nicht vielmehr glücklich zu sein?

AB: Ich danke  dir sehr für das Gespräch  und wünsche dir viel Erfolg bei deinen künftigen parlamentarischen wie außerparlamentarischen Tätigkeiten.

Das Interview führte Andreas Baumgart am 28. Januar 2020. Die Langform des Interviews können Sie hier nachlesen Interview mit Rocio lang