Tarcila Rivera (© Ojo Público)

“Wenn die Tradition gegen die Frauen- und Persönlichkeitsrechte geht, muss sie verändert werden”

Interview mit Tarcila Rivera, Aktivistin und Expertin für indigene Rechte und Identität.

Tarcila Rivera ist Präsidentin des Vereins Chirapaq und Menschenrechtsaktivistin. Sie gilt als eine der wichtigsten Aktivistinnen für indigene Rechte in Lateinamerika. Diego Salazar von der Nachrichtenplattform OjoPúblico sprach mit ihr über die Herausforderungen für die Demokratie in Peru, Rassismus und den Kampf für die Rechte der Frauen. Wir haben das Interview übersetzt und gekürzt. Den kompletten Beitrag auf Spanisch können Sie hier lesen. Wir danken OjoPúblico für die Erlaubnis zur Übersetzung und Veröffentlichung.

Was ist Rassismus heute und wie äußert er sich?

Schon lange fragen wir uns, warum alle indigenen Völker, insbesondere die Frauen, von der Politik, von staatlichen Investitionen und von der sozioökonomischen und kulturellen Entwicklung des Landes ausgeschlossen sind. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es immer noch Ländern gibt, in denen immer noch diese völlig kolonialisierte und sogar kolonisierende Mentalität vorherrscht. Hier werden die Politik und die Einstellungen der Machthabenden von einem Blick von oben nach unten dominiert. Rassismus ist eine der schlimmsten Formen von Gewalt, weil er unser Selbstwertgefühl schwächt.

Sie greifen uns an, grenzen uns aus, machen uns schlecht, so sehr, dass wir glauben, wir seien wirklich Menschen ohne Rechte. Die Tatsache, dass wir von indigenen Völkern abstammen, unsere eigenen Sprachen sprechen, in unseren eigenen geografischen Räumen leben und unsere eigenen kulturellen Ausdrucksformen haben – die in vielen Fällen für den Tourismus und als Folklore genutzt werden -, führt dazu, dass wir in den Medien nicht als soziokulturelle Akteur*innen anerkannt werden.

Das Ausmaß der verbalen Gewalt bei den letzten Wahlen in Peru hat gezeigt, wie rassistisch und klassenorientiert unsere Gesellschaft nach wie vor ist. Auch die Pandemie hat den rassistischen und klassenorientierten Charakter des Staates offenbart. Wie kommt es, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der offiziellen Aufmerksamkeit des Staates komplett ausgeschlossen wurde? Beschäftigung, durchschnittliches Monatseinkommen und öffentliche Dienstleistungen: in all diesen Bereichen wurden wir nicht berücksichtigt. Der Staat und unsere Eliten wollen sich nicht um die Randgebiete kümmern, die zum Beispiel Lima umgeben. Die Pandemie hat gezeigt, dass ein großer Teil der peruanischen Gesellschaft am Rande der staatlichen Politik steht. Vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Beschäftigung. Und die schlimmen Situationen, mit denen wir konfrontiert waren, wurden in einigen Fällen auch noch romantisiert. Zum Beispiel der Fall der so genannten “Wanderer”, dem ein Hauch von Poesie verliehen wurde. Eine herzzerreißende Realität. Ganze Familien, die zu Fuß in ihre Herkunftsorte zurückkehren mussten, weil sie in Lima nicht das nötigste Einkommen zum Überleben sichern konnten. Oder Mütter, die mit ihren Kindern in den höchstgelegenen Teil des Dorfes gehen mussten, um eine Mobilfunkverbindung zu haben, damit ihre Kinder das benötigte Material herunterladen oder einer Unterrichtsstunde zuhören konnten. Und das wurde so dargestellt: “Oh, wie schön, sie sind den ganzen Weg auf den Berg gegangen, um eine Verbindung zu haben, damit ihre Kinder studieren können.”

