Ich bin kein Opfer – Die unglaubliche Geschichte des Lurgio Gavilán

Fast 70.000 Tote, die meisten von ihnen arme Indígenas aus dem Hochland. Ermordet von der maostischen Guerrilla „Leuchtende Pfad“ oder von der peruanischen Armee. Zu diesem Ergebnis kam vor 10 Jahren die peruanische Wahrheitskommission. Viele der Opfer und Täter waren halbe Kinder. In seinem Buch „Erinnerungen eines unbekannten Soldaten“ gibt Lurgio Gavilán ihnen eine Stimme. Und stellt dabei einige Wahrheiten über den vergangenen Bürgerkrieg radikal in Frage.

Soldaten mit Tarnmasken richten ihre Waffen auf ihn. Jeden Moment würde der tödliche Schuss fallen.  Das einzige, woran Lurgio Gavilán denkt: „Ich darf jetzt nicht weinen“.  Er schluckt den Speichel hinunter, hält die Luft an. Jedoch die Angst ist stärker. Tränen laufen ihm übers Gesicht, sein Körper zittert, der eingeübte Schlachtruf kommt nur noch lautlos über die Lippen: „Es lebe der Präsident Gonzalo, es lebe Mao, es lebe Marx“. Alleine auf einer unwirtlichen Hochebene im peruanischen Ayacucho wartet Lurgio Gavilán alias Genosse Carlos auf den Tod, von dem man ihm gesagt hatte, dass es ein heldenhafter sei, notwendig für die Errichtung des kommunistischen Paradieses auf Erden. Man schreibt den März 1985, in drei Monaten würde Lurgio Gavilán 14 Jahre alt werden.

28 Jahre später stürmt ein Mann in den besten Jahren in die ehrwürdigen Hallen des Instituto de Estudios Peruanos, einer  privaten Denkfabik in der peruanischen Hauptstadt Lima. Lurgio Gavilán ist eben aus Ayacucho angekommen, er trägt Jeans, Tunschuhe und ein hellblaues T-shirt mit einem Allerwelts-Logo, da kann im Nachtbus nichts zerknittern. Den Rucksack hat er um die Schulter geschlungen, die Wasserflasche in der Hand. „Da kommen die Serranos huacos an, die Indio-Trottel“, habe einer am Busbahnhof in Lima gerufen. Es ist der alltägliche Rassismus in Peru, immer noch mächtig und tabuisiert, ausgeübt von einer ethnischen Minderheit gegen die indianisch geprägte Mehrheit und erlitten von Menschen wie Lurgio Gavilán seit Jahrhunderten. Lurgio Gavilán sieht man an, dass er aus den Anden kommt. Er hat die braune Haut und die schmalen Augen der Anden-Völker, wache Augen, sein Körper hat die Zähigkeit eines, der jeden Samstag auf 3.500 Meter Höhe Fußball spielt.  Lurgio Gavilán sieht so durchschnittlich peruanisch aus, dass er in einer Menschenmenge in Lima nur schwer zu erkennen wäre. Lurgio Gavilán hat ein Buch geschrieben, dessen erste Auflage innerhalb weniger Wochen ausverkauft war, und dessen Titel auf den ersten Blick so unscheinbar daherkommt wie sein Autor: „ Erinnerungen eines unbekannten Soldaten“.

Das literarische Zeugnis eines direkt Beteiligten

Viel wurde in den letzten Jahren über die Zeit geschrieben, als im andinen Hinterland Perus eine maoistisch inspirierte Guerrilla und die peruanische Armee sich ein Blutbad lieferten, das unter den lateinamerikanischen Guerrillas der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts höchtens mit dem Ethnozid in Guatemala zu vergleichen ist.  „Leuchtender Pfad“ nannte Abimael Guzmán, alias Presidente Gonzalo seine bewaffnete Truppe, die den Langen Marsch auf die Hauptstadt in den Bergdörfern Ayacuchos begann. Fast 70.000 Andenbewohner, meist arme indigene Bauern, sind entweder dem Leuchtenden Pfad oder der peruanischen Armee zum Opfer gefallen, wie eine staatliche Wahrheitskommission vor 10 Jahren feststellte. Unzählige Ethnologen und Soziologen aus der Hauptstadt oder dem Ausland haben dafür Opferaussagen aufgenommen und analysiert, Hypothesen aufgestellt und Erklärungen geliefert. Die Literatur ueber die jüngste peruanische „violencia“ füllt ganze Bücherregale. Aber noch nie hat ein Betroffener selber sich schriftlich zu Wort gemeldet. Lurgio Gavilán ist der erste, der dabei war und selber über diese Zeit schreibt. Seine Geschichte sabotiert alle Versuche, die Geschehnisse des Bürgerkrieges in Gut und Böse einzuteilen, in Opfer und Täter.  Denn Lurgio Gavilán hat sie alle er-, durch- und ueberlebt: den Leuchtenden Pfad, die peruanische Armee und sogar die katholische Kirche. Vor allem eines ist Lurgio Gavilán wichtig: Eine Opfergeschichte ist seine Geschichte nicht. Ist sie eine Tätergeschichte?

