Wenn Indigene Holzfäller angreifen, die illegal Urwald roden, werden sie oft als primitive Aggressoren und jüngst sogar als „Steinzeitmenschen“ bezeichnet. Das Problem hinter diesen Konflikten ist aber ein ganz anderes: die skrupellose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sowie die Inbesitznahme indigener Territorien, aus denen internationale Konzerne Profit schlagen.
Die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes schreitet unaufhörlich fort. Jährlich werden tausende von Quadratkilometern gerodet, unter anderem für Soja- und Zuckerrohranbau, Rinderzucht, Palmölplantagen, Bergbauaktivitäten und die Holzindustrie. Peru ist nach Brasilien das Land mit dem zweitgrößten Flächenanteil an Amazonien. Laut Angaben des peruanischen Umweltministeriums verfügt der Andenstaat über knapp 680.000 Quadratkilometer Regenwald, wobei in den vergangenen zwei Jahrzehnten fast drei Millionen Hektar abgeholzt wurden – 33 Mal die Fläche von Berlin.
Dies ist nicht nur ein ökologisches Desaster, sondern auch eine Bedrohung für die indigenen Territorien, die in Peru für die sogenannten unkontaktierten Völker eingerichtet wurden. Weltweit gibt es rund 100 von ihnen, die meisten im Amazonasgebiet. In Peru leben nach Schätzungen des Kulturministeriums rund 4900 Menschen in der freiwillig gewählten Isolation, zusätzliche 2100 Personen gehören den so genannten „Völkern mit Erstkontaktierung“ an – zusammengefasst unter dem Begriff „Pueblos indígenas en situación de aislamiento y contacto inicial“, kurz PIACI.
Da Unternehmen, Siedler und Holzfäller immer weiter in den Urwald eindringen und damit wichtige Jagd- und Fischgründe zerstören, kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Anfang September machte ein Fall Schlagzeilen, bei dem Mitglieder des unkontaktierten Volkes Mashco Piro angeblich zwei Holzfäller mit Pfeilen töteten, als sie in deren angestammtes Territorium eindrangen. Dazu muss angemerkt werden, dass man nicht genau weiß, was eigentlich vorgefallen ist und warum es zu diesen Todesfällen kam.
Dennoch löste der Vorfall nicht nur regionales, sondern auch internationales Medienecho aus, wobei eine ganze Reihe von europäischen Medien in erster Linie Bedauern über die Todesfälle und Sorge über der Aggressivität der Indigenen zum Ausdruck brachte. Die Bildzeitung etwa sprach von „Steinzeitmenschen, die mit Pfeil und Boden attackieren“. Offenbar fällt es vielen Journalist*innen und Nachrichtenagenturen schwer, die wahre Problematik zu erkennen: Die anhaltende Ausbeutung des Globalen Südens, aus der internationale Unternehmen hohe Profite schlagen und gleichzeitig das unstillbare Konsumbedürfnis des Nordens erfüllen.
Die Verteidigung ihres Territoriums ist für indigene Bevölkerung kein Spaß, sondern überlebenswichtige Notwendigkeit. Kritik ist durchaus angebracht – doch insbesondere an den teilweise ignoranten, teilweise skrupellosen Konzernen sowie am peruanischen Staat, der es nicht schafft, seine indigene Bevölkerung sowie seine Urwälder zu schützen.
„Der aktuelle Vorfall verdeutlicht die wachsende Bedrohung für in freiwilliger Isolation lebende Gemeinschaften durch illegale Abholzung, wobei ihr Recht auf Land wissentlich verletzt wird“, warnt etwa die Gesellschaft für bedrohte Völker. „Das peruanische Kulturministerium muss seiner Verantwortung nachkommen und sicherstellen, dass die für die PIACI designierten indigenen Territorien als unantastbar anerkannt und nicht für die kommerzielle Nutzung freigegeben werden. Indigene Völker in freiwilliger Isolation entscheiden sich bewusst gegen den Kontakt mit der Außenwelt, um ihre Lebensweise, ihre Kultur und ihre Existenz zu schützen. Es ist entscheidend, dass diese Gemeinschaften nicht stigmatisiert oder als Aggressoren dargestellt werden.“
Wirtschaftliche Interessen haben Vorrang
Während die UNO in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und in der Erklärung über die Rechte indigener Völker deren Recht auf Schutz und Selbstbestimmung festhält, ist die Anerkennungssituation der isolierten Völker sehr unterschiedlich. In Peru gibt es verschiedene anerkannte Schutzgebiete, in denen das Eindringen extraktivistischer Projekte verboten ist, weitere befinden sich in der Antragsphase. Allerdings wird die Gesetzgebung längst nicht konsequent angewandt – es werden immer wieder Fälle bekannt, in denen innerhalb von Schutzgebieten Konzessionen vergeben wurden, zum Beispiel für Holzschlag.
