Cordelia Sánchez García mit ihrem Werk „Los shipibos migrantes“ © Dorothee Kuckhoff

Das Herz im Amazonas, die Füße auf dem Wüstenboden Limas

Das indigene Volk der Shipibo-Konibo repräsentiert nicht nur das Amazonasgebiet, sondern auch die Landeshauptstadt Lima: In der Gemeinschaft Cantagallo, die auf einer ehemaligen Müllhalde errichtet wurde, leben rund 1500 Menschen, die sich unter anderem als Künstler*innen einen Namen gemacht haben.

Wer eine Ausstellung von indigenen Künstler*innen aus dem Amazonasgebiet besucht, mag idealisierte Naturbilder, traditionelle Formen und Farben oder fabelhafte Wesen erwarten. Umso mehr überraschten die Werke der Ausstellung „Migración, memoria y resistencia: Arte shipibo-konibo en Lima“ (Migration, Erinnerung und Widerstand: Kunst der Shipibo-Konibo in Lima): ein Jaguar vor einem kargen Berg, die geometrischen Muster der Kené-Designs der Shipibo-Konibo neben neonfarbenen Häusern, Straßen und Schlangen.

Die wiederkehrenden Motive und ihre Kombinationen sind jedoch kein Zufall. Sie bilden die Geschichte der Gemeinschaft Cantagallo im Herzen von Perus Hauptstadt Lima ab. Auf einer ehemaligen Müllhalde, mit dem Blick auf den Cerro San Cristóbal, den Fluss Rímac und das Stadtzentrum im Rücken, den Lärm der Großstadt allgegenwärtig, leben dort rund 1500 Menschen auf kleinstem Raum. Die meisten von ihnen gehören dem indigenen Amazonasvolk der Shipibo-Konibo an.

Die Shipibo-Konibo sind eines der größten Völker im peruanischen Amazonasgebiet. Laut dem peruanischen Kulturministerium umfasst die Bevölkerung der Shipibo knapp 33.000 Personen. Traditionellerweise haben sie sich an den Ufern des Ucayali-Flusses und seiner Nebenflüsse angesiedelt und leben vom Anbau von Obst und Gemüse sowie dem Fischfang. Besonders Frauen widmen sich der Produktion und dem Verkauf ihres Kunsthandwerks. Dazu gehören Schmuck, Stickereien und mit Naturfarben bemalte Tücher, die häufig ein geometrisches Muster von Linien darstellen, das sogenannte Kené, welches ihre Kultur, Geschichte und Spiritualität repräsentiert. Die Muster haben symbolische Bedeutung und stehen für Energielinien, die Milchstraße, die Geographie des Waldes und die Tier- und Pflanzenwelt. Es werden ihnen auch heilende Wirkungen zugeschrieben.

Wasser aus dem LKW statt aus dem Fluss

Zurück zur Cantagallo-Gemeinschaft in Lima. Auf den ersten Blick hat dieser provisorisch wirkende Ort wenig mit einer nativen indigenen Gemeinde im Amazonasgebiet gemeinsam. Statt von Regenwald umsäumte grüne Wiesen, Holzhütten mit Palmendächern und Vogelgezwitscher findet man in Cantagallo hauptsächlich bunt bemalte Hütten aus zusammengenagelten Spanholzplatten oder Container auf Geröllboden und bröckelndem Asphalt. Weit und breit sind weder Rasenfläche noch Bäume zu sehen. Hier fließt das Wasser nicht aus dem Hahn oder der Toilettenspülung, denn Cantagallo ist nicht am Wassersystem der Stadt angeschlossen. Stattdessen beliefert ein LKW mit Wassertank die rund 400 Familien regelmäßig.

Unzählige Hunde und kleine Kinder flitzen durch die engen Gassen. Grüne Bananen und Fisch braten auf dem Grill. Und auch, wenn alles so anders ist als im Regenwald, liegt inmitten der kargen Wüstenstadt Lima ein Hauch von Amazonas in der Luft. Denn die Shipibo-Konibo in Cantagallo führen ihre Tradition vor dem Cerro San Cristóbal inmitten der Metropole Lima fort.

Bodenentnahmen zufolge soll das Gelände blei- und arsenverseucht sein. Trotzdem wollen die Bewohner*innen sich nicht umsiedeln lassen. Cantagallo ist – trotz all seiner Missstände – für viele ein Ort der Zuflucht. Die Gemeinschaft bietet ihnen Vertrautheit inmitten des Chaos der fremden Großstadt. Das Essen, die gesprochene Sprache und die Kunstarbeiten erinnern an die gemeinsamen Wurzeln. In einer kleinen zweisprachigen Grundschule werden die Kinder auf Shipibo und Spanisch unterrichtet. Auch zahlreiche Kunsthandwerker*innen und bildende Künstler*innen sind in Cantagallo zu finden. Viele der Bewohner*innen haben keine Berufsausbildung abgeschlossen. Für sie ist die Kunst eine Form des Ausdrucks, aber auch eine Einnahmequelle.

Besonders Frauen leben vom Verkauf traditionellen Schmucks. Eine von ihnen ist Edelmira Mori Barbarán. Sie hat bereits Kunstarbeiten angefertigt, als sie noch in Callería, einer Dorfgemeinschaft in Ucayali, gelebt hat. Heute ist sie Teil der Gruppe „Madres artesanas“ (Künstlerinnen-Mütter), stellt ihre Kunstwerke aus und verkauft ihre Handarbeiten an touristischen Orten in Lima.

