Wer ist in Peru „indigen“?

Im November 2016 wurde im nördlichen Regenwaldgebiet die 67-jährige Rosa Andrade Ocagane ermordet. Sie war die letzte Frau, die Resígaro sprach. Zudem gehörte sie einer Gruppe von knapp 100 Personen an, die Ocaina sprechen.

Gemäß Zahlen des Kulturministeriums1 leben in Peru noch insgesamt 55 verschiedene indigene Völker. Vier davon sind Andenvölker (Quechua, Aymara, Jaqaru und Kawki), 51 stammen aus dem Amazonasgebiet. 47 ursprüngliche Sprachen werden noch gesprochen, einige – wie Resígaro oder Ocagane – nur noch von ganz wenigen Personen. Die größten Sprachgruppen sind Quechua, Aymara und Asháninka.

Wer ist indigen?

Peru ist neben Mexiko, Bolivien, Kolumbien und Guatemala eines der Länder Lateinamerikas mit dem höchsten Anteil indigener Bevölkerung. Von den rund 32 Millionen Menschen, die heute in Peru wohnen, gehören 14%2 bis 45%3 einem der Urvölker an – je nach Schätzung und Definition.

Nach den Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der UNO sind sowohl objektive wie subjektive Kriterien ausschlaggebend, wenn es darum geht zu definieren, wer zu einem indigenen Volk gehört. So gilt als indigen, wer von einer Bevölkerungsgruppe abstammt, die in einem Gebiet schon vor dessen Eroberung oder Kolonialisierung ansässig war und die einige oder alle ihrer traditionellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einrichtungen beibehalten hat. Neben den objektiven Kriterien wie Sprache, Organisationsform, Bräuche etc. ist auch das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wichtig.


Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der UNO, deren Aufgabe es ist, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern, ist auf internationaler Ebene eine der wichtigsten Institutionen zum Thema indigene Völker. Seit ihrer Gründung 1919 ist die Situation der indigenen Völker eines der zentralen Anliegen der ILO. Die Diskriminierung und Ausbeutung der Indigenen in vielen Ländern war einer der direkten Auslöser für die Ausarbeitung und Verabschiedung des Abkommens über Zwangsarbeit von 1930 (ILO 29). 1957 verabschiedete die ILO in Vertretung der UNO das erste internationale Abkommen über die Rechte der indigenen Völker, das Übereinkommen 107. Dieses wurde 1989 abgelöst durch das Übereinkommen 169 (kurz ILO 169), das heute wichtigste internationale Instrument zur Durchsetzung der Rechte der Urbevölkerungen4.

In den Statistiken Perus gilt bis heute nur als indigen, wer eine der ursprünglichen Sprachen spricht. All jene, die aufgrund der Diskriminierung oder wegen Migration oder Akkulturation ihre Muttersprache nicht mehr sprechen, fallen aus der Statistik heraus. Ebenso alle Kinder unter 3 Jahren, bei denen noch keine Sprache erfasst wurde. Diese sehr enge Definition führt zu dem oben erwähnten geringen Anteil indigener Bevölkerung von 14%.

Ein Regionalgericht in Puno urteilte im Januar dieses Jahres, dass das internationale Übereinkommen für den Schutz der Rechte der indigenen Bevölkerung – die ILO-Konvention 169 – bei einem angeklagten Aymara-Leader nicht zur Anwendung kommt, weil dieser sein Territorium verlassen hat, über einen Doktortitel verfügt und klar gezeigt hat, dass er sich mit den geltenden Gesetzen auskennt. Indigen kann also nur sein, wer im Dorf lebt und über keine allzu grosse Bildung verfügt?

In der allgemeinen Volkszählung von Oktober 2017 wurde zum ersten Mal danach gefragt, welcher ethnischen Gruppe man sich selber zugehörig fühlt5. Die Ergebnisse der Volkszählung sind noch nicht bekannt.

