Stephanie Boyd und Patricia Wiesse zeigen in ihren Dokumentarfilmen das Leben im peruanischen Amazonasgebiet. Ihre Filme „Karuara – die Menschen des Flusses“ und „El Huaro“ gewannen beim diesjährigen Internationalen Filmfestival in Lima mehrere Preise.
Es sei eine Risikoschwangerschaft, und sie müsse zum Gebären rechtzeitig ins Krankenhaus gehen. So hat es der Arzt zu Mariluz Canaquiry gesagt, als sie mit ihrem vierten Kind schwanger war. Nun lebt Mariluz nicht in einer Stadt oder einem Dorf mit Zug- und Busanschluss. Von ihrem Dorf Shapajilla aus sind es mehrere Bootsstunden bis in die Amazonas-Hauptstadt Iquitos, wo sich das nächste Krankenhaus befindet. Als Mariluz merkte, dass die Wehen einsetzten, machte ihr Mann sein „Peque Peque“ – ein langes Holzkanu mit einem Aussenbordmotor – startklar. Es war mitten in der Nacht und schüttete wie aus Kübeln. Doch das Kind wollte nicht warten. Mitten auf dem Marañón-Fluss flutschte die kleine Juanita problemlos aus Mariluz hinaus. Ihr erster Kontakt mit der Welt war der Boden des Bootes, der Regen und das Rauschen des Flusses.
„Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es ist, in der Regenzeit mitten auf dem Fluss zu gebären“, sagt Filmemacherin Stephanie Boyd viele Jahre später. Die gebürtige Kanadierin lebt seit 27 Jahren in Peru und hat sich mit Filmen über Umweltverbrechen einen Namen gemacht. „Wenn ich bei meinen Besuchen im Dorf nachts die Toilette suchen musste, war das mir schon Abenteuer genug.“ Mit Mariluz’ Erzählung von der Geburt ihrer Tochter beginnt Stephanie Boyd ihren Film „Karuara – Menschen des Flusses“. Es ist ein Film über das Leben an und im Marañón-Fluss, der über weitere Nebenflüsse in den Amazonas mündet.
Eine mythische Unterwasserstadt
„Karuara“ nennen die Kukama-Indigenen die Menschen, die im Fluss umgekommen sind und deren Leichen nie gefunden wurden. Laut ihrer Mythologie führen diese ihr Leben unter Wasser weiter – in einer Parallelwelt, einer eigenen Stadt. Als Stephanie Boyd dies hörte, wusste sie, dass sie das Thema für ihren neuen Film gefunden hatte. Denn sie hat selbst ihren Cousin und dessen Vater im Ontario-See verloren – und auch ihre Leichen wurden nie geborgen.
Doch von der ersten Idee zum fertigen Film sollten zehn Jahre vergehen. Immer wieder mussten Stephanie Boyd und ihr Partner Miguel Araoz Geld auftreiben, dann kam die Corona-Pandemie dazwischen, die Peru praktisch zwei Jahre lang stilllegte. Doch am meisten Zeit brauchten die animierten Teile des Films. Zwar war sehr schnell klar, dass Mariluz Canaquiry die Hauptperson des Films sein würde. Aber wie sollte die Mythologie der Kukama dargestellt werden?
Etwa so: Ein erdbraun gezeichnetes, geschlechtsloses Wesen nimmt einen Pfeil, legt ihn an seinen Bogen und schießt ihn mehrere Kilometer in die Weite. Dort, wo der Pfeil auf den Boden trifft, bildet sich aus dem Nichts ein Fluss. Dann schafft die Figur mit weiteren Pfeilen andere kleine, mäandernde Flüsse, bis schließlich die ganze Leinwand mit einem Netzwerk aus Gewässern bedeckt ist.
Rund 1000 Zeichnungen haben Miguel Araoz, ein ausgebildeter Maler, und seine Kollegen von der Kunstschule in Cusco dafür erstellt, sie danach wie in einem Daumenkino zusammengemischt und digitalisiert. Es war ihr erster Animationsfilm, und sie mussten die Herstellung von der Pike auf lernen. Dabei haben sie für jede Animation ein volles Jahr gebraucht. Doch das Ergebnis hat sich gelohnt. Als Stephanie, Miguel und Mariluz den fertigen Film den Dorfbewohner*innen von Shapajilla und Nauta vorführten, kam danach eine junge Frau zu ihnen und sagte, genauso habe sie es geträumt. Und dass sie noch nie jemanden von ihrem Traum erzählt habe.
Während der Dreharbeiten gelangte Mariluz Canaquiry, deren Geschichten und Erinnerungen den roten Faden des Films bilden, zu einer gewissen Berühmtheit. Als Vorsitzende des Frauenvereins der Kukama hat sie beim Gericht in Loreto auf die Anerkennung eines Eigenrechts für den Marañón geklagt. Am 15. März dieses Jahres kam dann die Nachricht, die um die Welt ging: der Marañón-Fluss erhält eine eigene Rechtspersönlichkeit!
