Im Amazonasgebiet geht die „koloniale Eroberung“ weiter: illegale Abholzung, Monokulturen, Straßenbau, Bergbaukonzessionen, illegaler Goldabbau, mennonitische Kolonien und Drogenhandel. Die Sicht auf das Amazonasgebiet als „unbewohntes“ Land, das ausgebeutet und profitabel gemacht werden kann, ist die Fortsetzung eines jahrhundertealten Rassismus. Dem setzen die indigenen Völker ihre eigene Strategie entgegen: territoriale Kontrolle und indigene Selbstverwaltung.
In den letzten Jahren haben sich im peruanischen Amazonasgebiet immer mehr indigene Gemeinschaften und Völker auf den Weg zur indigenen Selbstverwaltung gemacht. Dazu gibt es unterschiedliche Strategien und Erfahrungen. Weit fortgeschritten sind etwa die Autonome Territoriale Regierung der Wampís-Nation (GTAW), die Autonome Territoriale Regierung der Awajún (GTAA) und die Föderation der Achuar-Nation von Peru (FENAP). Auf halbem Weg sind z.B. Initiativen der Shawi, Kukama und Shipibo (Coshicox). Andere Völker befinden sich noch im Anfangsstadium.
„Autonomie“ und „Selbstverwaltung“ sind neuere Begriffe für diese Bewegung. Tatsächlich gibt es das Bestreben der indigenen Völker nach Selbstverwaltung schon viel länger. Es ist auch keine isolierte Entwicklung in Peru. Weltweit gibt es Erfahrungen auf dem Weg zu indigener Autonomie: etwa die Selbstverwaltung der Inuit in den 1980er und 1990er Jahren in Grönland und Nunavut, mit der sie gegenüber Staaten wie Dänemark und Kanada ihre „Lebensfähigkeit“ unter Beweis gestellt haben; oder der Indigene Regionalrat Cauca (Consejo Regional Indígena del Cauca) in Kolumbien.
Auch bei den Vereinten Nationen gewinnt das Thema an Gewicht: Das Ständige Forum für indigene Fragen 2024 machte die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung zum Thema – ein wichtiger Schritt.
Von drei unterschiedlichen Strategien zur Schaffung indigener Territorien berichtete Ermeto Tuesta[1] in einem von der Infostelle Peru und dem Klima-Bündnis veranstalteten Fachgespräch. Eine erste Möglichkeit ist die Gruppierung mehrerer indigener Gemeinden, um ein Territorium zu schaffen. In anderen Modellen werden indigene Gemeinden, indigene Schutzgebiete und Naturschutzgebiete zusammengefasst, um ein Territorium zu bilden. Dies birgt den Nachteil, dass die Naturschutzgebiete Eigentum des Staates sind und von Sernanp, der staatlichen Behörde für Naturschutzgebiete, verwaltet werden. Die Indigenen als ursprüngliche Eigentümer*innen der Gebiete werden somit zu Pächtern und müssen für ihre Aktivitäten eine Erlaubnis bei Sernanp beantragen. Am Weitestgehenden ist die Schaffung eines integralen Territoriums. Dabei legt ein indigenes Volk sein Territorium fest und zonifiziert es. Das sieht die peruanische Gesetzgebung nicht vor. Eine gesetzliche Grundlage bietet jedoch die ILO-Konvention 169. Artikel 7 besagt, dass indigene Völker das Recht haben, ihre eigene Art der Entwicklung zu bestimmen und zu kontrollieren. Einige lokale und Provinzregierungen in Peru erkennen die Territorien an. In Kolumbien, Bolivien, Ecuador und anderen Ländern werden sie dagegen auch vom Nationalstaat anerkannt.