Die indigenen Organisationen hatten sich stark für die Frage der ethnischen Selbstidentifikation eingesetzt. Ihre Hoffnung: Mit einer guten Datenlage wird es einfacher, die Rechte der Indigenen einzufordern und ihre politischen Forderungen voranzubringen. Gleichzeitig befürchten sie jedoch, dass viele, obwohl sie die objektiven oder subjektiven Kriterien der Zugehörigkeit zu einer indigenen Gemeinschaft erfüllen, es als Folge des Rassismus und der Diskriminierung vorziehen, sich als Bauern oder „Mestizo” zu bezeichnen.

Unterschiede zwischen Hochland- und Tiefland-Indigenen

Vor allem die Nachkommen der ursprünglichen Bevölkerung im Andengebiet empfinden die Bezeichnung „indigen”, als beleidigend, da sie sehr ähnlich klingt wie der mit Marginalisierung und Geringschätzung verbundene Begriff „indio”6 Mit der Agrarreform von 1969 wurde der Begriff „indio” auf Gesetzesebene durch „campesino” (Bauer) ersetzt und gilt seither als politisch unkorrekt. Verwendet wird er teilweise immer noch, mit derselben negativen Konnotation. Präsenter sind heute jedoch andere Begriffe zur Bezeichnung der Andenbewohner wie „serrano” oder „cholo”. Während „serrano” in anderen Ländern der Region eine rein geographische Bezeichnung ist für Menschen aus dem Berggebiet, hat der Begriff in Peru einen klar beleidigenden, erniedrigenden Beigeschmack; das Andengebiet gilt als arm und rückständig. Der Begriff „cholo” – ursprünglich auch eine despektierliche Bezeichnung – hat eine Wandlung durchgemacht und wird inzwischen unter Familienmitgliedern oder Freunden positiv verwendet7.

Die Urbevölkerung im Regenwaldgebiet ist demgegenüber eher stolz auf die eigene ethnische Identität. Das hat mit der Kolonialgeschichte zu tun – von der die Bevölkerung im Regenwald weniger stark betroffen war als die BewohnerInnen der Andenregion und der Küste – wie auch mit den Gesetzen, die den ursprünglichen Gemeinschaften im Andengebiet kollektive Rechte als „comunidades campesinas” – als „bäuerliche Gemeinschaften” – zugestehen, jenen im Amazonasgebiet als „comunidades nativas”. Ein wichtiges Merkmal dieser Gemeinschaften ist, dass sie gemeinsam ein bestimmtes Gebiet bewohnen und kontrollieren.

Extraktivismus = Ausbeutung

Perus Wirtschaftsmodell beruht primär auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung als Arbeitskräfte gehörte seit der Kolonialzeit dazu. In den Jahrzehnten des Kautschukfiebers Ende des 19. Jahrhunderts wurde vor allem in der Region um Iquitos, aber auch in anderen Gebieten, richtiggehend Jagd auf indigene Völker im Regenwald gemacht, um sie zu versklaven. Schätzungen gehen davon aus, dass in der grenzübergreifenden kolumbianisch-peruanischen Putumayo-Region um die 100.000 Indigene durch die Misshandlungen der Kautschukbarone ihre Leben verloren.

Einige Gruppen zogen sich darauf hin weiter in den Wald zurück und vermeiden seither jeglichen Kontakt zum Rest der Welt (s. Kasten Völker in freiwilliger Isolation).

Der Vater der ermordeten Doña Rosa war Ocaina, die Mutter Resígaro – beide Völker gehörten zu den Hauptopfern des Kautschukbooms. Auch danach bestanden die Feudalsysteme in vielen Gebieten fort. Wie der Amazonasexperte Alberto Chirif erklärte, erhielt Doña Rosa den Nachnamen Andrade von einem „Dienstherrn”, ebenso ihr Bruder und andere Bewohner des Dorfes. Nachnamen sind bei indigenen Völkern nicht üblich.

Heute sind die Indigenen nicht mehr primär Arbeitskräfte, sondern für das herrschende Wirtschaftsmodell vielmehr „Überflüssige”, die mit ihren Rechten dem Wirtschaftswachstum im Wege stehen. In schlechter Erinnerung ist der Vergleich von Ex-Präsident Alan García von 2009, der die Indigenen des Regenwalds mit dem „perro del hortelano” verglich, dem Hund des Gärtners, der nicht frisst und nicht fressen lässt8.

