Am 28. Juli 1821 rief der argentinische General Jose de San Martin die Unabhängigkeit Perus aus. (© Andina)

Unabhängigkeit für wen?

200 Jahre peruanische Unabhängigkeit  aus der Sicht einer jungen Peruanerin.

Am 28. Juli wurde ein Lehrer aus Chota, Cajamarca, als Präsident der Republik Peru vereidigt. Ein Mann, der weiß, wie man das Land bewirtschaftet – so einfache Worte für eine so enorme Arbeit und Anstrengung; einer, der weiß, wie es ist, zu Fuß unterwegs zu sein, weil es keine Straßen zwischen den Dörfern gibt, der die Repression des Staates durch Tränengasbomben, die er abbekommen hat, durch Pinochos (Wasserwerfer), die seine Mitstreiter*innen niederschlagen, zu spüren bekommen hat, der ins Gesicht geschlagen wurde, als er seine Rechte einforderte.

Pedro Castillo ist ein Mann, der weiß, wie man mit Feuerholz kocht, der weiß, dass das Aufwachen am Morgen keine “göttliche Hilfe” garantiert, ein Mann, mit dem sich viele Peruaner*innen identifizieren. Ein Mann wie er konnte vor 200 Jahren seinem Vorgesetzten nicht einmal in die Augen schauen, er näherte sich Politikern auf den Knien und verehrte sie.

Haben wir uns also verändert? Wenn Castillos Präsidentschaft nicht so viel Kritik, Spekulationen und offen rassistische und klassenkämpferische Kommentare hervorrufen würde, könnte man das vielleicht bejahen. Aber damit jemand wie er Präsident werden konnte, bedurfte es eines langen Kampfes und ständigen Widerstands.

Gestern hörte ich in einem Nachrichtensender, dass einige Kinder in Ayacucho, wo die symbolische Vereidigung des Präsidenten stattfand, gefragt wurden, was sie von Castillo als Präsidenten von Peru hielten, und darauf emotional antworteten: “Wir sind glücklich, weil er ein Präsident ist wie wir.” Für mich persönlich ist dies bereits ein Sieg, obwohl es sich um eine chaotische, improvisierte politische Partei handelt, die nicht damit gerechnet hat, zu gewinnen, und die viele Schwächen hat, auf die ich später noch eingehen werde.

Die Tatsache, dass sich die Kinder außerhalb Limas durch den Präsidenten der Republik vertreten fühlen, bedeutet für mich viel. Ich glaube an die Bedeutung der Sichtbarkeit von Geschichten, die, wie der Präsident in seiner ersten Rede an die Nation sagte, lange Zeit zum Schweigen gebracht wurden. Wenn in den nächsten fünf Jahren mehr Mädchen und Jungen das Gefühl haben, dass sie, egal woher sie kommen oder wo sie studieren, Präsident von Peru werden können, und wenn sie es wollen, ist das vielleicht nicht die große Wende, aber auf jeden Fall ein großer Fortschritt. Ein Fortschritt, den wir seit Jahren anstreben, denn seit 200 Jahren gibt es Widerstand und Kampf.

Die Unabhängigkeit galt nicht für alle, nicht einmal für alle in Lima. Wer Lima und alle seine Stadtteile kennt, wird sagen, dass es “viele Limas” gibt, mit großen Unterschieden zwischen privilegierten und vom Staat völlig vernachlässigten Stadtgebieten. Ich spreche deshalb von Fortschritt und nicht von Wandel, denn die Unabhängigkeit war nicht für alle da, sie brachte keine strukturellen Veränderungen mit sich.

Wir sind frei! Lasst uns immer frei sein!
Und möge die Sonne ihrem Licht entsagen,
Bevor wir das feierliche Gelübde brechen,
welches  das Vaterland zum Ewigen erhob.

(Peruanische Nationalhymne)

Seit unserer Kindheit sagt uns die Nationalhymne, wir dürfen uns frei fühlen, und wir singen sie jeden Montag vor Schulbeginn vor einer wehenden Flagge. Zwölf Jahre lang wiederholen wir dieselben Worte. Verständlich, dass wir glauben, wir seien frei. Aber in der Realität müssen wir feststellen, dass diese ersehnte Freiheit nur möglich ist, wenn wir Geld haben. Wir können nicht frei entscheiden zu reisen, Freiwilligenarbeit zu leisten, zu studieren.