„Ich gehe fort“. 12 Jahre alt war Lurgio, als der Bauernjunge diese Worte zu seiner Tante und seinem Vater sprach, um sich seinem älteren Bruder Ruben zu suchen. Lurgios Mutter war gestorben, und der Bruder, der sich um den kleinen Lurgio gekümmert hatte, hatte sich dem Leuchtenden Pfad angeschlossen. Zur Schule gegangen war Lurgio gerade mal ein paar Monate. „Anfang der 80-er Jahre ging der Leuchtende Pfad wie ein Lauffeuer durch die Dörfer, alle waren ergriffen von der Utopie sozialer Gerechtigkeit, dass sich endlich etwas ändern wuerde“, erklärt Lurgio Gavilán die aus heutiger Sicht unbegreifliche Entscheidung, sich freiwillig dem Leuchtenden Pfad anzuschliessen. Wie der Regen in den Anden sei der Leuchtende Pfad gewesen: zuerst mit allen Fasern ersehnt und Hoffnung bringend, dann jedoch wie ein überbordender Wildbach habe er alles auf seinem Weg zerstört. Denn was anfangs noch eine Freiwilligentruppe war, die bei der Bevölkerung Rückahlt hatte, verkam schnell zu einer marodierenden Räuberbande. Zu einer Bande von erbarmungswuerdigen Kindern und Jugendlichen, die die erlernten Mao-Parolen kaum lesen und schreiben konnten, und die in Sandalen oder vielfach geflickten Gummistiefeln die bis auf 5.000 Meter hohen Anden rauf- und runter stiegen, immer in Flucht vor den Soldaten und mit so leeren Mägen, dass sie sich das kommunistische Paradies vor allem als Schlaraffenland vorstellten. Diese Kinderbande massakrierte auf Geheiss ihres politischen Kommandos tatsächliche oder erfundene Verräter. Denn der Leuchtende Pfad hatte es nicht nur auf die peruanische Armee abgesehen, sondern meuchelte zuerst die Dorfgemeinschaften, die ihnen die Gefolgschaft verweigerten. Wer heute noch die Taten eines Abimael Guzman rechtfertigen mag, wird bei der Lektüre der „Erinnerungen eines unbekannten Soldaten“ sehr schnell verstummen. Die Schreckensherrschaft des Leuchtenden Pfades funktionierte auch nach innen: eine erbeutete Thunfischdose zu behalten, oder nur bei der Wache einzunicken, wurde mit dem Tod bestraft. Und doch war es eine Welt, die fuer Lurgio Gavilán nicht nur schrecklich war. Menschlichkeit ist auch möglich unter den allerschlimmsten Entbehrungen. Lurgio Gavilán erinnert sich voller Zärtlichkeit an die abendlichen Gespräche mit einer später getöteten Kameradin, oder daran, wie eine Genossin den Buben die Läuse aus den Haaren zupfte; er erinnert sich an das Wiedersehen mit seinem grossen Bruder, der ihm versprach, das nächste Mal richtige Turnschuhe mitzubringen. „Es war damals die einzige Welt, die wir kannten, und deshalb fanden wir sie nicht schrecklich“.

