Juliaca gedenkt der am 9. Januar vermutlich von der Polizei Ermordeten. Fast alle waren junge Männer und Jugendliche, einige waren zufällig in der Menge. ©Yda Ponce

Proteste in Peru: vier Einblicke in den Alltag

Vier Personen aus Lima, Juliaca, Pucallpa y Chala erzählen, wie sie die Proteste erlebt haben. 

Hubschrauber über Juliaca

Als peruanisch-schweizerische Familie leben wir im turbulenten Juliaca, seit einem Monat ist schon alles blockiert. Wir leben in einem Außenquartier, dort ist es ganz ruhig, da es keinen öffentlichen Verkehr mit Bussen und Mototaxis gibt. In die Stadt haben wir zu Fuß 15 Minuten und man kann sich gut und sicher bewegen. Es hat ganz viele Demonstranten, jedoch hatte oder habe ich nie Angst verspürt vor ihnen.
 Mit dem Motorrad kamen wir trotz Blockaden auch auf unseren 20 km entfernten Bauernhof, um Lebensmittel zu bringen. Zwar musste mein Mann 30 Minuten lang bei den Streikposten mitmachen, bevor er weiterfahren durfte. Vorsicht beim Fahren war auch angesagt, wegen der Steine und Scherben auf der Straße.

Und dann erreichten uns auch schon die ersten Informationen, dass auf die Demonstranten geschossen wurde und es Tote gab.

Franziska Schilliger almonte


Vor der Polizei habe ich mehr Angst, die geben uns ja auch in Nicht-Krisenzeiten keine Sicherheit. Am 9. Januar hatte ich Angst: Viele Demonstranten aus den umliegenden Städten kamen in die Stadt und nachmittags hörte man Hubschrauber, die über die Stadt kreisten. Ich rief meine beiden Jungs an, die am Basketball spielen waren, sie sollten sofort nach Hause kommen. Und dann erreichten uns auch schon die ersten Informationen, dass auf die Demonstranten geschossen wurde und es Tote gab. Meine Freundin Maria wohnt in der Nähe des Flughafens und sie hörte Schüsse in ihrem Viertel. Die Schüsse, sagt sie, seien aus dem Hubschrauber abgegeben worden. Nachbarn von ihr, die nicht an der Demo, sondern daheim waren, wurden angeschossen. In den 20 Jahren, die ich hier lebe, habe ich noch nie einen Hubschrauber über der Stadt fliegen gesehen. Die ganze Woche hörte man dann immer wieder Hubschraubergeräusche, was ein ungutes und unsicheres Gefühl aufkommen ließ. Auch sind wir als Familie sehr angespannt, wir haben Angst, uns öffentlich zu der Situation zu äußern.
 Dass alle Geschäfte geschlossen sind bei einem Streik, ist ja nichts Neues und kommt bei uns oft vor. An Streiks mit geschlossenen Geschäften sind wir gewohnt. Man bekommt dennoch frisches Gemüse, Früchte und alle anderen Lebensmittel. Aber nun ist das Gas ausgegangen und es kommt kein neues und man kann kein Geld an den Banken abheben.

Franziska Schilliger Almonte, Juliaca, 3. Februar 2023


Solidarisch sein in Lima

Als junge Frau, Anthropologin und Tochter von Migranten, habe ich ein komplexes Peru erlebt. Seit meiner Kindheit hatte ich das Privileg, zwischen den sehr ungleichen Teilen von Lima und in die verschiedenen Provinzen reisen zu können.

Mir ist bewusst geworden, wie viele Gegensätze es in diesem Land gibt. Es hat die schönsten Landschaften, eine große kulturelle Vielfalt, viele kreative Menschen, eine große Vielfalt an Flora und Fauna und ist reich an natürlichen Ressourcen. Aber es ist auch ein zentralistisches Land. Und aktuell ist Peru weltweit an vierter Stelle, was die Ungleichheit angeht. Es ist ein Land mit einer skandalös hohen Zahl an Korruptionsfällen. Fast alle Präsidenten der letzten 20 Jahre sitzen im Gefängnis oder in Gerichtsverfahren. Es ist ein kolonialisiertes Land, das es noch nicht geschafft hat, wirklich frei zu sein.

Obwohl ich mit all diesen Problemen aufgewachsen bin, habe ich Angst vor der großen politischen und sozialen Instabilität, in der wir uns jetzt befinden. Seit dem 7. Dezember vergeht bei mir zu Hause kein Tag und kein Augenblick, an dem wir nicht über Politik nachdenken und darüber, was und wie wir unterstützen könnten.

Seit dem 7. Dezember vergeht bei mir zu Hause kein Tage und kein Augenblick, an dem wir nicht über Politik nachdenken und darüber, was und wie wir unterstützen können.