Stärker denn je sind heute die indigenen Völker Perus, ihre Territorien, ihre Lebensweise, ihre Kultur bedroht von dem extraktivistischen Wirtschaftsmodell des Landes. Legaler und illegaler Bergbau, Holzschlag, Monokulturen, Erdölförderung und auch der Bau von großen Infrastrukturprojekten, die meist an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung vorbeigebaut werden, zerstören ihren Lebensraum und bringen Konflikte.

Kollektiver Landbesitz

Das kollektive Land der „comunidades campesinas” bzw. „comunidades nativas” war über Jahrzehnte unveräusserbar, unverpfändbar und unverjährbar. Mit der Verfassung von 1993 wurden die Prinzipien der Unveräusserlichkeit und Unpfändbarkeit annulliert und auch das Prinzip der Unverjährbarkeit aufgeweicht. Seither wurden zahlreiche weitere Gesetze verabschiedet, die die kollektiven Rechte der Indigenen schwächen und die Vergabe von Land an Firmen vereinfachen.

Die Verfassung Perus anerkennt die ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes und gesteht allen BürgerInnen das Recht auf ihre ethnische und kulturelle Identität zu. In zahlreichen Bereichen der Politik und der öffentlichen Verwaltung dominiert jedoch eine Sichtweise, welche die indigene Bevölkerung als Bürger zweiter Klasse sieht. Die indigene und ländliche Bevölkerung sowie die Nachkommen der afrikanischen Sklaven sind weitaus stärker von Armut betroffen als andere Bevölkerungsgruppen9. In weiten Teilen des Regenwaldes ist der Staat nur schwach bis nicht präsent. Laut der nationalen Haushaltsstatistik von 2015 hatten 44 bzw. 42% der aymara- und quechasprechenden Haushalte keinen Anschluss an die Trinkwasserversorgung, bei den Haushalten mit „anderer indigener Sprache” waren es gar 80% (gegenüber 18,3% der spanischsprachigen Bevölkerung). Die BewohnerInnen des Regenwalddorfes Cuninico, deren Umgebung seit 2014 zwei Mal von einem Leck an der Erdölpipeline verschmutzt wurde, kämpfen bis heute für eine angemessene Intervention des Staates, um nicht mehr ölverschmutzes Wasser konsumieren zu müssen.

Die interkulturelle zweisprachige Schulbildung ist zwar seit 2002 im Gesetz verankert, aber erst 2016 wurde dazu ein nationaler Umsetzungsplan verabschiedet. Ressourcen für dessen Implementierung stehen jedoch fast keine zur Verfügung: Die staatliche Bildungspolitik setzt auf Privatisierung des Schulsystems.

Zweiklassen-Gerechtigkeit

Auch beim Thema Zugang zum Justizsystem und Rechtsprechung ist es noch ein langer Weg bis zur Gleichbehandlung. Der Mord an Rosa Andrade ist bis heute noch nicht geklärt. Gewalt und Morde an Frauen sind in Peru so alltäglich wie Straflosigkeit. Für die indigene Bevölkerung ohne die notwendigen Mittel und Sprachkenntnisse, um Druck auf die zuständigen Behörden zu machen, ist es ohne externe Unterstützung äußerst schwierig, im staatlichen – oft korrupten – System Gerechtigkeit zu erlangen.

Gelingt das allen Hindernissen zum Trotz, kann es durchaus vorkommen, dass der Staat selbst Berufung einlegt. Als im April 2017 das Verfassungsgericht entschied, die Klage von indigenen Organisationen gegen die Erdölförderung in der Parzelle 116 sei gerechtfertigt, weil keine Vorabkonsultation durchgeführt worden war, wurde das als historischer Entscheid für die Rechte der Indigenen gefeiert. Nur wenige Tage später jedoch legte das Bergbau-und Energieministerium Berufung gegen das Urteil ein, „um die Interessen des Staates zu schützen und die Rechtssicherheit zu garantieren”.