Vom Kind-Soldaten zum Soldatenkind

Den Namen seines Lebensretters gibt Lurgio Gavilán in keiner Zeile preis. Die peruanischen Soldaten hatten ihn gestellt, als er mit einer Kameradin Salz aus einem geheimen Lager in den Bergen geholt hatte. „Schiess ihn schon nieder“ riefen die Bauern, deren Dorf vom Leuchtenden Pfad überfallen worden war. Der namenlose Sergeant hörte nicht auf sie oder verstand sie nicht, weil sie Quechua sprachen. Was auch immer der Grund war, er nahm Lurgio mit in die nächste Kaserne und steckte ihn in die Schule. Mit 14 Jahren lernte der Junge die Landessprache Spanisch sprechen, schreiben und lesen und tauschte das Leben als Kind-Soldat des Leuchtenden Pfades mit dem eines Soldatenkindes in der Kaserne der peruanischen Armee. Auch dort hörten die Gräueltaten nicht auf. Lurgio wurde Zeuge, wie weibliche Gefangene des Leuchtenden Pfades zuerst wie Sklavinnen in der Kaserne gehalten wurden und danach als unangenehme Zeuginnen umgebracht wurden. Dennoch blieb Lurgio nach der Sekundarschulzeit als Freiwilliger in der Armee, brachte es bis zum Instruktor. Er hatte die Seiten gewechselt, verfolgte nun den Leuchtenden Pfad, war dabei, sich im Soldatenleben einzurichten.

„Ich gehe fort“. Zehn Jahre später, 1995, spricht Lurgio diese Worte wieder, dieses Mal  zu seinem Vorgesetzten bei der Armee. Der staunte nicht schlecht, als er von Lurgios Ansinnen hörte. Priester wollte er werden. Eine Nonne, die er als Leibwächter bei ihren Pastoralgaengen auf die Dörfer begleitete, hatte ihn auf die Idee gebracht. Nicht alle Orden wollten einen sündigen Soldaten  in ihren Reihen – wobei die Sünde vom zustaendigen Ortsbischof weniger im Morden, den im Umgang mit Prostituierten gesehen wurde. Der Bettelorden des Heiligen Franziskus nahm Lurgio dennoch auf, der ehemalige Soldat schlüpfte in die braune Kutte mit dem dreifach geknöpften Seil und studierte jeden Tag die Schriften des heiligen Franziskus, des Alten und Neuen Testaments, Liturgie und Kirchengeschichte. In dieser Zeit entstand auch die erste Fassung der „Erinnerungen eines unbekannten Soldaten“, als vom Orden angeregte Selbstreflexion.

Guerrilla – Armee – Kirche: drei totalitäre Institutionen

„Der Übergang war nicht schwer“, schreibt Lurgio Gavilán. Ebenso wie der Leuchtende Pfad und die Armee verlangt die katholische Kirche auf Gehorsam und Disziplin. Nur die Taktgeber der Institutionen waren unterschiedlich. Ging es beim Leuchtenden Pfad nach der Uhr – oder nach der Sonne, wenn keine Uhr da war – , so gab beim Militär das Horn, und bei den Franziskanern die Glocke den Ton an. Ein zentrales Element jedoch sei anders gewesen, schreibt Lurgio Gavilán, und fasst dabei den Kern der christlichen Lehre zusammen: während die Selbsterforschung beim Leuchtenden Pfad und der Armee dazu dienten, den Hass auf den Gegner zu schüren, so predigten die Franziskaner die christliche Nächstenliebe und die Vergebung.

Noch etwas haben die drei totalitären Institutionen gemeinsam: die geographische Totalität. Lange Fussmaersche über Berg und Tal, bei allen Witterungen, um auch die entlegensten Dörfer entweder zu bekehren, beschützen, bestrafen oder berauben. Im peruanischen gibt es kein Wwort für „Wanderlust“, dazu sind die Anden zu  furchteinflössend und ungezähmt, als dass jemand die Gewaltanstrengung ihrer Bezwingung als lustvoll empfinden koennte. Indirekt scheint die Erfahrung der Nähe zur Natur immer dann durch, wenn Lurgio Gavilán fast poetisch von den Blumen, Bergen, Steinen spricht. In der andinen Kosmovision sind sie beseelt, nur die Quechuasprache bringt sie zum Singen.

Lurgio Gavilán denkt auch heute noch zuerst in Quechua, und übersetzt dann im Kopf die Worte in ein korrektes aber bedächtiges Spanisch. Er spricht voller Selbstbewusstsein und Stolz. Viele Indígenas trauen sich bis heute nicht, Quechua öffentlich zu sprechen. Lurgio hat gelernt, die Scham abzulegen. “Ich habe alle drei Institutionen durchlebt, habe Ketten gesprengt und bin heute frei“, sagt er. Und dass er allen drei Institutionen dankbar sei.

