Silvia Laíz Fernández auf einem der wenigen Radwege in Villa El Salvador. (© Hildegard Willer)

Serie Umweltheldin: “Ich habe eine neue Freiheit entdeckt”

Corona hatte auch was Gutes für Silvia Laiz Fernández: Dank der Pandemie ist sie begeisterte Fahrradfahrerin geworden und hat entdeckt, dass ihre Heimat Villa El Salvador mehr als nur Sand zu bieten hat.

Villa El Salvador, Kreuzung Avenida Dos Mil und Separadora Industrial. Die Namen sagen schon, dass das hier ein Industriegebiet ist.  Eine junge durchtrainierte Frau in Radler-Hose und -Shirt kommt auf einem Mountainbike den Fahrradweg hochgefahren. Die langen schwarzen Haare hat sie zu einem Zopf geflochten.  An ihrem weißen Fahrradhelm winkt unter einer roten Signallampe ein rot-weisses Tüchlein, damit sie auch ja kein Autofahrer übersieht. Oder vielleicht will sie auch eine individuelle Note setzen, die zu ihr passt.  Silvia Laiz Fernandez Bravo ist die einzige Fahrradfahrerin auf dem Weg. Links und rechts rauschen Lastwagen und Taxis und dreirädrige Mototaxis vorbei. Drei Kinder spielen auf dem Mittelstreifen an einer neu errichteten Wippe. Die Häuser an der Straße sind eine Mischung aus Industriesiedlung und Wohnhäusern mit den für Lima typischen Flachdächern, deren Bau nie abgeschlossen ist. „Noch vor wenige Jahren war der ganze Mittelstreifen ein einziger Sandhaufen“, sagt Silvia Laiz. Erst in den letzten Jahren hat die Stadtverwaltung von Villa El Salvador hier einen Fahrradweg angelegt und ein paar Bäume gepflanzt. Doch viel zu wenig für den 400 000 Einwohner*innen zählenden Distrikt ganz im Süden Limas.

Villa El Salvador ist bekannt für seine Tradition der Selbstverwaltung und den Kampfgeist, mit der vor erst 50 Jahren Migrant*innen aus ganz Peru im Süden der Hauptstadt die neue Siedlung gründeten. Die soziale Anführerin Maria Elena Moyano wurde hier 1992 von Terroristen des Leuchtenden Pfades hingerichtet. Im selben Jahr kam Silvia Laiz in Villa El Salvador zur Welt. „Ich kenne die Zeit des Terrorismus nur aus den Erzählungen meiner Eltern“, sagt Silvia. Die waren aus Cajamarca, im Norden Perus, nach Lima gezogen, auf der Suche nach einem Auskommen und besseren Chancen für sich und ihre Kinder. Silvia und ihre beiden Schwestern haben erlebt, wie Villa El Salvador gewachsen ist, wie es Strom, fließendes Wasser, Internet bekam. Wie Schulen gebaut wurden, Straßen und die Endhaltestelle der ersten Metrolinie von Lima.  Und eben ein paar Fahrradwege, ganz zum Schluss.

Silvia Laíz Fernández
Foto: Hildegard Willer

Wer in Villa El Salvador aufgewachsen ist, für den ist Fahrradfahren und Umweltschutz meist nicht die erste Priorität. Zu sehr ist der Alltag von der Sorge ums Überleben geprägt, das Geld zusammen zu bekommen, um Essen kaufen zu können, die Stromrechnung und die Schuluniformen für die Kinder. Für Silvia war das nicht viel anders. „Aber mein Vater hat uns immer animiert, Sport zu machen, rauszugehen, zu laufen.“  Obwohl Silvia von Geburt an wegen einer Hüftluxation leicht hinkt, hat sie sich davon die Freude am Sport nie nehmen lassen. Sie war aktive Volleyballspielerin und ist bis heute Schwimmlehrerin.  Nur Fahrradfahren war für sie nie eine Option: zuerst, weil sie kein eigenes Fahrrad hatte. Und dann galt Fahrradfahren als gefährlich – weniger wegen des damals noch kaum vorhandenen Autoverkehres, sondern weil Fahrradfahrer*innen überfallen wurden, um Räder zu klauen.