Die schwierige Situation zwingt viele junge Menschen eine Arbeit zu suchen, eine Form der modernen Sklaverei: Viele sind gezwungen, an Orten zu arbeiten, wo ihr Leben und ihre Rechte gefährdet sind. Erst vor vier Jahren starben zwei junge Menschen im Alter von 19 und 21 Jahren bei einem Brand in Malvinas im Zentrum von Lima, als ein Feuer ausbrach und der Besitzer sie an ihrem Arbeitsplatz eingesperrt hatte.

Wer erzählt die Geschichten?

Wenn wir peruanische Geschichte lernen, wird von man von Regierungen und “Unabhängigkeitskämpfen” gesprochen, solange es um die privilegierten Kreolen und Kaufleute geht. Sobald es aber um die Unabhängigkeitskämpfe der Indigenen geht, spricht man von “Rebellion”. Die Figur des rebellischen, wilden und aggressiven „Indios“ wird uns schon in der Schule eingeimpft, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

“Niemand will ein Nachfahre der Wilden sein. Wir glauben, dass wir sozial aufsteigen, wenn wir die Kultur der Mestizen annehmen und uns an denen orientieren, die wir für etwas Besseres halten”, sagt Tarcila Rivera Zea, Gründerin von CHIRAPAQ (Zentrum für indigene Kulturen der Anden und des Amazonas), im Gespräch mit Dania Farfán in einem von der Infostelle Peru organisierten Gespräch zu den 200 Jahren Unabhängigkeit.

Narrative, die Art und Weise, wie Geschichte erzählt wird, sind wichtig. Von der Schulzeit an wird uns beigebracht, uns eine Meinung über unsere Vorfahren zu bilden, und es ist diese einseitig erzählte Geschichte, die uns – so wage ich zu behaupten – weiterhin trennt.

Dieses Narrativ diente den Eliten lange Zeit und bis heute dazu, indigene Völker und indigene Gemeinschaften herabzusetzen. Das geht so weit, dass ein ehemaliger Präsident sie als “Bürger zweiter Klasse” bezeichnete. Aber das ist nichts Neues. Wir sollten uns immer fragen, wer die Geschichte schreibt, zu welcher sozialen Schicht er oder sie gehört. Und so sehr sich Autor*innen um Objektivität bemühen, so zeigt doch allein die Wahl eines Themas, eines Titels oder einer Bezugnahme auf ein Thema immer einen persönlichen Blickwinkel. Daran ist nichts schlecht, aber nichts sollte deshalb als allgemeingültig angesehen werden. Auch dieser Artikel ist es definitiv nicht.

Die Tatsache, dass indigene Gemeinschaften und Völker marginalisiert wurden, dass die Unabhängigkeit nicht für alle gleichermaßen erreicht wurde, dass es auch heute noch moderne Ausbeutung gibt und dass die Geschichte der indigenen Gemeinschaften verschwiegen wird, bedeutet jedoch nicht, dass wir die 200 Jahre “Unabhängigkeit” verkennen.

In all dieser Zeit haben wir nicht darauf gewartet, dass sich die Dinge von selbst ändern. Immer wieder gab es Forderungen, Kämpfe und Widerstände, die uns der aktuellen Situation näher gebracht haben.

Präsident Pedro Castillo und die Partei Peru Libre vertreten nicht die gesamte Bevölkerung, aber sie vertreten die große Mehrheit, die seit Jahren nicht gesehen wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie sich für alle unsichtbaren Bevölkerungsgruppen eingesetzt haben, etwa für die LGTBIQ-Comunity, was angesichts der sozialen Realität in Regionen, in denen der Machismo sehr präsent ist und über Genderfragen kaum gesprochen wird, verständlich ist.

Trotzdem zeigen Präsident Pedro Castillo und vor einigen Tagen auch der Präsident des Ministerrats, Guido Bellido, nach und nach ihre Offenheit für Forderungen, die sie zuvor aufgrund ihres Hintergrunds nicht für wichtig hielten. Umso wichtiger sind die Feiern zur 200jährigen Unabhängigkeit.

Fangen wir mit der Hoffnung an, dass die Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften, die lange Zeit von den staatlichen Behörden unsichtbar gemacht wurden, endlich nicht nur wahrgenommen werden, sondern dass viele von ihnen Teil der politischen Strukturen werden, die sich ändern müssen.


Bárbara Alagón
Barbara Alagón Choquehuamaní ist Studentin der Ethnologie an der Universidad San Marcos in Lima. Tochter von Migranten aus den Anden. Feministin. Sie ist zweite Vorsitzende von Yanapachikun, des Vereins der Peruaner, die ein Freiwilligenjahr in Freiburg absolviert haben. 

Übersetzung: Annette Brox