Bereits 10 Minister*innen hat Präsident Castillo in seinen ersten 100 Tagen ausgewechselt. ©ANDINA/Prensa Presidencia

100 Tage Regierung Castillo – eine erste Bilanz

Rocio Silva Santisteban und Oracio Pacori im Gespräch mit der Infostelle

 Am 30. November hatte die Infostelle Peru die Dichterin, Aktivistin und Ex-Kongressabgeordnete Rocío Silva Santisteban und den Direktor der Nichtregierungsorganisation Derechos Humanos sin Fronteras in Cusco und Ex-Kongressabgeordneten Oracio Pacori zu einem Gespräch über die ersten vier Monate der Regierung Castillo eingeladen. Der folgende Artikel basiert auf ihren Aussagen und Einschätzungen sowie auf einem Gespräch des Europäischen Netzwerks Plataforma Europa Peru mit dem Journalisten Glatzer Tuesta von IDL Reporteros am 3. Dezember.

Mehr Fehler als Erfolge

Welche Erfolge kann die Regierung nach vier Monaten Regierungszeit vorweisen? Allein die Tatsache, dass Castillo zum Präsidenten gewählt wurde, ist ein „moralischer Erfolg“, meint Rocío Silva. Sein Wahlsieg hat vielen die Hoffnung gegeben, dass sich in der Politik etwas ändern kann und dass Probleme auf die politische Agenda gesetzt werden, die bisher keine Aufmerksamkeit fanden.

Der konkreteste Erfolg der Regierung Castillo ist sicherlich,  dass die Impfkampagne gegen Covid-19 gut organisiert und sehr erfolgreich ist – 68 Prozent der Bevölkerung sind mittlerweile geimpft, was für das stark von der Pandemie betroffene Land sehr wichtig ist. Das Impfangebot erreichte auch weit abgelegene Orte, was dem Engagement und der Kompetenz des medizinischen Personals zu verdanken ist. Auch die Vorschläge für eine Steuer- und für die Agrarreform werden von unseren Gesprächspartner*innen positiv bewertet. Mehr dazu später. Allerdings sehen sie wenig Chancen, dass die nötigen Gesetzesänderungen eine Mehrheit im Parlament finden.

Silva und Pacori sehen allerdings mehr Fehler als Erfolge in der bisherigen Regierungsarbeit. Zu vielen wichtigen Themen fehlt der Regierung eine Strategie: Inflation und steigende Gas- und Benzinpreise führen zu einem Vertrauensverlust in die wirtschaftliche Kompetenz der Regierung. Für Verbesserungen im vernachlässigten Bildungssystem, für den Kampf gegen Korruption und für die Lösung der zahlreichen sozialen und Umweltkonflikte konnte die Regierung bisher keine überzeugenden Konzepte präsentieren. Klima- und Umweltpolitik: Fehlanzeige, so Glatzer Tuesta. So hat sich Castillo bisher nicht zum Abkommen von Escazú bekannt, in dem die Länder Süd- und Mittelamerikas sich auf Mindeststandards im Umwelt- und Menschenrechtsschutz verpflichten und das Peru bis heute nicht ratifiziert hat. Außerdem fehlt der Regierung eine Strategie gegen die heftige Kampagne der ultrarechten Parteien und Gruppierungen sowie der Medien. Das Kabinett ist instabil und wechselhaft: Minister werden in kürzester Zeit ernannt und wieder abgesetzt. Die Regierungspartei Perú Libre ist tief gespalten. Ein Teil der Partei stimmte gegen die Wahl der Premierministerin Mirtha Vázquez und des eigenen Kabinetts. Hier fehlt Castillo Führungskompetenz. Er ist außerdem ein extrem misstrauischer Präsident, der seinen eigenen Minister*innen nicht vertraut, wenn sie nicht zu seinen nächsten Vertrauten zählen und aus seiner Region kommen. Das ist für die Regierungsarbeit äußerst problematisch.

Gute Absichten in der Gesundheits-, Agrar- und Steuerpolitik

Die Impfkampagne läuft sehr erfolgreich, aber weitere Strategien gegen die Pandemie gibt es nicht. Es gibt derzeit 2.500 Intensivbetten, gebraucht werden 4.500. Auch in einer nächsten Welle wird es wieder Sauerstoffmangel geben. Strukturelle Probleme und Korruption im Gesundheitswesen müssten dringend angegangen werden.

Das Ziel der Agrarreform, die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die Partizipation der sozialen Organisationen zu stärken, wird von Oracio Pacori ausdrücklich begrüßt. Aber auch hier fehlt eine klare Strategie der hierfür eingesetzten Kommission, um die Organisationen zu begleiten und zu unterstützen und die Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen. Die Gefahr ist groß, dass die Regierung die Unterstützung und Zustimmung der Bevölkerung auf dem Land verliert, wenn sie hier nicht liefert.

