Wenn Sie wissen wollen…

wie das öffentliche Gesundheitswesen in 20 Jahren sein wird, nehmen Sie den nächsten Flieger nach Lima!
Das rät Giancarlo Castiglione von der NGO „Forum Solidaridad Peru“, Referent am diesjährigen Peru-Seminar der Infostelle , im folgenden Interview.

Ihre Organisation möchte die Sicht auf Globales und Lokales verbinden, aber auch so komplexe Themen wie öffentliche Finanzen und Haushaltsplanung erörtern, wie gehen Sie das an?
Castiglione: Häufig wird behauptet, dass „Finanzhaushalt“ ein eher „technisches“ Problem sei, also keiner politischen Debatte und Entscheidung bedürfe, während wir davon ausgehen, dass gerade diese Fragen sehr wohl unter politischen Kriterien entschieden werden müssen. Der staatliche Finanzhaushalt ist entscheidend für das Leben und die Lebensqualität aller Bürger, für die zukünftige Entwicklung des Landes, so dass diese auch wissen müssen, wie und nach welchen Kriterien darüber entschieden wird. Unser Staat hat im Prinzip reichlich Geld und könnte ein „Wohlfahrtstaat“ sein, aber es gibt z.B. enorme Steuer- und Finanzflucht und Zahlungslöcher. Deshalb haben wir im Jahr 2009 angefangen, einen alternativen Haushaltsplan zu erstellen. Inzwischen sind wir nicht mehr nur eine Gruppe von Fachleuten, sondern es ist eine soziale Mobilisierung entstanden und wir haben auch schon einige Veränderungen erwirken können.
Wie wurden Menschen dazu mobilisiert, und was gab es bisher für Ergebnisse?
Castiglione: Wir in Peru sind z.B. stolz auf unsere ausgezeichnete Küche, und deshalb haben wir eine Kampagne gestartet, um zu zeigen, dass unser Essen „reich“ ist, die Bauern aber arm. 20% unserer erwerbstätigen Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft, welche praktisch keine Unterstützung von der Regierung bekommt und keine sehr große Produktivität aufweist, während im Bergbau nur weniger ein Prozent der Bevölkerung beschäftigt ist. Aber da in diesem Sektor großer Profit erwirtschaftet wird, wird er von der Regierung stark gefördert. Durch unsere Kampagne haben wir erreicht, dass im Jahr 2012 erstmals ein „Agrarzensus“ durchgeführt wurde, und dadurch z.B. die wieder stark zunehmende Landkonzentration und andere Probleme publik gemacht wurden.
Hat es Peru in den letzten Jahren ein Wirtschaftswachstum gegeben?
Castiglione: In den Jahren 2001 bis 2011 gab es in Peru ein weltweit beachtetes großes Wirtschaftswachstum, um 6 bis 9% jährlich, an 2. Stelle in Lateinamerika, das auch nach der Finanzkrise im Jahr 2008 sich schnell wieder erholte, zumal ausländische Investitionen vermehrt in Bergbau fließen.
Und hat dieses Wirtschaftswachstum zu Armutsminderung und Verringerung der sozialen Ungleichheit beigetragen?
Castiglione: Die Regierung gibt an, dass in diesen Jahren die finanzielle Armut gesunken sei. Aber es gab nur eine sehr geringe Senkung der „multidimensionalen Armut“, bei der z.B. der Zugang zu Trinkwasser, zum öffentlichen Gesundheitswesen und Möglichkeiten zum Schulbesuch gemessen wird. Also, wenn die Armutsindikatoren komplexer sind, zeigt sich, dass die Armutsminderung bei uns sehr gering ist. Wir wiesen nach, dass wirtschaftliches Wachstum eben nicht automatisch zu guter Sozialentwicklung führt.
Weshalb gibt es diese Ungleichheit zwischen „Wachstum“ und „Sozialentwicklung“?
Castiglione: Was wir in den letzten Jahren verstärkt beobachten, ist, dass die Regierungen und auch die internationalen Institutionen instrumentalisiert werden (und sich auch instrumentalisieren lassen). Der Hauptakteur ist der sog. Markt, die internationalen Firmen und Investoren, welche bei den Regierungen für sie günstige Gesetze und Normen erwirken, was dann über die korrumpierten Medien der Bevölkerung untergejubelt wird. Arbeitsrechte, Umweltschutz und kulturelle Schutzräume werden geopfert, um das Land für Investitionen attraktiv zu machen. Und wer profitiert davon? Die Investitionen bringen in den Ländern kaum Steuereinnahmen ein, und so werden die Staaten immer „schlanker“, die Gewinne fließen häufig an uns vorbei z.B. in Steuerparadiese.