Wenn die Realität nicht schön und ganz und gar nicht romantisch ist, ist es eine Schande, dass Familien solche Situationen durchleben müssen, weil der Staat nichts unternimmt. Vielleicht hat die Berichterstattung dazu beigetragen, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Denn wer wüsste schon von dieser Realität, wenn nicht eine Fernsehkamera oder der Staat davon Notiz nehmen würden? Es ist, als ob sie jahrelang verheimlicht worden wäre. Und die Pandemie hat sie uns mit einer Heftigkeit vor Augen geführt, die man nur schwer ignorieren kann. Auch wenn manche darauf bestehen wollen, dass “wir alle gleich sind”. Leider sind wir in Peru nicht alle gleichberechtigt.

Und während die peruanische Regierung in einer Pandemie ankündigte, dass die Menschen sich häufig die Hände waschen sollten, hatten Tausende von Menschen in ihren Häusern kein sicheres Trinkwasser. All dies steht in schockierendem Gegensatz zu dem Bild des Erfolgs, das Peru in den letzten 20 Jahren seit der Rückkehr zur Demokratie vermittelt hat.

Natürlich, wenn man sich zum Beispiel die Hügel anschaut, jetzt, wo wir einen schrecklich nassen Winter haben, die Menschen, die unter Pappkartons leben, die kein Dach und keinen Boden haben, der sie schützt, die jeden Tag einen Kanister Wasser kaufen müssen, weil das Wasser nicht ankommt, die kein Abwassersystem haben. Wie kommt es, dass diese Menschen, Bürger*innen wie Sie und ich, für die staatlichen und lokalen Regierungen keine Priorität darstellen? Manche Gruppen verbreiten die Idee, dass die Untätigkeit der Regierung und die Ungerechtigkeiten durch Spenden gemildert werden können. Wir, die indigenen Frauen, glauben nicht, dass Spenden irgendeine Art von Lösung darstellen. Die Menschen brauchen keine Geschenke und Almosen. Sie brauchen eine gute Ausbildung, Weiterbildungsmöglichkeiten und angemessene Arbeitsplätze. Wir und unsere Kinder müssten nicht betteln, wenn wir diese Möglichkeiten hätten. Wir müssten nicht in die Volksküchen zu gehen. Wir könnten vielmehr selbst oder genossenschaftlich organisiert ein eigenes Einkommen schaffen. Die Fähigkeiten und Kreativität sind vorhanden, aber die Versprechungen zur Beseitigung der Armut gehen nicht über Spenden hinaus.

Dient diese spendenorientierte Politik Ihrer Meinung nach also einer ähnlich perversen Funktion wie die Romantisierung des Kampfes gegen die Armut, von der wir vorhin gesprochen haben?

Sie macht die Realität unsichtbar und erlaubt es einigen wenigen zu sagen, dass sie “Gutes” tun, aber das hat keine wirkliche und dauerhafte Wirkung. Was wir fordern, ist eine bessere Verteilung der Ressourcen, so dass beispielsweise Unternehmen der Extraktivwirtschaft, die in unseren Territorien Erträge erwirtschaften, keine Steuern hinterziehen. Die Einkünfte müssen gerecht verteilt und die Bedarfe der Bevölkerungsmehrheit wirklich berücksichtigt werden. Wir brauchen keine Geschenke oder besonderen Zugeständnisse. Wichtig sind Investitionen, damit wir alle einen durchschnittlichen, würdigen Lebensstandard erreichen können. Eine ausreichende Bildung zu haben, die es mir ermöglicht, wettbewerbsfähig zu sein, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein Einkommen für meine Familie zu erwirtschaften, ist kein Privileg und sollte es auch nicht sein.

Wenn der Staat aber zulässt, dass Steuern hinterzogen werden, wenn das eingenommene Geld der Korruption dient, und dann diese Ungleichheiten mit Spenden ausgeglichen werden sollen, um so angeblich Hunger und Not zu bekämpfen, wird in Wirklichkeit nichts erreicht, außer Abhängigkeit zu erzeugen und uns ruhig zu stellen. Wir sind ein Volk mit einer Tradition der Arbeit, der Kreativität und der Widerstandsfähigkeit in den schwierigsten Situationen, sonst wären wir schon längst verschwunden. Sehen Sie sich nur die Berge am Stadtrand von Lima an, diese blühende Wirtschaft, wer hat sie gefördert? Hat der Staat dort investiert? Ganz und gar nicht. Es sind die Bemühungen der Menschen selbst.