Barbara alagon, lima

Mein Leben ist intensiver geworden, ich war Zeugin und Teil des großen Netzwerks der Solidarität, das sich national und international gebildet hat. Dieser Erfahrungsbericht hier ist ein Beweis dafür. Die Umarmungen von Mitstreitenden geben mir Energie, jeder Abschied mit einem aufrichtigen “Pass bitte auf dich auf” ist ein Akt des Glaubens und des Gebets. Wir wissen nicht, ob an diesem Tag alle in ihre Häuser oder Unterkünfte zurückkehren werden, denn es gibt immer mehr willkürliche Verhaftungen und die Repressionen werden immer brutaler.

Obwohl mein Leben vor diesem Zersetzungsprozess sehr nah an der Realität war, wenn auch nicht direkt an der Politik, mache ich jetzt neue, unterschiedliche Erfahrungen, die ich aus Sicherheitsgründen nicht näher beschreiben kann, da für die Nationalpolizei PNP alles Terrorismus ist, selbst die Abgabe von Lebensmitteln an die Menschen auf den Plätzen im Stadtzentrum. Es ist eine große Lernerfahrung, begleitet von verschiedenen Gefühlen und Emotionen: Furcht, Angst, Traurigkeit, Wut, aber auch Freude, Liebe, Hoffnung und Dankbarkeit. Manchmal auch alle zusammen oder unmittelbar nacheinander.

Und obwohl dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, kann ich schon jetzt sagen, dass ich unglaublich viel gelernt habe, Freundschaften geschlossen und die Zuversicht gewonnen habe, dass die Gesellschaft keine verwestlichte Bildung braucht, um zu erkennen, dass die Dinge falsch laufen. Vor allem aber habe ich das Vertrauen, dass wir mit Einigkeit und Organisation Veränderungen bewirken können.

Barbara Alagón, Lima


Ich weine und bete

Wie fühle ich mich in diesen Tagen der Wut in Lima und im ganzen Land?

Ich weine wie eine Mutter weint um ihre Kinder, die sich gegenseitig umbringen.

Da ist Abel, der Bauer, der protestiert gegen die Exklusion, die er seit Jahrzehnten erfährt. Er wirft Steine gegen seinen Bruder Kain, den Händler und Polizisten. Und der antwortet ihm mit Gewalt und Kugeln.

Das Blut beider Söhne schreit zum Himmel und die Geier der Politiker fressen ihr Fleisch.

Ich bin gelähmt und stumm. Ich möchte beiden helfen, mich in die Mitte werfen, besser sie bringen mich um.

Jedes Wort, das ich schreien will, wird falsch verstanden noch bevor es meinen Mund verlässt. “Terrorist” sagen mir die einen. “Feigling” die anderen.

Ich schlucke meine Worte hinunter, das Schluchzen ebenso. Beide verwandeln sich in Tauben, die zum Himmel aufsteigen.

Jungfrau Maria, die du deinen toten Sohn beweint hast, tot in deinen Armen, herabgenommen vom Kreuz.

Gib mir Deine Kraft, um nicht verrückt oder hoffnungslos zu werden.

Gib mir Hoffnung und Kraft, dem Brudermord etwas entgegenzuhalten. Wie sehr wünsche ich, dass meine verfeindeten Kinder wieder zu Brüdern werden.

Vergib ihnen, Herr, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Reinhold Nann, katholischer Bischof von Caraveli

(Original in spanischer Sprache vom 21. Januar 2023, übersetzt von H. Willer)


Blockierte Straße nach Pucallpa

Ich wohne in Pucallpa, gehöre dem Volk der Shipibo an und habe eine kleine Werkstatt für Schmuckdesign. Ich gebe mehreren Shipibo-Frauen in verschiedenen Dörfern Arbeit, die für mich Schmuck herstellen.

Als die Streiks begannen und die Straße nach Lima von den Demonstranten blockiert wurde, war dies sehr traurig für uns. Denn wir leben davon, dass wir unseren Schmuck an die Touristen verkaufen, und nun war die Straße blockiert und wir hatten kein Einkommen mehr.

Ich bin für friedliche Proteste, aber gegen blockierte Straßen

Adelinda maldonado, pucallpa

Es gab auch bald weniger zu kaufen, denn auch bestimmte Lebensmittel kamen nicht nach Pucallpa. Und das Gas zum Kochen ging uns aus.

In Pucallpa gab es einige friedliche Demos, für eine neue Verfassung, das finde ich auch richtig. Denn die internationalen Holzfirmen wollen unser Land und den Wald an sich reißen. Ich finde auch, dass Präsidentin Boluarte zurücktreten sollte. Die Vereinigunge der Shipibo in Ucayali hatte mit zur Demo aufgerufen, aber ich konnte nicht hingehen, weil ich viel Arbeit hatte.

Aber ich unterstütze die Straßensperren nicht, die schaden nur uns kleinen Händlerinnen.

Adelina Maldonado, Pucallpa