Ricardo Soberon ©Andina/Melina Mejia

Wie Perus Kokainwirtschaft indigene Amazonasbewohner*innen bedroht

Ein Interview mit dem Koka-Experten Ricardo Soberón

Peru ist der weltweit zweitgrößte Produzent von Coca-Blättern und Kokain. Der Jurist Ricardo Soberón war zweimal Direktor der staatlichen Antidrogenbehörde DEVIDA. DEVIDA verwaltet fast acht Millionen Dollar, die die US-Botschaft für die Ausrottung der Cocaplantagen bereitstellt, sowie weitere fast 270 Millionen Dollar, die für Angebotskontrolle, alternative Entwicklung sowie Behandlung und Prävention des Drogenkonsums bestimmt sind. Soberón hat, wann immer es möglich war, die Strategie kritisiert, die nicht auf die Ausrottung des Kokains, sondern der Cocapflanzen abzielt.

Soberón versucht, das Wachstum des illegalen Cocaanbaus im amazonischen VRAEM-Gebiet (Valle de los Ríos Apurimac-Ene-Mantaro, im Grenzgebiet der Departamente Ayacucho-Junín-Apurimac-Cusco-Huancavelica) einzudämmen, ohne gewaltsame Mittel einzusetzen. Aber als er sich für einen Dialog mit den Cocabauern in diesem Gebiet einsetzte, wurde er als “Pro-Kokain-Produzenten” beschimpft. Als er vorschlug, statt der gewaltsamen Ausrottung zu einer allmählichen und nachhaltigen Reduzierung der Anbauflächen in den am stärksten gefährdeten Gebieten überzugehen, wurde er beschuldigt, den Drogenhandel zu unterstützen. Er setzte sich auch für einen „Sozialpakt“ ein, der die Reduzierung des Cocaanbaus im Gegenzug für eine sozioökonomische Entwicklung der Gemeinden und die Vorbeugung und Behandlung des Drogenkonsums vorsah. Hierfür fand er nie politische Unterstützung.

Das folgende Interview wurde von Esteban Acuña geführt und bei TalkingDrugs veröffentlicht. Wir veröffentlichen eine gekürzte Übersetzung.

Seit 2002 wurden im VRAEM nicht einmal ein Prozent der Anbaufläche vernichtet. Aber während Ihrer Amtszeit haben Sie die „Selbstausrottung“ vorgeschlagen, um den Cocaanbau zu reduzieren. Ist die Politik der Ausrottung an sich, in welcher Form auch immer, nicht gescheitert?

Ich bleibe dabei, dass eine nachhaltige Reduzierung des Cocaanbaus in Peru nur durch eine freiwillige Vereinbarung, im Einvernehmen mit den Produzent*innen erreicht werden kann, nicht mit Gewalt. Genau das habe ich vorgeschlagen. Und ich habe einen Vertrag mit der Frauen-Kakao-Kooperative Sumaq Sunqu unterzeichnet. Sie übergaben freiwillig sechs Hektar. Das  war ein sehr symbolischer Akt, denn ich hatte noch keinen einzigen Sol dafür ausgegeben. Sie haben die Botschaft verstanden. Dann kam der Staatsstreich von Pedro Castillo und ich musste gehen.

Sie haben die Zahlen des Weißen Hauses zum Cocaanbau als ungenau kritisiert. Was sagen die Zahlen zur Ausrottung der Ernte wirklich aus? Sind sie ein zuverlässiger Index?

Nein, auf keinen Fall. Die USA haben ihr Standardsystem für die ganze Welt, aber sie geben keine Informationen über ihre Methodik oder ihre Datenbasis. Und es gibt Länder, wie Peru, die beschlossen haben, eigene Wege, Mittel und Formen zu wählen. Aber die Zahlen zur Ausrottung sind nur ein Ziel, das die US-Regierung jedes Jahr im Januar festlegt. Nun haben die USA für dieses Jahr eine Aufstockung um acht Millionen Dollar für die Ausrottung angekündigt. Das ist ein schrecklicher Fehler, denn die Ausrottung ohne ländliche Entwicklung treibt die Entwaldung voran und fördert den Teufelskreis von “Pflanzung ausgerottet, Pflanzung neu gesät”. Mit anderen Worten, der verarmte, zugewanderte Bauer sät Coca, und wenn seine Pflanzen ausgerottet werden, geht er woanders hin und der Vorgang wiederholt sich… Das ist es, was hier geschieht.