Darüber hinaus sorgen die Bemühungen um mehr Schutz für die PIACI in bestimmten Sektoren für Empörung. So hat das Projekt zur Schaffung eines indigenen Territoriums zwischen Loreto und Ucayali eine Reihe von negativen Reaktionen hervorgerufen, wie der Umweltjournalist Iván Brehaut in einem aktuellen Artikel in Convoca aufzeigt: Rodolfo Lovo, Bürgermeister der Provinz Contamana, sprach sich gegen das Vorhaben aus und sagte, dass es im betreffenden Gebiet laut Untersuchungen keine unkontaktierten Völker gebe. Dies, obwohl das Kulturministerium deren Existenz nachgewiesen und der peruanische Staat 2019 ihre Existenz anerkannt hat.
Dieser Diskurs ist bekannt, auch von Gruppierungen wie der Kommission für die Entwicklung des Departaments Loreto (Coordinadora para el Desarrollo Sostenible de Loreto CDL) oder dem Kongressabgeordneten Jorge Morante Figari, der im November 2022 im Parlament einen Antrag einreichte, um die Gesetzgebung zu lockern. In öffentlichen Präsentationen und in den sozialen Netzwerken behaupteten er und seine Mitstreiter*innen, dass es keine ausreichenden Beweise für die Existenz der PIACI gibt.
Auf Grund von heftigem Gegenwind aus verschiedenen Sektoren stimmte das Parlament schlussendlich gegen die Gesetzesänderung und legte die Initiative zu den Akten. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass auch in Zukunft wieder ähnliche Vorstöße eingereicht werden – denn der Diskurs bleibt der gleiche. So erklärte CDL-Präsident Zeus Pinasco Montenegro, die Schutzgebiete seien für die „Unterentwicklung der Region Loreto verantwortlich“. Wobei erwähnt werden muss, dass sowohl Morante als auch Pinasco umstrittene Persönlichkeiten sind – beide wurden wegen Korruption verurteilt.
Die CDL, die im rechtsliberalen Sektor verortet werden kann, beschreibt sich selbst als eine Organisation, die sich „für die echte Entwicklung von Loreto einsetzt“. Ihr Verständnis von Entwicklung ist jedoch klar wirtschaftsorientiert – Umwelt- und Menschenrechte werden in diesem Umfeld eher als Störfaktoren betrachtet. So forderte die CDL auch, dass Peru das Unweltabkommen Acuerdo de Escazú nicht ratifizieren soll.
Auffällig ist, wie auch Brehaut in seinem Artikel betont, dass die Forderungen dieser Gruppierungen sich mit den Initiativen von Einzelpersonen und Gruppen decken, die mit illegalen Aktivitäten wie Kokaanbau, Holzhandel und Zwangsarbeit zu tun haben: „Sie stehen in direkter Verbindung mit den Gewerkschaften der Ölindustrie, des Holzschlags und des Baugewerbes und fördern diese Aktivitäten in den Gebieten, in denen die Territorien für die isolierte Bevölkerung eingerichtet werden sollen. Laut Berichten der peruanischen Drogenbekämpfungsbehörde, der Nationalen Kommission für Entwicklung und ein Leben ohne Drogen (DEVIDA) sowie der UN-Drogenbekämpfungsstelle UNODC handelt es sich dabei um Gebiete, in denen sich das organisierte Verbrechen ausbreitet. Das Ziel von all dem ist klar. Die indigenen Reservate sollen für den Abbau von Bodenschätzen, Straßen und Industrieplantagen geöffnet werden. Dies ist das Modell der Nachhaltigkeit, das die CDL verteidigt.“
Der Schutz indigener Territorien besteht vor allem auf dem Papier
Die Desinformationskampagne gegen die PIACI ist allerdings nicht neu. Die Präzedenzfälle reichen bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zurück, zum Beispiel in Form des Diskurses des ehemaligen Präsidenten Alán García Pérez im Jahr 2007, der unter anderem die NROs beschuldigte: „Gegen die Erdölförderung haben sie die Existenz von unkontaktierten indigenen Gemeinden erfunden, nur damit Millionen von Hektaren nicht erforscht werden und das peruanische Erdöl unter der Erde bleibt, während die Welt für jedes Barrel 90 US-Dollar zahlt. Für sie ist es besser, wenn Peru weiter importiert und verarmt.“
Das Problem ist, dass der Schutz der unkontaktierten indigenen Bevölkerung nur auf dem Papier besteht. So vergab Fernando Meléndez, der ehemalige Gouverneur von Loreto und Vertreter der politischen Partei Alianza para el Progreso (APP), entgegen den geltenden Gesetzen forstwirtschaftliche Konzessionen in Gebieten, für welche die regionale Forstverwaltung bereits Anträge für die Schaffung der indigenen Reservate Yavarí Tapiche und Yavarí Mirím vorgelegt hatte.
