Mirian Sanchez. Foto: Carlos Franco

Serie Umweltheldin: “Wir müssen lernen Nein zu sagen”

 

Alleinerziehende Mutter, Studentin und Drohnenpilotin: Mirian Sanchez aus Ucayali lässt sich nicht unterkriegen

Wenn Mirian Sanchez an ihr Heimatdorf Puerto Nuevo denkt, dann kommt bei ihr Wehmut auf: „Früher gab es so viele Fische im Fluss. Mein Vater brachte Säcke voll mit“, erinnert sich die heute 35-jährige. Fische seien das billigste Essen gewesen, oft seien die Reste an die Schweine verfüttert worden.

20, 30 Jahre ist das her. Heute, so Mirian, gibt es im  Fluss wenig Fische und der Wald wird weniger, und damit auch die Wildtiere, die das notwendige Protein für die Shipibo-Familien lieferte. Der Raubbau an ihrer Heimat, dem Regenwald, ist in den letzten Jahrzehnten rasant fortgeschritten. Mit Hilfe neuer Technologien möchte Mirian Sanchez ihm nun Einhalt gebieten.

Mirian Sanchez Foto: Carlos Franco

In ihrer Muttersprache Shipibo heißt Mirian „Panshin Bena“. „Das bedeutet fleißige Frau, wie meine Großmutter, die immer aktiv war, immer etwas unternahm“, sagt Mirian im langsamen, leicht singenden Spanisch der peruanischen Amazonasbewohner*innen. Geboren ist sie in Iparia, einer Provinz des Amazonas-Department Ucayali. Dort ging sie auch zur Schule – bis diese wegen zu geringer Schülerzahl geschlossen wurde. Im Gespräch erinnert sich Mirian daran, wie sie, die so gerne weiter zur Schule gegangen wäre, sich mit 11 Jahren als Kindermädchen bei einer Lehrerfamilie in Pucallpa verdingen musste. Wie sie sich nach ihrer Familie und dem Essen in ihrem Dorf sehnte. Wie die Kinder in Pucallpa sie wegen ihres fehlerhaften Spanischs verspotteten. Immerhin in den Ferien durfte sie nach Iparia zurückkehren, beendete die Sekundarschule. Für eine weitere Ausbildung hatte die Familie kein Geld mehr, zumindest nicht für die Mädchen der neunköpfigen Familie.

Mirian arbeitete eine Zeit lang in einem Restaurant an der Fernstraße, die von Ucayali nach Lima führt. Kehrte zurück ins Dorf, wurde schwanger, musste das Baby bei ihrer Mutter lassen, und arbeitete als Hilfslehrerin, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu bestreiten.

Den Traum von einem eigenen Studium aber hat sie nie aufgegeben.

Heute lebt die junge Frau mit ihren beiden 18 und 11 Jahre alten Töchtern in der Hauptstadt Pucallpa und studiert im 7. Semester zweisprachige Grundschulpädagogik an der Interkulturellen Universität von Pucallpa.  Bald wird sie ausgebildete Lehrerin sein. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich momentan noch mit dem Verkauf selbstgemachten Shipibo-Schmucks.

 

Mirian Sanchez. Foto: Hildegard Willer

Zum Interview kommt Mirian in der Festtagskleidung der Shipibo-Frauen: einen knielangen Rock mit Zeichnungen, die an ein Labyrinth erinnern. Und eine rote Bluse mit gesticktem rundem Kragen. Dazu lange Ohrringe aus Plastikperlen in verschiedenen Mustern – die Ohrringe und Ketten stellt sie selbst her. Sie rückt ihre Brille im sorgfältig geschminkten Gesicht zurecht, bevor sie erzählt, wie die Technologie in ihr Leben getreten ist. „Ich habe immer an den Versammlungen unseres Dorfverbandes teilgenommen. Dort fragte mich der Vorsteher, ob ich nicht an einem Waldschutzprojekt der NGO Rainforest teilnehmen wollte, um den Wald besser zu schützen.“ Mirian wollte und lernte erstmals eine Handy-App zu bedienen, um den Standort via GPS zu bestimmen und weitergeben zu können. Dann lernte sie, wie man eine Drohne fliegt. Dieses Wissen gibt sie auch in anderen Gemeinden weiter.