Dies änderte sich mit der Corona-Pandemie: Wie alle Peruaner*innen war auch Silvia in Quarantäne, gab ihren Unterricht als Hilfs-Erzieherin per Internet. „Ich hatte keine Bewegung, stattdessen aß ich mehr Süßes und nahm an Gewicht zu“, erinnert sie sich.  Die Schwimmbäder waren geschlossen, niemand spielte Volleyball, und Joggen kam für Silvia wegen ihrer Hüfte nicht in Betracht. Da begann sie Fahrrad zu fahren. Zuerst kleine Erkundungsfahrten in die umgebenden Straßen, dann immer länger Strecken. Sie wurde Teil des seit ca. 2017 bestehenden Fahrradkollektivs „Pedaleando Villa El Salvador“, eine Art Verein von rund 150 Fahrradfahrer*innen aus Villa El Salvador. Der Verein organisiert gemeinsame Fahrradausflüge, erkundet neue Routen in die Umgebung, und veranstaltet sogenannte „Masas criticas“ (in Deutschland ebenfalls bekannt als „Critical Mass“): An einem bestimmten Abend im Monat verabreden sich alle Radler*innen zum gemeinsamen Fahren durch die Stadt, zu einer Art Fahrraddemo. „Wir wollen damit den Autofahrern zeigen, dass die Straße uns auch gehört, dass wir ein Recht haben, die Straße zu benutzen und dass die Autofahrer Rücksicht auf uns nehmen müssen.“

Von den rund 150 aktiven Mitgliedern des Vereins sind gerade mal fünf Frauen – etwas, das sich unbedingt ändern muss, findet Silvia. „Viele Frauen fahren nicht Fahrrad, weil sie nicht sexuell belästigt werden wollen.“ Auch Silvia ärgert sich über verbale und auch schon mal handgreifliche Anmache von übergriffigen Männern, wenn sie in ihrer Fahrradkluft durch die Straßen fährt. Daran will sie sich nicht gewöhnen. Gewöhnt hat sie sich dagegen an die Gefahren der Straße – Autos, Motorradfahrer, Lastwägen, die hautnah an den Fahrradfahrer*innen vorbeifahren oder ihre Vorfahrt missachten, ihnen Wege abschneiden. „Du musst sicher im Sattel sitzen und die Gefahr einschätzen können.“ Silvia kann das.  Denn die Alternative wäre, sich von der Angst niedermachen zu lassen, und das ist Silvias Sache nicht.

Längst hat sie mit ihrem Fahrrad die Straßen Villa El Salvadors verlassen. Das Radfahren auf ihrem neuen elfgängigen Mountainbike ist Teil ihres täglichen Lebens. 13 Kilometer einfach fährt sie jeden Tag zu ihrer Arbeit in einer Hundepension am anderen Ende der Stadt – mit dem Bus würde sie Stunden dazu brauchen. Mit dem Rad kann sie über einen Hügel ins andere Tal fahren. „Einmal habe ich die einfache Strecke in 35 Minuten geschafft“, sagt sie stolz. Und sie spart außerdem noch das Fahrgeld – denn davon hat Silvia als alleinerziehende Mutter der 13-jährigen Dafne wahrlich nicht zu viel.

„Mit dem Fahrradfahren habe ich eine neue Freiheit, ein neues Abenteuer entdeckt“, schwärmt Silvia. Und nicht zuletzt hat sie eine Natur vorgefunden, von der sie nicht wusste, dass sie in unmittelbarer Umgebung von Villa El Salvador existiert: Auf den umgebenden Sandhügeln und -bergen blühen im Winter Moos, Gräser und sogar Blumen. Es gibt Bäume, Wasserlöcher. Nur wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, lernt dies auch zu schätzen. Und deswegen sind Fahrradfahrer*innen auch immer Umweltschützer*innen. Kein Fahrradfahrer würde Müll wegwerfen, eben weil diese Orte so kostbar sind – und weil es so mühsam ist, sie zu erreichen. Andererseits sieht sie bei ihren Fahrten, wie sehr die Naturgebiete gefährdet sind. Vor allem illegale Landbesetzer*innen missachten jegliche Regeln und besetzen geschütztes Land – oft in der Absicht, es gewinnbringend weiterzuverkaufen.

Anders als dies für Fahrradaktivist*innen in Europa der Fall sein kann, ist Fahrradfahren für Silvia kein klimapolitisches Statement. Sie hat an sich nichts gegen das Autofahren – sie und ihre Familie haben, wie die meisten Familien in Villa El Salvador, noch nie ein Auto besessen. Auch hat sie nichts gegen das Fliegen. Einmal in ihrem Leben ist sie geflogen, nach Cusco, „um meiner Tochter Macchu Picchu zu zeigen“.  Silvia Laiz muss ihren ökologischen Fußabdruck nicht einschränken. Deswegen ist Fahrradfahren für sie eine neu gewonnene Freiheit, aber keine Option gegen das Auto oder ein anderes Verkehrsmittel. „Es kommt darauf an, wofür man es braucht. Mit einem Auto könnte ich mehrere Leute mitnehmen, die zum Beispiel nicht Rad fahren.“

Noch sind die Radfahrer*innen in Villa El Salvador eine kleine Gruppe, die aber seit der Pandemie am Wachsen ist. Die Kämpfe um die Vorherrschaft auf den Straßen werden zunehmend auch in Lima geführt. „Ich wünschte mir, dass alle Verkehrsteilnehmer – Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger – sich gegenseitig respektieren und sich ihren Platz lassen.“

Hildegard Willer