„Diese Anerkennung gibt uns die Möglichkeit, im Namen des Flusses Klage einzureichen, zum Beispiel, wenn der freie Fluss bedroht wird“, ist Mariluz Canaquiry überzeugt. Doch nicht nur der Fluss, sondern auch die traditionelle Lebensweise der Kukama ist bedroht. Diesen Konflikt sieht man bei den jungen Kukama sehr deutlich. Im verschmutzten Wasser tummeln sich immer weniger Fische, und die nahe Stadt lockt mit falschen Konsumversprechungen, die für indigene Jugendliche meist unerreichbar sind. Dies erlebt auch Juanita, die auf dem Fluss geborene Tochter von Mariluz Canaquiry, die heute mit ihrer eigenen Familie in Iquitos lebt.
Ein Seilzug verbindet Welten
Von diesem Zwiespalt zwischen traditionellem Gemeinschaftsleben und der Sehnsucht der jungen indigenen Frauen, diese einfache und patriarchale Welt zu verlassen, handelt der Film „El Huaro“ von Patricia Wiesse. Der Huaro, das sind mehrere Holzbretter, umgeben von einem Metall-Geländer, die von den Mitfahrenden an zwei Stahlseilen über den Chiriaco-Fluss gezogen werden und damit eine Fähre ersetzen. Auf der einen Seite des Flusses liegt die Kleinstadt Chiriaco, laut, chaotisch, voller Geschäfte, und die erste Station auf dem Weg in die Hauptstadt Lima. Auf der anderen Seite des Flusses beginnt das indigene Gebiet der Awajún. Dort steht auch die Mädchenschule Fe y Alegria 62, in denen Awajún-Mädchen ihre Sekundarschule absolvieren können.
Die in Lima geborene und lebende Patricia Wiesse kam erstmals im Jahr 2009 mit dem „Huaro“ über den Fluss Chiriaco. Kurz zuvor waren bei einer Indigenen-Revolte gegen einen von der peruanischen Regierung geplanten Verkauf indigenen Landes an Investoren – dem sogenannten Baguazo – zahlreiche Indigene, aber auch peruanische Polizisten ermordet worden. Der Staat klagte daraufhin die Anführer des Aufstands wegen Mordes an. Die Angeklagten flüchteten auf die andere Seite des Flusses und versteckten sich in ihren Gemeinden.
Damals recherchierte Patricia Wiesse als Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation zu den Vorfällen und kam erstmals mit der von Nonnen geführten Mädchenschule in Kontakt. „Ich war sofort beeindruckt von der guten Organisation und dem Niveau der Schule“, erzählt sie – und so entstand die Idee für ihren Film. Dieser zeigt einerseits den Schreiner Alberto Tawi, der 2009 zu den wegen Mordes angeklagten Indigenenführern gehörte und 15 Jahre lang unter Anklage und halb versteckt lebte, bis er 2023 schließlich freigesprochen wurde. Doch der Hauptfokus des Films liegt auf den jungen Awajún-Frauen und ihrem Leben im Internat der Schule: wie sie zusammen lernen, tanzen, essen. Vor allem aber, wie sie zusammen in ihrer Sprache Awajún reden, kichern, von ihrem Leben erzählen. Patricia Wiesse war es wichtig, dass die Kamera keine Interviews zeigt, sondern die Gespräche unter den Mädchen wie eine außenstehende Beobachterin aufnimmt. Wochenlange Gespräche und Besuche waren notwendig, bis das Vertrauen geschaffen war, mit der Kamera zu drehen.
Selbsttötung als Rache und letzter Ausweg
Auf den ersten Blick zeigt der Film kichernde Teenager, die im Schlaf- oder im Speisesaal ihre kleinen Geheimnisse und Schwärmereien teilen, wie dies überall auf der Welt geschehen mag. Doch bald enthüllt das Lachen der Mädchen eine ernste und grausame Wahrheit. Die Selbsttötung als Ausweg aus Liebeskummer oder Gewalt in der Familie ist ihnen allen geläufig. Nella, eines der Mädchen, erzählt, wie sie selbst versucht hat, sich mit der Einnahme von Waschpulver zu vergiften. Janni, die 16-jährige Hauptdarstellerin, zählt alleine 17 Frauen und Mädchen aus ihrem Umfeld auf, die versucht haben, sich selbst zu töten, oder es tatsächlich getan haben.
Patricia Wiesse hatte im Vorfeld gehört, dass Selbsttötung bei Awajún-Frauen oft vorkommt – doch wie alltäglich sie im Leben der jungen Frauen war, hat sie dann doch überrascht. „Oft ist es wegen Liebeskummer oder wegen Gewalt in der Familie. Der Suizid ist Rache und Vergeltung“, so Wiesse. Das Reden über ihre Toten hat bei den Mädchen eine befreiende Wirkung. Der Film endet mit einer Szene, in der sie zusammen zum Grab einer jungen Frau gehen, die sich selbst getötet hat, Blumen niederlegen und gemeinsam trauern.
Die Rollenverteilung ist bei den Awajún sehr traditionell. Mädchen werden jung schwanger und wurden zumindest früher von der Familie verheiratet. Einige suchen ihr Heil deswegen in der großen Stadt, wo sie als Hausmädchen in sklavenähnlichen Verhältnissen Arbeit finden. Nur eine ganz kleine Minderheit schafft es, diesem Los zu entkommen und einen Beruf zu lernen. Janni, die 16-Jährige mit dem ernsten Blick, gehört dazu. Mit dem Huaro überquerte sie den Chiriaco und macht nun eine Ausbildung zur Krankenschwester in der Provinzhauptstadt Bagua.
Hoffentlich finden die beiden Filme einen Platz in deutschen Kinos und Filmfestivals.