Mirian Sanchez Foto: Carlos Franco

Staatliche Behörden wie auch internationale NGOs setzen beim Waldschutz immer mehr auf den Einsatz modernster Kommunikationstechnologie. Mirian Sanchez ist von dessen Sinn überzeugt: „Damit müssen wir nicht mehr so tief in den Wald gehen und uns nicht direkt mit den Eindringlingen konfrontieren. Wir können neue Holzschläge aus der Luft dokumentieren und an die Behörden weitergeben.“ Als Kind hat sie erlebt, wie Holzfäller ihnen verboten haben, weiter in den Wald zu gehen – obwohl es Shipibo-Gemeinschaftsland war.  Ucayali war und ist noch heute fest in den Händen der Holzfäller und -händler, illegaler wie legaler. Da jedoch schon sehr viel wertvolles Tropenholz gefällt wurde und nicht mehr viel davon übrig ist, wird der Druck zur Abholzung heute vor allem  durch die weltweite Nachfrage nach Kokain ausgelöst. „Oft sind es Fremde, die ins Dorf kommen, Gemeindeland besetzen und Koka anbauen“, erzählt Mirian Sanchez. Meist seien Leute aus dem Dorf oder sonstige Bekannte die Mittelsmänner. Wenn sich eine Gemeinde dagegen wehrt, kommt es zu Streit und Drohungen, die bis zum Mord führen können.  Die Corona-Pandemie hat illegale Machenschaften im Amazonasgebiet noch befördert und damit auch die Zahl der ermordeten Umweltschützer in die Höhe getrieben. 14 Umweltschützer wurden im peruanischen Amazonasgebiet seit 2020 umgebracht.  Dementsprechend hat auch die illegale Abholzung zugenommen, 23% alleine seit dem Jahr 2020 im Departament Ucayali.

Mirian Sánchez weiß, wie gefährlich es sein kann, sich für den Schutz des Waldes oder einfach für die Verteidigung des Gemeinschaftslandes einzusetzen. Der Einsatz von Drohnen und die Ermittlung von GPS-Daten mittels Handys hilft, die Risiken einer direkten Konfrontation mit den Eindringlingen zu vermindern. Zugleich ist sich Miriam aber bewusst, unter welchem Druck ihre Landsleute stehen. „Wir bauen bei uns Bananen an, das einzige, das wir auf dem Markt verkaufen können.“ Der Erlös ist sehr gering, und die Versuchung, mit dem Anbau illegaler Koka mehr zu verdienen, groß. Miriams Bitte an Menschen im In- wie Ausland, die den Amazonas-Wald schützen wollen, geht denn auch in diese Richtung: „Helft uns dabei, alternative Einkommensmöglichkeiten zu schaffen oder dass wir für unsere Produkte besser bezahlt werden.“  Und den Jugendlichen müssten bessere Chancen auf eine Ausbildung oder ein Studium verschaffen werden. „Deswegen brauchen meine Leute ja das Geld, damit ihre Kinder studieren können.“ Ohne ein Auskommen für die Bewohner*innen des Regenwaldes sei es schwierig, ihn zu schützen.

Mirian Sanchez Foto: Carlos Franco

Mirian ist stolz darauf, eine Shipibo-Frau zu sein. Umso wichtiger ist es ihr, dass auch die Frauen ihre Stimme erheben und dass sie nicht länger Opfer von Misshandlungen werden. „Es ist Zeit, dass wir Frauen solche Beziehungen nicht mehr tolerieren.“   Eine nachhaltige Entwicklung ihrer Heimat könne nur geschehen, wenn die Frauen besser ausgebildet werden, wenn sie aktiv einbezogen werden. Eine große Herausforderung, in der auch Mirian als alleinerziehende Mutter, Studentin, Familienernährerin und Umweltaktivistin steht. „Manchmal ist es sehr hart für mich, dies alles zu vereinen, aber ich sehe es als positive Herausforderung.“

Mit ihren Kursen in der Handhabung von GPS und Drohnen hilft sie Menschen in anderen Dörfern, besser auf ihren Gemeinschaftswald aufzupassen. „Die Menschen sehen allmählich, dass sie das für sich selbst tun, nicht für eine NGO oder eine Behörde, die von außen kommt.“ Viel Wissen, viel Information sei nötig, damit die Menschen in den Dörfern entscheiden könnten, welche Art von Entwicklung sie wollen. Zu welchen Vorschlägen von außen sie Ja und zu welchen sie Nein sagen müssen. „Wir müssen lernen auch Nein zu sagen“, ist Mirian Sanchez überzeugt, als Frau und als Mitglied ihrer Shipibo-Gemeinschaft.

Noch gibt es wenige Shipibo-Frauen, die Führungsrollen in ihren Dörfern und Vereinigungen übernehmen. Mirian kann sich gut vorstellen, in Zukunft mehr Verantwortung für ihre Gemeinschaft zu übernehmen. Damit die Jugendlichen eine Zukunft haben, „damit sie wieder Fische im Fluss fangen können“.

Bei ihren eigenen Kindern ist die Botschaft bereits angekommen. „Als ich einen Mango-Baum in unserem Hof fällen wollte, weil er uns Licht nahm, stellte sich meine Tochter entgegen und sagte: Das darfst du nicht, der Baum gibt uns Luft zum Atmen.“

Hildegard Willer