Extraktivismus und Rassismus treiben die Selbstverwaltung voran
Autonomie gehört zur kulturellen Identität und Geschichte eines jeden Volkes im Amazonasgebiet, schreibt der peruanische Soziologe Roberto Espinoza in einem Debattenbeitrag auf Debates Indigenas. Zu einer Bewegung wurde sie in Peru, als die indigenen Territorien politisch immer mehr unter Druck gerieten. Das fing 1993 an, als die Fujimori-Diktatur den „unveräußerlichen und unteilbaren“ Charakter der Territorien aus der Verfassung strich. Und sie wuchs weiter, als die nachfolgenden Regierungen das extraktivistische Wirtschaftsmodell fortsetzten, was zur Spaltung und Repression gegen indigene Gemeinden führte. Die Autonomieforderungen wurden lauter, als der Staat als erster die besonderen rechtlichen Regelungen der indigenen Schutzgebiete missachtete. Dann folgte die rassistische Gewalt des Leuchtenden Pfades und der Revolutionären Bewegung Tupac Amaru (MRTA), die die Indigenen zur Selbstverteidigung zwang. Und heute führt die staatliche Politik dazu, dass die Autonomiebestrebungen immer stärker werden: mit der Duldung der Gewalt bei extraktivistischen Projekten, mit anhaltender Korruption, der Vernachlässigung der Amazonasregionen, mit Repressionen gegen indigene Gemeinden und der Untätigkeit der Behörden.
Mit Autonomie und Selbstverwaltung verfolgen die indigenen Völker drei Ziele: Überwachung, Kontrolle, Schutz und Verwaltung ihrer Territorien, das dauerhafte Überleben der Wälder und der Völker sowie Entscheidungsprozesse, die ihrer Kultur und Geschichte entsprechen. Mit Separatismus, der ihnen gelegentlich vorgeworfen wird, hat das nichts zu tun, sagt Roberto Espinoza. Die indigenen Völker haben Artikel 46 der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker anerkannt: „Nichts darf so ausgelegt werden, dass es die territoriale Unversehrtheit oder politische Einheit der Staaten zerstört oder beeinträchtigt.“
Der Weg zur Territorialität und Selbstverwaltung
Der Prozess der Landtitulierung ist ein mühsamer Weg, schreibt Ermeto Tuesta. Registrierung, Anerkennung, Demarkierung und Titulierung sind die formalen Schritte. Besonders problematisch ist, dass notwendige Voraussetzung für die Titulierung eine Bodenklassifizierung ist, bei der festgelegt wird, wofür das Land genutzt werden darf – zum Beispiel als Weidefläche oder Landwirtschaftszone. Dabei können Waldflächen und Wasserläufe nicht als indigenes Territorium tituliert werden, obwohl diese immer zum angestammten Gebiet indigener Völker gehören und integraler Bestandteil ihres Lebensraums sind, etwa wenn es sich um Jagd- und Fischgründe handelt. Eigentum der indigenen Gemeinde kann nach Gesetzeslage nur die landwirtschaftliche Nutzfläche sein. Für die Nutzung des Waldes und der Naturschutzgebiete dagegen ist eine staatliche Genehmigung nötig. Dass sich auf den oft schlecht ausgearbeiteten Plänen der Behörden häufig Waldnutzung und indigene Territorien überschneiden, führt zu Unklarheiten und Streit. Ein weiteres großes Problem: Wegen ungeklärter Zuständigkeiten und mangelnden Interesses der Behörden dauert der Prozess der Titulierung oft Jahre – Zeit, in der die Zerstörung der Gebiete weitergeht. Und es bedeutet auch enormen zeitlichen Aufwand und hohe Kosten für die indigenen Vertreter, die für die Behördentermine immer lange Wege in die Provinzhauptstadt zurücklegen und viel Geld für Transport, Übernachtung und Essen aufbringen müssen.
Die Bildung Autonomer Terrritorialregierungen, der umfassendsten Form indigener Selbstverwaltung, beinhaltet immer drei Schritte, so Roberto Espinoza. Der Prozess beginnt damit, die Erinnerung und das Wissen um das angestammte territoriale Territorium wiederzuerlangen: In welchen Gebieten wurde traditionell gesiedelt, gejagt, gefischt, gesammelt, wo wurden die Toten begraben? Darüber muss mit den benachbarten Völkern eine Einigung gefunden werden. Nicht-indigene Siedlungen, Konzessionen und Schutzgebiete werden für künftige Vereinbarungen registriert.