Sie haben gesagt, dass “der Drogenhandel der Faktor sein könnte, der die indigenen Völker des südamerikanischen Amazonasgebietes verschwinden lässt”. Warum?

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der internationalen Nachfrage nach Kokain – insbesondere in Westeuropa und den USA – und der Zerstörung des Amazonasgebietes. Die Zerstörung des Waldes für neue Coca-Plantagen nimmt den indigenen Völkern ihre Lebensgrundlage.  Dieses Problem muss auf die regionale und internationale politische Tagesordnung gesetzt werden. Keine Wirtschaft wirkt so zerstörerisch auf soziale und kulturelle Strukturen wie der Drogenhandel.

Wenn man ein auf Drogenhandel basierendes Modell in einem angestammten Umfeld wie dem eines indigenen Volkes im Amazonasgebiet umsetzt, ist eine Koexistenz nicht möglich. Wenn ein Mitglied der Drogenmafia eine Tochter des Gemeindevorstehers heiratet, wenn Land für den Cocaanbau verpachtet und Flugpisten gebaut werden, ist dies die abscheulichste Form der Unterordnung eines Wirtschaftsmodells gegenüber dem anderen. Der peruanische Staat ist institutionell, politisch und strategisch viel zu schwach, um eine demokratische und souveräne Basis im Amazonasgebiet zu schaffen. Als größter politischer Akteur Perus muss er, unabhängig von seiner politischen Couleur, dieses Problem dringend auf den höchsten Ebenen der Außen- und Verteidigungspolitik, der Sicherheit, der Gesundheit und der Entwicklung angehen.

Das Scheitern des Krieges gegen die Drogen ist mit Zahlen belegt. Dies ist in der weltweiten Drogendebatte nichts Neues. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe oder Interessen in Peru, warum es trotz der Beweise keine signifikanten Veränderungen in der Ausrichtung der Arbeit gibt?

Beginnen wir mit der Polizei. Die Polizei ist dazu da, die öffentliche Sicherheit in Übereinstimmung mit ihren eigenen Interessen zu verwalten. Sie verdient umso mehr, je mehr Gefangene sie macht. Gäbe es den Krieg gegen die Drogen nicht, könnte die Polizei auch niemanden deshalb verhaften.

Oder die Diplomaten. Ich habe das in diesem Jahr selbst erlebt: Immer, wenn ich ins Ausland ging, schickte das Außenministerium einen “Tiger”, der mich begleitete, um sicherzustellen, dass ich die vorgeschriebenen diplomatischen Grenzen nicht überschreite. Für die Diplomaten ist die Drogenfrage ein wichtiger Faktor in der internationalen Zusammenarbeit. Wenn ich das wegnehme, bleiben ihnen weniger Ressourcen, Räume und Plattformen. Deshalb haben sie kein Interesse, das Drogenkontrollsystem abzuschaffen.

Welches sind die wichtigsten Mythen und Stigmata, die in Peru in Bezug auf Drogen gepflegt werden?

Das erste ist zum Beispiel, dass der traditionelle Gebrauch des Coca-Blattes ein Rückfall in die Vergangenheit ist, und dass die neue Generation diese “grüne Art” der Sicht auf das Leben vergisst. Aus den nationalen Erhebungen über den privaten Coca-Konsum 2013-2019 geht jedoch hervor, dass die Zahl der Cocakonsument*innen von drei auf fünf und von fünf auf sechs Millionen gestiegen ist.

Zweitens gehen 92 Prozent der Cocablätter in den Drogenhandel und nur acht Prozent in den legalen Konsum. Wenn ein Wirtschaftszweig von einer asymmetrischen und wachstumsgierigen Industrie wie dem Drogenhandel kontrolliert, gesteuert, manipuliert und monopolisiert wird, kommt es zwangsläufig zu einer solchen Entwicklung. Wenn die legale Coca in Peru die gleichen Bedingungen für  hätte, würde auch der legale Konsum sehr stark zunehmen.