Die Steuerreform, die Wirtschaftsminister Pedro Francke vorgelegt hat, sieht Steuererhöhungen für Minenunternehmen vor. Die Unternehmen und der Unternehmerverband CONFIEP protestierten heftig dagegen. Der Minister argumentiert, die Minen hätten in der Pandemie im Gegensatz zu vielen anderen unverändert weiter produzieren können, seien also wirtschaftlich stark. Er betonte, die Regierung habe Interesse am Bergbau, wolle aber, dass das Land am Gewinn und Reichtum Anteil hat. Oracio Pacori betonte, höhere Unternehmenssteuern seien richtig und wichtig, nicht nur im Bergbausektor. Der Aufschrei der Minenunternehmen sei unbegründet. In Chile etwa beläuft sich die Steuer für Minenunternehmen auf 26 Prozent, in Peru lediglich auf 16 Prozent.

Der Präsident verliert an Zustimmung

Die Zustimmung für den Präsidenten ist deutlich zurückgegangen: Laut IPSOS betrug sie im November nur noch 35 Prozent. Im September waren es noch 42 Prozent. Neben der Medienkampagne gegen die Regierung Castillo liegt dies nach Ansicht von Rocío Silva vor allem an eigenen Fehlern. Dem Präsidenten gelingt es nicht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Dies, zusammen mit Korruptionsfällen und internen Konflikten, schadet der Regierung deutlich mehr als die negative Presse, so Silvas Einschätzung. Im Süden des Landes ist der Vertrauensverlust nicht so stark, hier hat Castillo noch Zustimmungswerte von 52 Prozent. Die Zustimmung der Bevölkerung für das Parlament ist noch deutlich geringer als für den Präsidenten. 75 Prozent sind unzufrieden mit der Arbeit der Kongressabgeordneten.

Castillo hat seit seinem Antritt kein einziges Interview gegeben. Seine Form der Kommunikation sind Kundgebungen in verschiedenen Orten des Landes. Damit erreicht er zwar die dortige Bevölkerung, viele andere aber nicht, vor allem nicht die Bewohner*innen Limas, wo er deutlich an Zustimmung verloren hat.

Gerade die von sozialen Konflikten in Bergbauregionen Betroffenen haben große Hoffnung in die Regierung Castillo gesetzt. Sie haben die fehlende Präsenz des Staates in diesen Konflikten beklagt und deshalb Castillo gewählt. Natürlich lassen sich diese Konflikte nicht einfach und schnell lösen. Dennoch fehlen der Regierung der Nachdruck und eine Strategie, diese Themen anzugehen. Viele setzen hier große Hoffnungen auf die Premierministerin Mirta Vásquez. Sie allein jedoch kann die Probleme nicht lösen, betonte Oracio Pacori. Sie braucht den Rückhalt der ganzen Regierung, eine klare Strategie und zuständige, engagierte Institutionen.

Die Gefahr der Amtsenthebung

Die Möglichkeit der Amtsenthebung des Präsidenten durch das Parlament ist eine Karte, die viele Parteien spielen. Dies ist inzwischen ein bekanntes politisches Spiel. Nach Ansicht von Rocío Silva ist die geplante Amtsenthebung verfassungswidrig, so wie es schon das Verfahren gegen Präsident Vizcarra im November 2020 war. Für Castillo ist die Situation deshalb besonders gefährlich, weil er Zustimmung in der Bevölkerung verliert. Er braucht dringend die Unterstützung von sozialen Organisationen und Gruppen, die wie im vergangenen November auf die Straße gehen und gegen eine Amtsenthebung protestieren. Gewerkschaften, Basis- und soziale Gruppen müssen gemeinsam und koordiniert gegen diesen Angriff auf die Demokratie demonstrieren, so der Appell von Rocío Silva. Präsident Castillo sieht sie jedoch nicht als Verbündete an, sondern verhält sich vielmehr misstrauisch bis ablehnend ihnen gegenüber und sucht keinerlei Kommunikation. Das ist sehr gefährlich für ihn. Das sieht auch Glatzer Tuesta so: Castillo darf nicht nur gegen die Opposition kämpfen, sondern muss mit der Bevölkerung, die ihn gewählt hat, in Kontakt bleiben und deren Probleme lösen. Sonst wird er politisch nicht überleben. Dabei gehe es nicht nur um das Überleben der Regierung, sondern auch um das Überleben der Demokratie, warnt Glatzer Tuesta.

Annette Brox