Edelmira Mori Barbarán © Dorothee Kuckhoff

„Lima ist auch unser Territorium“

Olinda Silvano Inuma gehörte zu den ersten, die aus ihrer Amazonas-Gemeinde nach Lima migrierte und ihr Haus in Cantagallo errichtete. Wie viele andere zog sie in der Hoffnung nach Lima, kürzere Wege zu Bildungseinrichtungen, medizinischer Versorgung und politischer Partizipation zu haben. „Wir sind nach Lima gezogen, um unsere Identität als indigene Shipibo-Konibo zu zeigen, denn Lima ist auch unser Territorium“, sagt sie. „Deshalb empört und verletzt es uns, dass uns manchmal gesagt wird: ‚Was machen die Shipibos in der Stadt? Störenfriede, geht doch nach Hause.‘ Doch wir sind keine Störenfriede, wir sind ein Instrument, wir sind voller Wissen, voller Weisheit, und wir machen unsere Identität sichtbar, auch für Peru.“ Mittlerweile gehört Olinda Silvano Inuma zu den bekanntesten Künstler*innen der Shipibo-Konibo in Peru, hat zahlreiche Mauern in Lima mitgestaltet und ihre Werke international ausgestellt.

Doch die Künstler*innen Cantagallos waren nicht immer so sichtbar wie heute. Ein verheerendes Feuer im November 2016 zerstörte große Teile der Gemeinschaft und nahm vielen Familien ihr Zuhause und ihr Hab und Gut. Dieses Ereignis stellte für die Künstlerin Cordelia Sánchez García trotz aller Tragik einen Wendepunkt in der Wahrnehmung der Gemeinschaft dar. Das Kulturministerium und andere Kunsteinrichtungen wurden auf den kulturellen Schatz aufmerksam, der da mitten in Lima schlummerte, luden Cantagallos Künstler*innen zu Ausstellungen ein und gaben ihnen endlich einen Raum in der Hauptstadt. Gemälde der Muralistas (Wandmaler*innen) verzieren Häuserwände, und in Cafés und Galerien bezeugen ihre Werke die Existenz der Amazonasregion und ihre kulturelle Vielfalt.

Ihre Kunst ermöglicht die gesellschaftliche Teilhabe der Künstler*innen als Bürger*innen Perus und fördert den interkulturellen Diskurs in einem so vielfältigen Land, dessen kultureller Reichtum im öffentlichen Bewusstsein noch immer nicht angekommen ist. Die Shipibo-Konibo sind in Lima, einer Stadt, in der die Menschen gegen das Übersehenwerden ankämpfen, das wohl sichtbarste Amazonasvolk. Sicherlich liegt das auch daran, dass sie mit Cantagallo einen festen Platz in der Stadt einnehmen.

Doch noch immer erleben Menschen aus Cantagallo Diskriminierung und Ausgrenzung. Jugendliche berichten, dass sie sich wegen ihrer indigenen Wurzeln und der Umstände, unter denen sie in Cantagallo leben, von den vermeintlich endlosen Möglichkeiten in Lima ausgeschlossen fühlen. Gleichzeitig machen die Einflüsse der Metropole nicht vor den Toren der Gemeinschaft halt. Das zeigt sich unter anderem beim Thema Gesundheit. Wenngleich während der Pandemie, als der Zugang zur Gemeinschaft verschlossen und die Gesundheitsversorgung eingeschränkt war, die traditionelle Medizin ihre Wirkung bewiesen hat, ersetzen nicht selten Tabletten und moderne Behandlungsmethoden traditionelle Praktiken.

Dualität von Stadtleben und indigener Tradition

Genau diese Dualität von Stadt und indigener Tradition spiegelt sich in den Werken der Künstler*innen aus Cantagallo wider: Vor der Kulisse des Cerro Cristobál und der Hochhäuser Limas wird die Kultur der Shipibo-Konibo weitergeführt. Diese wird in den Bildern durch Tiere des Amazonasgebiets, Elemente der traditionellen Medizin und das Kené dargestellt. Laut der Weltanschauung der Shipibo-Konibo ist die Welt von geometrischen Mustern durchwoben, die sich in der Kunst wiederfinden und oft von Träumen, Visionen von Ayahuasca und der Natur inspiriert sind. Neben den bunten Acrylfarben werden auch Pflanzenfarben verwendet, die ihre Familien in den indigenen Gemeinden in Ucayali herstellen. Sie zu beschaffen, ist nur einer von vielen Gründen für Cordelia Sánchez García, regelmäßig in die Regenwaldregion zu reisen. Dort sind ihre Wurzeln, dort fühlt sie sich mit der Natur verbunden: „Ich bin aus der Selva, wir sind weiterhin Teil der Natur, auch wenn wir in Cantagallo leben.“ Und auch wenn Edelmira Mori Barbarán schon seit 20 Jahren in Cantagallo lebt, vermisst sie das Essen der Amazonasregion – besonders den Fisch.

Die Kunst ist für viele Menschen in Cantagallo nicht nur ein Hobby oder eine Einnahmequelle. Sie hilft ihnen auch, sich mit ihrer Identität und ihren Lebensumständen auseinanderzusetzen und gleichzeitig in Verbindung mit ihrer indigenen Herkunft zu bleiben. Für Cordelia Sánchez García gehören Kunst, Medizin und Pflanzen zusammen: „Die Pflanzen sind unsere Medizin. Sie heilen uns und öffnen den Weg zu der spirituellen Welt, durch die die Kunst inspiriert ist. Und genau wie die Pflanzen hat Kunst eine heilende Wirkung.“

Und auch wenn das Zwitschern der Vögel, die Lagunen und unzähligen Facetten von Grün weit entfernt sind, erinnern uns die Werke der Künstler*innen inmitten von Lima daran, dass jenseits von hupenden Autos, Lieferservices und Hochhäusern Welten existieren, die vielen von uns verborgen bleiben.

Olinda Silvano Inumas Werk „Migración de Cantagallo” erzählt von den Anfängen Cantagallos © Anne Welsing

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