Letzten Dezember feierte das Volk der Achuar: Ein Gericht in Iquitos hatte entschieden, dass das Volk als ganzes als juristische Persönlichkeit anerkannt werden und ihm der Landtitel für das ursprüngliche Territorium inklusive natürliche Ressourcen erteilt werden muss. Die Sache ist aber noch nicht gegessen: sieben staatliche Einheiten haben das Urteil angefochten. Nicht nur das Energieministerium und die staatliche Erdölfirma, sondern auch die Regionalregierung von Loreto, die das Urteil umsetzen müsste und – wohl am bedenklichsten – das Kulturministerium, zu dessen Aufgaben es gehört, die Rechte der indigenen Völker zu schützen.


Völker in freiwilliger Isolation
Im peruanischen Regenwaldgebiet leben gemäss Schätzungen mindestens 15 verschieden indigene Gruppen, die ohne – oder nur mit ganz begrenztem – Kontakt zur „Außenwelt” leben, die meisten von ihnen in den abgelegensten Grenzgebieten zu Ecuador, Bolivien und Brasilien. Alle diese Völker befinden sich einer Situation extremer Verletzbarkeit. Ein Kontakt mit Krankheitserregern der Außenwelt, gegen die sie keine Abwehrkräfte haben, kann zum Tod einer ganzen Gruppe führen. Ihre Territorien sind immer stärker Eingriffen von außen ausgesetzt. Peru unternimmt einerseits Maßnahmen zum Schutz der Völker in Isolation. So wurden beispielsweise fünf Schutzgebiete, sogenannte “reservas territoriales”, für diese Gruppen definiert. Andererseits werden Gesetze verabschiedet, die sie klar in Gefahr bringen. Wie jüngst das Gesetz Nr. 30723, das den Bau einer Straße in Ucayali im Grenzgebiet zu Brasilien zu einem Projekt von nationalem Interesse erklärt. Das Projekt betrifft direkt zwei dieser „reservas territoriales” , zudem drei Gebiete, die indigenen Gemeinschaften gehören, und vier Umweltschutzgebiete!

Flurina Doppler (Sozialanthropologin) arbeitet seit September 2015 als Comundo-Fachperson bei der Nichtregierungsorganisation Forum Solidaridad Perú in Lima.


Anmerkungen:

1 Datenbank über indigene und usprüngliche Völker, www.bdpi.cultur.gob.pe

2 http://censos.inei.gob.pe/cpv2007/tabulados – Nationale Volkszählung von 2007

3 https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/pe.html

4 Siehe dazu InfoPeru 42 oder https://www.infostelle-peru.de/wirtschaft-und-bergbau/schlechte-noten-fuer-die-umsetzung-der-ilo-konvention-169/ (Online-Version, ohne Kasten zu ILO 169) oder https://www.survivalinternational.de/indigene/ilo (nicht spezifisch Peru)

5 Die Optionen im Fragebogen waren: 1) Quechua 2) Aimara 3) Indigen aus dem Amazonasgebiet, mit Platz für konkrete Angabe 4) Anderes ursprüngliches oder indigenes Volk, mit Platz für konkrete Angabe 5) Schwarz, “Moreno”, Zambo oder Mulato / Volksgruppe afrikanischer Abstammung 6) Weiß 7) Mestizo 8) Andere, mit Platz für konkrete Angabe

6 Die Herkunft der Worte steht allerdings in keinem Zusammenhang. Der Begriff „indio” geht auf den historischen Irrtum von Kolumbus zurück, der bei seiner Ankunft in Amerika glaubte, in Indien zu sein und die BewohnerInnen folglich „Indianer” nannte. Das Wort „indigen” stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „eingeboren”.

7 Ausdruck davon ist der populäre Walzer „Cholo soy (y no me compadezcas)” (Cholo bin ich (und bemitleide mich nicht deswegen) des Musikers Luis Abanto Morales.

8 Des Gärtners Hund ist eine literarische Figur aus einer Komödie des spanischen Dichters Lope de Vega.

9 Gemäß nationaler Haushaltsstatistik von 2015 sind 14.8% der spanischprachigen Bevölkerung Perus arm, jedoch 25% der Quechuasprechenden, 34.8% der Aimarasprechenden und 48.1% derer, die eine andere indigene Sprache sprechen (Encuesta nacional de Hogares 2015).