Der dritte Mythos ist, dass jeder Drogenkonsum problematisch ist. In Wirklichkeit gibt es im Universum des Drogenkonsums Nuancen, Farben und Unterschiede, die man fast als individuelle Erfahrungen bezeichnen könnte.

Wie würden Sie die aktuelle Situation des weltweiten Kokainhandels nach der Pandemie beschreiben?

Nach der Pandemie haben wir einen absolut florierenden globalen Kokainmarkt: 21 Millionen Konsument*innen weltweit; 6,5 Millionen in den USA; 4,5 Millionen in Westeuropa; 4 Millionen in Brasilien, und die werden von Kolumbien und Peru beliefert. Die Pandemie bremste den Seehandel aus und zwang die internationalen Drogenhändler, ihre globale Transportstrategie zu ändern. Also gingen sie direkt zum Amazonas. Es ist ihnen egal, ob sie direkt zum Putumayo-Fluss oder zum Yavari-Fluss gehen müssen, wo die Blätter mehr Fasern als Alkaloid enthalten. Die Strategie ist, die regionale Polizei abzulenken, um das Kokain durch Brasilien zu bringen.

Das Gleiche gilt für Ecuador,  wo bisher kein Coca angebaut wurde, obwohl es zwischen zwei Anbauländern liegt. Aber heute hat die Gewalt in Guayaquil zugenommen; in Guayas, in Santa Elena, in Manabí, ist sie fast so schlimm wie in Kolumbien. Warum? Weil die Polizei mit Kokainladungen aus Guayaquil oder Quito abgelenkt werden  sollte, wo es nicht so gefährlich war wie an den Flughäfen von Bogotá oder Lima. Dies sind kommerzielle Strategien, die uns zeigen, dass der Kokainhandel nicht zurückgegangen ist, ganz im Gegenteil.

Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro hat auf einer Pressekonferenz erklärt, dass der Krieg gegen die Drogen und die Deregulierung des Drogenhandels gescheitert seien. Er meinte, dass man in Peru “ein wenig bescheidener und realistischer” sei. Was bedeutet es, bescheiden und realistisch zu sein?

Ich werde nicht daran denken, die Weltmeisterschaft zu gewinnen, wenn ich nicht einmal die nationale Fußballmeisterschaft gewonnen habe. Das bringt meine Einschätzung auf den Punkt. Es reicht nicht aus, Recht zu haben. Man braucht eine Beziehung der Stärke, um zu überzeugen. Bevor man wie Petro spricht, muss man handeln.

Ich glaube, wenn Gustavo Petro seinen Diskurs auf das eigene Land umstellt, ist er gut bedient und wird Erfolg haben. Aber so zu tun, als ob Kolumbien als einer von 191 Akteuren es schaffen würde, die muslimische Welt, die Volksrepublik China, die Vereinigten Staaten oder die europäischen Rechten von der Notwendigkeit einer Reform zu überzeugen, halte ich für sehr problematisch. Natürlich müssen wir diese Überzeugungsarbeit leisten. Aber Gustavo Petro muss verstehen, dass es nicht in seinen Möglichkeiten liegt, dies zu erreichen. Er muss dafür sorgen, dass in Kolumbien der Anbau auf legale Weise und dauerhaft zurückgeht, dass eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt wird. Wenn wir danach eine Einigung mit Peru und Bolivien erzielen, ist das ein kleiner, realistischer Schritt. Aber wir dürfen keine Konfrontation und keinen Konflikt heraufbeschwören, mit dem wir dann im Alltag nicht mehr umgehen können.

Peru befindet sich seit einigen Jahren in einer akuten politischen Krise. Wie wirken sich politische Krisen auf die Drogenpolitik aus?

Nur auf eine Weise: Sie lenken von den Problemen ab, die hinter den Drogen stehen: Armut auf dem Land, Ausgrenzung, ungerechte, asymmetrische und unausgewogene internationale Beziehungen.

Übersetzung: Annette Brox