Das Leben als katholischer Ordensmann war schliesslich auch nicht das Richtige. Nach zwei Jahren bei den Franziskanern entschloss er sich, nach Ayacucho zurückzugehen und dort als Bauer zu leben, so wie seine Vorfahren. Das Schicksal nahm nochmal einen Umweg: Lurgio Gavilan landete an der ethnologischen Fakultät der Universität von Ayacucho. Heute schreibt er in Mexiko an seiner Doktorarbeit.

Resilienz oder Verdrängung?

„Ich habe keinen Hass auf niemanden“, sagt Lurgio Gavilán heute, „ ich habe das Gute genommen und  bin weitergegangen“. Die Psychologen nannten das früher negativ Verdrängung, heute wird diese Fähigkeit als Resilienz bewundert. Denn Lurgio Gavilán hat trotz aller Widernisse seine Fähigkeit zur Empathie nie verloren, statt Hass fühlt er Mitleid mit den unzähligen Kindern, die wie er vom Leuchten Pfad missbraucht wurden. Seine Stimme hebt sich nur, wenn er von Abimael Guzmán spricht – den er nie persönlich kennengelernt hat – , der unzählige Kinder wie ihn missbraucht hat im Namen seiner Ideologie.

Und die Schuld? Schnell wird klar, dass dies die Frage einer Deutschen ist, der man jahrelang beigebracht hat, dass jede Gewaltgeschichten säuberlich in Opfer und Täter aufgeteilt sind, und dass Täter umVerzeihung bitten müssen, wenn es ueberhaupt je zu einer Versöhnung kommen soll. „Warum soll ich mich schuldig fuehlen?“ Lurgio Gavilán ist ehrlich erstaunt. „In dem Moment, in dem wir töteten, empfanden wir keine Schuld, wir glaubten, das Richtige zu tun, uns wurde gesagt, dass es richtig sei“.  Viel wichtiger als die Schuldfrage ist ihm, dem verbreiteten Opfer-Image  die Fähigkeit zur Tat gegenueberzustellen. „Man stellt sich als Opfer nur dar, um besser wegzukommen, seine Haut zu retten“, ist Lurgio überzeugt. Anstatt Opfer auszustellen, sollte man vielmehr das Augenmerk richten auf das, was die Menschen aus den Anden vermögen, nicht immer darauf schauen, was sie erleiden. So schrecklich auch der Bürgerkrieg in den Anden gewesen sei, die Andenbewohner seien widerständig: „Wir hatten in den Anden immer harte Zeiten, wenn die Regenzeit ausfiel, und es nichts zu essen gab. Wir kennen solche Zeiten und haben sie überlebt. Wir werden auch den Leuchtenden Pfad ueberleben.“

Die Rückkehr

2007 – Lurgio lehrte bereits Ethnologie in der Stadt Ayacucho – hat er eine Reise in die Vergangenheit unternommen, an die Stätten seiner Soldatenzeiten, als Kindsoldat beim Leuchtenden Pfad, später als Soldat der Armee. Er fand die selbe herbe, überwältigende Natur vor. Er traf einige wenige Menschen wieder aus der Vergangenheit. Er sprach mit seinen Toten, mit seinem Bruder, der ihm die versprochenen Turnschuhe nie brachte, weil er wenige Wochen nach ihrem Zusammentreffen einem Hinterhalt zum Opfer fiel. Er fand alte Menschen und fast verlassene Dörfer vor. Die Menschen leben noch genauso wie sie vor dreissig und wahrscheinlich auch 300 Jahren gelebt haben, allein gelassen vom Staat, ausgeschlossen von den Segnungen der Moderne. Nur dass da kein Idyll mehr da ist, nur noch Misstrauen. In der andinen Kosmovision kommt Versöhnung erst durch Wiedergutmachung zustande, erst dann kann die Welt wieder ins Lot kommen. Die Welt der peruanischen Anden nach dem Bürgerkrieg ist noch lange nicht im ersehnten Gleichgewicht. Denn Geschichten wie seine, daran lässt der unbekannte Soldat keinen Zweifel, hat es viele gegeben.

Und da ist kein Trauma geblieben bei dieser Lebensgeschichte? Er hasse niemanden, sagt Lurio Gavilán, sei dankbar dem Leben. Nur seit damals, als er vor 28 Jahren am Fuss des schneebedeckten Razuhuillca von einer Patrouille Soldaten erschossen werden sollte, fürchtet er die Dunkelheit und den Tod.


Hildegard Willer