Dass kein ausreichender Schutz gewährleistet werden kann, hängt laut Brehaut auch damit zusammen, dass das Kulturministerium und die zuständige der Direktion für Völker in Isolation und Erstkontakt (DACI) nicht über genügend Budget verfügen, um ihre Arbeit richtig ausführen zu können: weniger als 25 Cent für jeden zu schützenden Hektar und damit weniger als ein Viertel dessen, was in Nationalparks und andere Naturschutzgebiete investiert wird.
Doch über die Verbesserung der Schutzmaßnahmen wird nicht nur von außen diskutiert, sondern auch von innen: Indigene Verbände und Dachorganisationen haben eigene Programme und Vorschläge – zum Beispiel die Interethnische Vereinigung für die Entwicklung des peruanischen Amazonasgebiets (AIDESEP): „Wir schlagen die Schaffung von Regelwerken, Verwaltungsinstrumenten und die Umsetzung von Schutzstrategien vor Ort vor, zum Beispiel die Ausarbeitung anthropologischer Studien, eine gemeinsame Überwachung mit Patrouillen, die Einrichtung von Kontrollposten und Schutzbeauftragte für die geschaffenen territorialen Schutzgebiete.“
Bereits 2011 hat AIDESEP eine Plattform zum Schutz der Rechte der PIACI ins Leben gerufen, an der verschiedene indigene Dachorganisationen beteiligt sind. Die Plattform soll als Raum für Dialog, Koordination, Reflexion, Planung und Konsens zwischen den Mitgliedsorganisationen dienen – und somit Maßnahmen umsetzen, die von den indigenen Völkern selbst vorangetrieben werden. Auf der anderen Seite fordert AIDESEP auch die Anerkennung territorialer Korridore: „Dabei handelt es sich um große, zusammenhängende, grenzüberschreitende territoriale Räume, in denen PIACI leben und die sich aus verschiedenen Rechtsfiguren zusammensetzen – territoriale indigene Schutzgebiete, Naturschutzgebiete, indigene Gemeinschaften sowie Entitäten, die dort wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben. So soll der Schutz der PIACI auf koordinierte und strategische Weise erfolgen, und zwar unter Einbezug aller Akteur*innen und Sektoren, die in diesen Korridoren vertreten sind.”
Kritik am FSC-Siegel
Vor kurzem betonte die AIDESEP in einem gemeinsamen Kommuniqué mit anderen indigenen Organisationen, dass der Holzzertifizierer FSC (Forest Stewardship Council) Mitschuld an der Verletzung der Menschenrechte der Mashco Piro trägt.
Das Nachhaltigkeitssiegel FSC findet sich auf hunderten von Produkten, die weltweit täglich gekauft werden, etwa auf Kopierpapier, Büromaterial oder Möbeln. Doch es zeigt sich immer wieder, dass das Zertifizierungssystem mangelhaft ist und es Unternehmen sogar ermöglicht, die illegale Herkunft von Holz zu verschleiern.
Im aktuellen Fall hat sich der FSC zuerst geweigert, die Zertifizierung fürs Unternehmen Canales Tahuamanu zurückzuziehen, obwohl dieses über Konzessionen im Gebiet der Mashco Piro besitzt. „Obwohl der FSC öffentlich einräumt, dass ein kritisches Problem vorliegt, kündigt er in seinem Kommuniqué nicht die geforderte und logische Aussetzung der Zertifizierung des Unternehmens an, sondern verpflichtet sich lediglich, eine gründliche Analyse des Falls durchzuführen“, so die AIDESEP. „Wir halten die Antwort des FSC für völlig unzureichend und es scheint, dass er sich durch Verzögerungsstrategien der Verantwortung entziehen will, anstatt sich einem systematischen Problem zu stellen, das zu Menschenrechtsverletzungen führt.“
Nachdem auch ausländische Organisationen protestierten, kündigte der FSC Ende August an, die Zertifizierung vorerst für acht Monate auszusetzen. Ein Aufruf der Organisation Survival International hatte eine massive Medienberichterstattung und 15.000 E-Mails an den FSC zur Folge gehabt –doch keiner der Betroffenen ist mit dem Ergebnis gänzlich zufrieden: Warum nur eine provisorische Suspendierung? „Das ist nur die Hälfte dessen, was nötig ist”, kommentierte Fiona Watson, Direktorin für Recherche und Advocacy bei Survival International. „Der FSC weiß seit Jahren, dass dieses Unternehmen im Gebiet der indigenen Mashco Piro operiert, und es kam bereits zu mehr als einer tödlichen Begegnung zwischen den Indigenen und den Holzfällenden.”
Julio Cusurichi, Mitglied des Vorstands von AIDESEP, gibt sich genauso wenig geschlagen: „Dies ist ein wichtiger Schritt, aber noch nicht das Ende der Angelegenheit. Wir werden den Kampf fortsetzen, bis wir einen historischen Sieg erringen.”
Ein Gedanke zu “„Das Landrecht der indigenen Völker wird wissentlich verletzt“”