Anschließend wird ein Dossier mit historischen, ökologischen, rechtlichen, territorialen und zonalen Karten zusammengestellt. Dieses Dossier wird den staatlichen Behörden übergeben, damit das Territorium respektiert und keine extraktivistischen Aktivitäten zugelassen werden. In diesem Sinne beschreiben die Artikel 13 und 14 der ILO-Konvention 169 die integrale angestammte Territorialität sowohl als den Lebensraum, den die Völker bewohnen, als auch als das Gebiet, das sie für ihre traditionellen Aktivitäten und ihren Lebensunterhalt nutzen.
Die geltenden peruanischen Gesetze erkennen eine kollektive Institutionalität nicht an. Indigene Völker werden in mehrere Gemeinden aufgeteilt, für die dieselben Regeln gelten wie für jede städtische Bürgervereinigung. Gefordert wird deshalb ein spezielles „Register für indigene Völker“. Die Regionalregierung von Loreto etwa hat die Existenz von 22 indigenen Völkern anerkannt, was allerdings vom Kulturministerium blockiert wurde. Schon länger gibt es die Initiative für ein Autonomiegesetz, damit der Staat seiner Verpflichtung nachkommt, die Völker als Rechtspersonen anzuerkennen.
In der dritten Phase wird eine Satzung der autonomen Regierung erstellt, in der verschiedene Aspekte zusammengefasst werden: die Geschichte des Volkes, seine Kosmovision, die territoriale Abgrenzung und die Struktur der kollektiven Regierung; Regelungen zu den Wäldern, der biologischen Vielfalt, der Bildung, der Gesundheit und der Justiz; die Beteiligung der Weisen und der Jugend sowie die Beziehung zu nicht-indigenen Siedlungen und staatlichen Naturschutzgebieten. Für die Territorialregierungen ist es auch wichtig, Verwaltungsstrukturen zu entwickeln, um die Territorien schützen und verwalten zu können.
Selbstverwaltung, Plurinationalität und politische Unterstützung
Die Anerkennung der integralen Territorialität des indigenen Landes, der juristisch-politischen Rechtspersönlichkeit der indigenen Völker und des Rechts auf Selbstverwaltung würden das Eingeständnis implizieren, dass Peru keine „uninationale“ Gesellschaft ist, schlussfolgert Roberto Espinoza in seinem Debattenbeitrag. Peru sei eine uralte plurinationale, nicht nur plurikulturelle Gesellschaft. Diese gesellschaftliche Realität sollte sich auch politisch widerspiegeln, in Form eines plurinationalen Staates. Die Erfahrungen Boliviens, Ecuadors, Venezuelas, Kanadas und Neuseelands zeigten, dass dies sehr wohl realisierbar ist.
Von Deutschland aus können die Bestrebungen nach indigener Autonomie unterstützt werden, indem sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit seiner Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) für Partnerschaften mit indigenen Territorien öffnet, so das Plädoyer von Thomas Brose vom Klima-Bündnis während des Fachgesprächs. Das wäre ein klares Signal der Anerkennung indigener Territorien als wichtige kommunale Strukturen, auch gegenüber dem peruanischen Staat. Als ein solches politisches Signal hat das Klima-Bündnis, ein Bündnis europäischer Kommunen, die Territorialregierung der Wampis (GTAW) als Mitglied aufgenommen und unterstützt sie bei Maßnahmen zum Schutz seiner Gebiete.
[1] Ermeto Tuesta gehört zum Volk der Awajún und hat 26 Jahre lang beim Instituto del Bien Común für die Titulierung indigener Territorien gearbeitet. Seit kurzem arbeitet er für das Indian Law Resource Center.