Hat sich an der Bildungssituation in den letzten Jahren etwas geändert?

Wir haben heute Jugendliche und Heranwachsende, die ihre Umwelt und das, was mit ihnen geschieht, besser wahrnehmen. Junge Führungskräfte sind sich beispielsweise der Komplikationen von Teenagerschwangerschaften bewusst. Dies ist ein großer Schritt nach vorn. Diese jungen Frauen sind sich bewusst, dass sie Rechte haben, dass sie sich informieren sollten und dass sie sich eine Chance für ihre berufliche und persönliche Entwicklung aufbauen können, ohne z. B. auf eine frühe Heirat oder die Vorstellung, dass der Mann sie unterstützen wird, zurückzugreifen. Trotzdem ist es immer noch eine Herausforderung für diese sehr klaren und intelligenten jungen Frauen, die gleichen Chancen zu haben wie ihre Altersgenossinnen in anderen Teilen des Landes oder in anderen Sektoren.

Was brauchen sie dafür?

Dazu muss nicht nur die Qualität der Sekundarschulbildung im ganzen Land verbessert werden. Sie kann auch in den ländlichen Gebieten nicht dieselbe sein wie in der Stadt. Die Beziehung zur Umwelt ist anders, die Geschichte und die Kultur selbst sind anders. Das bedeutet nicht, dass sie ihr Wissen nicht mit Schüler*innen aus anderen Teilen des Landes teilen sollten, aber es braucht ein Konzept, das die bestehenden Unterschiede berücksichtigt und die Entwicklung von Fähigkeiten, Selbstwertgefühl und das Bewusstsein für die eigenen Rechte in den Vordergrund stellt.

Eine kritische Überprüfung der Bildungsinhalte im ganzen Land ist unerlässlich. Um noch einmal auf das Thema Rassismus zurückzukommen: Wenn die Schüler*innen in Miraflores nicht erkennen, dass diejenigen, die weiterhin Kartoffeln in ihrer großen Vielfalt anbauen, dies schon vor der spanischen Invasion getan haben und dass sie die Nachkommen dieses Landes sind, die ihm seinen historischen kulturellen Reichtum verliehen haben, dann wird der Rassismus weiter bestehen. Denn man ist sich nicht bewusst, dass die Geschichte Perus nicht mit den Ankömmlingen begann, sondern dass es hier bereits eine frühere Zivilisation gab, deren Erb*innen wir noch immer sind. Interkulturelle Bildung muss national sein, für alle.

Wie überschneiden sich Ihrer Meinung nach der Kampf gegen Rassismus und feministische Forderungen?

Wir sind alle Frauen, die für ihre Rechte kämpfen, aber die Forderungen einer akademischen Feministin aus der oberen Mittelschicht sind nicht dieselben wie die einer indigenen, Quechua sprechenden, nicht akademischen Frau. Aber wir haben in den letzten 30 Jahren viel voneinander gelernt. Denn wir indigenen Frauen haben in den 1980er Jahren oder früher mit der Bewegung begonnen und kollektive Rechte als Völker gefordert: Sprache, Kultur, Territorium. Wir waren stark in diesem Kampf für kollektive Rechte. Um individuelle Rechte als Frauen haben wir uns erst später gekümmert.

Und so sagen wir heute, dass kollektive und individuelle Rechte unteilbar sind und sich ergänzen. Ich zum Beispiel stamme aus einer Generation, in der die Eltern Ehen arrangierten. Heute akzeptieren die jungen Frauen nicht mehr, dass Ehen für sie arrangiert werden, obwohl dies Teil der Tradition war. Sie nehmen ihr Recht wahr, selbst zu entscheiden. Sie haben das Recht zu entscheiden, ob sie weiter studieren wollen, ob sie einen Beruf ergreifen wollen, ob sie heiraten wollen oder nicht, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Das ist für uns heute ganz klar. Genauso wie es Traditionen gibt, die als kulturelle Ausdrucksformen verteidigt wurden. Wenn eine Tradition allerdings gegen die Würde und die Grundrechte als Frau und als Person verstößt, muss sie geändert werden.