Und ist das nun schon ein globales Phänomen?

Castiglione: Klar! Nehmen wir mal das Thema der Staatsverschuldung. In früheren Jahren war das ein Problem der Ausbeutung der südlichen Länder durch den Norden. Heutzutage steht Lateinamerika, was die Auslandsverschuldung angeht, sehr gut da; die hochverschuldeten Länder liegen im Norden. Unter dem Vorwand der Überwindung der Staatsschulden mussten wir das wenige an „wohlfahrtsstaatlichen“ Einrichtungen aufgeben, wir mussten kürzen im Gesundheitswesen und Bildungswesen. Deshalb sage ich, dass wir aus Lateinamerika schon vorher dort waren, wo jetzt etliche europäische Länder hinkommen. Deshalb sage ich den Kollegen hier z.B. in Spanien, wenn sie sehen wollen wie ihr öffentliches Gesundheitswesen in 20 Jahren aussehen wird, sollten sie nach Lima fliegen und sich dort ein öffentliches Hospital anschauen. Die Menschen sterben bei uns einfach so, weil sie kein Geld für medizinische Behandlungen haben, das ist eine dramatische Situation. Und Spanien und Griechenland sind auf besten dem Weg genau dahin, denn es ist für Investoren ein tolles Geschäft mit dem privaten Gesundheits- und Bildungswesen. …… Auch die internationalen Freihandelsabkommen und ihre sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen haben wir euch schon vorgelebt.
Und was kann die Zivilgesellschaft tun?

Castiglione: Ihr habt natürlich bessere Voraussetzungen als wir sie hatten: Bessere Bildung, besseres Gesundheitswesen. Wenn das schrumpft, wachen die Leute schneller auf. Als das Phänomen bei uns begann, hatten wir noch nicht so klar, welche Firmen und unter welchen Bedingungen die Firmen arbeiten und wie das mit der Steuerflucht funktioniert. Im Jahr 2011 haben wir z.B. die Firma „Telefonica“ entlarvt, die massiv Arbeitsrechte verletzte und in den Ländern des Südens kaum Steuern zahlte. Durch einen Bericht von OXFAM ist aufgeflogen, dass die „Telefonica“ in diversen „Steuerparadiesen“ formal Filialen unterhält und nichts zahlt. Wenn unsere Regierung uns also sagt, es gäbe kein öffentliches Geld für Gesundheit und Bildung, ist das eine Lüge, das Geld ist da, aber eben nur nicht bei uns, und die Regierung will nichts dagegen unternehmen aus Angst, dass die Investoren Probleme machen und abziehen. Und es ist klar: Wenn es wirtschaftliche Schwierigkeiten gibt, werden die Verluste sozialisiert, aber die Gewinne gehen nicht an den Staat. Höchstens 5% Steuern auf Gewinne werden bei uns gezahlt, wo es eigentlich etwa 30% sein müssten.

Und was bedeutet das nun?

Castiglione: Eine wichtige Forderung wäre etwa eine internationale Konferenz zu Fragen der Besteuerung, wo neue Regeln für die internationale Wirtschaft entwickelt werden. Hier müssen wir auf internationaler Ebene, aber auch auf Länderebene handeln. Wir müssen von unten her Kampagnen organisieren, die die Machenschaften der großen Firmen öffentlich machen. Vieles, auch die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen z.B. in der Bekleidungsindustrie sind zwar offiziell „legal“, aber dürfen einfach nicht „legitim“ sein.

Und was kann man tun, damit die Menschen sich da mehr einbringen?

Castiglione: In Peru haben wir z.B. diese Diskussionen in die Arbeiter- und Gewerkschaftsverbände getragen und die Menschen mobilisiert.

(Übersetzung aus dem Spanischen: Mechthild Ebeling)

Quelle: http://www.eldiario.es/economia/adelgazando-vez-porosos-intereses-corporativos_0_370613709.html