Die jungen Frauen haben auch das Recht, die indigenen Frauen von heute zu sein, die nicht mehr nur durch ihre Herkunft, ihre Sprache und ihre Kleider definiert werden, und sie haben auch ein Recht auf Mobilität. Sie erkennen sich selbst als Nachkommen an, sie erkennen ihre Vorfahren an, aber sie verdienen den gleichen Respekt und die gleichen Chancen wie jede junge Frau.

Auf der einen Seite haben wir den Machismo und den strukturellen Rassismus des Staates, auf der anderen Seite haben wir aber auch eine bestimmte kulturelle Tradition, die indigene Frauen belastet. Das haben wir in den letzten Tagen gesehen, als Frauen, die der Hexerei beschuldigt wurden, von den Rondas Campesinas verhaftet und gefoltert wurden.

Das ist inakzeptabel. Wir können nicht zulassen, dass die Würde der Menschen mit einer solch subjektiven Anschuldigung missachtet und missbraucht wird. Dies ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Wir haben ähnliche Fälle erörtert, wie z. B. den Fall der Genitalverstümmelung, die in einigen Dörfern in Kolumbien, in einigen Dörfern im peruanischen Amazonasgebiet und vor allem in Afrika immer noch vorkommt. Anhand dieser Beispiele haben wir viel darüber diskutiert, was Tradition und Moderne ist, was Tradition und Menschenrechte sind. Und wir haben auch gehandelt und die Abschaffung der Genitalverstümmelung in allen Staaten zur Pflicht gemacht. In unserem Land, um ein weiteres Beispiel zu nennen, gibt es Fälle von Frühschwangerschaften und sexueller Gewalt gegen Mädchen, die früher aus Angst verschwiegen wurden. Die Dinge ändern sich, es kostet viel Arbeit und Mühe, aber wir sorgen dafür, dass sie sich ändern. Und wir müssen weitermachen, denn wir müssen den Bürger*innen und vor allem den Politiker*innen die Realität vor Augen führen und verstehen, welche tiefgreifenden Veränderungen wir brauchen. Denn es scheint, dass die Politiker nur im Wahlkampf mit der Realität konfrontiert werden wollen und sie dann vergessen, wenn sie in den Palast kommen.

Der Amtsantritt von Präsident Castillo weckte bei den indigenen Gemeinschaften gewisse Erwartungen. Wurden diese anfänglichen Erwartungen angesichts der Untätigkeit der Regierung auf mehreren Gebieten und der Korruptionsermittlungen gegen den Präsidenten und seine engsten Vertrauten wieder einmal enttäuscht?

Dies ist in der Tat der Fall. Und es ist schrecklich, weil die Enttäuschung groß ist, aber ehrlich gesagt, sind wir seit Toledo enttäuscht, wie viele Peruaner*innen. Auch von Toledo haben viele geglaubt, dass er ein indigener Präsident sei und dass er manche Probleme lösen würde.

Ich wurde im Wahlkampf angegriffen und als Terroristin bezeichnet, weil ich angeblich den Kandidaten Castillo unterstützte. Ich habe niemanden unterstützt. Aber eine Kampagne, in der der andere rassistisch klassifiziert, verhöhnt und auf der Grundlage von Vorurteilen angegriffen wird, ist nicht ethisch. In diesem Kontext stimmten viele für Castillo, weil sie das Gefühl hatten, keine andere Wahl zu haben.

Doch trotz seiner Behauptungen vertrat Castillo nicht die indigenen Gemeinschaften, sondern höchstens seine Gewerkschaft. Und jetzt, nach fast einem Jahr Regierungszeit, ist die Situation sehr frustrierend. Denn zusätzlich zu all den Misserfolgen seiner Regierung meinen viele, dass wir aufgrund dieser Identifikation eine eigene Macht werden können.

Wenn man Zugang zur Macht haben will, muss man wissen, wofür man da ist und mit welchen Fähigkeiten, mit welchen Mitteln und mit welcher Vision man eine Machtposition einnehmen will. Das ist das Wichtigste. Ob man Indigene*r ist oder nicht. Und hier hat der Präsident eindeutig versagt. Man muss wissen, woher die Macht kommt, man muss das Land kennen, und man muss wissen, dass in diesem Land Bevölkerungsgruppen historisch vernachlässigt wurden, dass es immer noch Lücken in der Ausübung der demokratischen Macht gibt. Aber das scheint niemanden zu interessieren, denn wo werden die neuen Führungspersönlichkeiten ausgebildet, wo werden die Politiker*innen ausgebildet?

Was war die größte Enttäuschung mit dieser Regierung?

Der erste Punkt ist für mich, dass uns nicht zugehört wird. Wenn man ein Land mit seinen Problemen, aber auch mit seiner Vielfalt regieren will, muss man den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zuzuhören. Wo ist der Raum, in dem die Zivilgesellschaft zum Regierungshandeln beitragen könnte, in dem der Präsident zuhört? Einen solchen Raum gibt es nicht. Und weil es ihn nicht gibt und niemand zuhört, kommt von der Regierung jeden Tag etwas anderes, das nichts mit den Bedürfnissen der Bürger*innen zu tun hat. Der Präsident sagt, dass das Volk regiert, aber dem Volk wird nicht zugehört, es gibt keinen Dialog zwischen Regierung und Zivilgesellschaft. Ich weiß also nicht, wo die Stimme des Volkes in den Plänen der Regierung für die nächsten vier Jahre zu finden ist.

Auch in der Frauenfrage hat die Regierung versagt. Wir werden weiter vernachlässigt. Unsere Rechte und Anliegen haben keine Priorität. Wo sind die mittel- und langfristigen Lösungen, die Vorschläge, um Ungerechtigkeiten aufzuheben und Entwicklungschancen zu bieten? Wir haben ein Problem als Land: uns fehlt es in vielen Bereichen an Perspektive und Planung.

Waren Sie überrascht von der geringen Präsenz von Frauen in dieser Regierung?

Ja, eine weitere schwere Enttäuschung. In der Regierung sind konservative Gruppen und Männer, die große Machos sind, gut vertreten. Manchmal werden gewisse Zugeständnisse gemacht, aber es gibt keinen Glauben an die Fähigkeiten der Frauen. Wir dürfen dieses Verhalten gegenüber Frauen nicht rechtfertigen. Sehen Sie, wir sind eine Gesellschaft mit so vielen Vorurteilen, auf beiden Seiten, und der Aufbau von Gesellschaften, die sich gegenseitig respektieren, ist harte Arbeit, eine tägliche Aufgabe für uns alle.

Ich möchte auf die fehlenden Räume für den Dialog zurückkommen. Was ist Ihrer Meinung nach die Verantwortung der Medien?

Ich denke, in unserem Land arbeitet leider jeder in seinem eigenen Ghetto. Wo gibt es Räume und Austauschmöglichkeiten, in dem Ideen und Initiativen gesammelt und und für alle nutzbar gemacht werden? Die haben wir nicht. Auch die Medien sind von dieser Ghetto-Mentalität geprägt. So blieben dieser Tage die Journalist*innen stumm, als behauptet wurde, es gäbe keine indigenen Bewegungen oder Forderungen in Peru.

Was entgegnen Sie denen, die behaupten, dass es in Peru keine indigenen Ansprüche gibt?

Ich weiß nicht, ob sie aus Unwissenheit sprechen oder ob es einfach eine bösartige Haltung ist, um politischen Positionen zu verteidigen. Denn sie müssen wissen, dass bei der Volkszählung 2017 25% der Bevölkerung als indigene Bevölkerung anerkannt wurden. Jeden Tag sehen wir die Äußerungen oder Aktionen der indigenen Völker Amazoniens, die für ihre Rechte kämpfen. Und wir sehen auch, dass Quechua- und Aymara-Vertreter*innen weiter an Präsenz gewinnen und dafür kämpfen, dass unsere Identität anerkannt wird und der Staat sich um uns genauso kümmert wie um alle anderen. Die Behauptung, es gäbe keine einheimischen Bewegungen, ist also Unsinn. Was uns aus politischer Sicht fehlt, sind Führungspersönlichkeiten, die die Kämpfe z. B. der Anden- und Amazonasvölker zusammenführen können. Aber ich muss sagen, dass Rassismus, Diskriminierung und diese Ghetto-Dynamik leider auch in unseren Gemeinschaften reproduziert werden.

Können Sie das erklären?

Ja, natürlich. Die auf Vorurteilen beruhende Hierarchie wurde reproduziert. Es werden Unterschiede gemacht zwischen denen, die noch in den Dörfern leben, und denen, die die Gemeinschaft vor langer Zeit verlassen haben und zurückkommen und sich als überlegen betrachten. Geld, Macht und Missverständnisse schaffen Spaltungen innerhalb unserer Gemeinschaften.

Welche Fortschritte erkennen Sie in all den Jahren des Aktivismus?

Wir haben einiges erreicht: Heute stehen wir als indigene Völker auf der internationalen Agenda, und der Staat ist verpflichtet, sich an die Richtlinien und Empfehlungen der UN-Organisationen zu halten. Dies alles sind Erfolge. Peru ist keine Insel mehr, sondern beteiligt sich an dem großen internationalen Konzert zu diesen Themen. So hat das Ständige Forum der Vereinten Nationen für indigene Angelegenheiten 1.600 Empfehlungen ausgesprochen, darunter auch Empfehlungen, die die Staaten in Bezug auf Sprache, Bildung, interkulturelle Gesundheit und Achtung der territorialen Rechte der indigenen Bevölkerung umsetzen sollten.

Das ILO-Übereinkommen 169, das den Schutz der Rechte indigener Völker garantiert, ist für den Staat verbindlich. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Wahrung der territorialen Rechte, die oft mit den Interessen bestimmter Industrien wie dem Großbergbau kollidieren, sowohl in den Anden als auch im Amazonasgebiet. Hier versuchen die durch diese internationalen Übereinkommen geschützten Gemeinschaften, ihre Gebiete und die natürlichen Ressourcen aller zu verteidigen. Allerdings sind sie mit der Untätigkeit des Staates konfrontiert.

Ein Beispiel für die Untätigkeit ist die Ölkatastrophe von Repsol in Ventanilla. Es sind viele Monate vergangen, ohne dass nennenswerte Fortschritte erzielt wurden. In dieser Woche berichteten die Medien, dass die Fischer noch immer nicht zur Arbeit in das Gebiet zurückkehren können.

Unsere Regierungen sind nicht stark und nicht entschlossen genug, um sicherzustellen, dass die Rechte ihrer Bürger*innen geachtet werden. Es gibt einen Dialog zwischen den Erdöl- oder Bergbau-Unternehmen und indigenen Völkern. Und einer der wichtigsten Aspekte ist, dass Unternehmen, die Mineralien oder Ressourcen in indigenen Gebieten abbauen wollen, die Menschenrechtsstandards einhalten müssen. Aber der Staat muss unsere Rechte durchsetzen, und er tut es nicht. Genau darin liegt der Rassismus in der Machtausübung, denn sie glauben, dass die Anden- oder Amazonasbevölkerung nicht die gleichen Rechte hat wie zum Beispiel die Einwohner*innen von Lima. Wie ist es möglich, dass das, was mit Repsol passiert ist, passiert ist, dass Monate so vergehen und nichts passiert? Und der Hauptschuldige ist der Staat, aber auch die Gesellschaft hat nicht so reagiert, wie sie es sollte. Wir haben das Thema vernachlässigt.

Leider sind wir eine zersplitterte Gesellschaft, in der wir alle in unseren eigenen Ghettos und Blasen leben. Wir müssen Wege finden, dies zu überwinden. Und auch die Medien sollten dies verstehen und sich kritisch mit dem Zustand der Dinge auseinandersetzen.

Zusammenfassung und Übersetzung: Annette Brox