Demo “Ni una menos” – Keine darf fehlen ©Teatro Vichama

Frausein in Peru 2023

Die Gesetze zum Schutz der Frauen sind vorhanden – doch werden sie selten eingehalten. Dazu kommt ein Backlash von Seiten konservativer Politiker.

Weder die Regierung des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo noch die der derzeitigen peruanischen Präsidentin Dina Boluarte hatten Gender auf ihrer Agenda. Beide Regierungen haben es versäumt auf den dringenden Bedarf an einer tragfähigen öffentlichen Politik zur Bekämpfung von Femiziden sowie häuslicher und sexueller Gewalt in Peru zu reagieren.

Während der Regierung von Ex-Präsident Castillo wurde das Frauenministerium von zwei Feministinnen, der Soziologin Anahí Durand Guevara (29.7.21-2.2.22) und der NGO-Aktivistin Diana Miloslavich Túpac (8.2.-24.8.22) geführt. Sie hatten beide sehr kurze Amtszeiten (sechseinhalb Monate) und versuchten, die Rechte der Frauenbewegung und ihre Errungenschaften zu stärken. Ein Beispiel für das Bestreben einiger Sektoren, die Errungenschaften rückgängig zu machen, ist der Gesetzesvorschlag eines Abgeordneten, das Frauenministerium in Familienministerium umzubenennen. Der Gesetzentwurf war erfolglos und stieß auf vehementen Widerstand des Frauenministeriums und der Frauenorganisationen. Aber es gab und gibt bis heute noch amtierende Minister, die der häuslichen Gewalt und der Korruption beschuldigt werden. Diana Miloslavich lehnte das vom Kongress verabschiedete Gesetz über das gemeinsame Sorgerecht für Minderjährige ab, weil Kinder damit nicht vor gewalttätigen Vätern geschützt seien. Sie konnte das Gesetz jedoch nicht verhindern.

Der Kongress verabschiedete im Juni 2022 das Gesetz Nr. 31498, um die inklusive Sprache aus den Schultexten und der integralen Sexualerziehung zu entfernen. Dieses konservative Gesetz stellt einen gravierenden Rückschritt für die Rechte von Jungen, Mädchen und Jugendlichen dar, eine qualitativ hochwertige, gleichberechtigte, diskriminierungsfreie und geschlechtsspezifische Bildung zu erhalten und ihr Recht auf umfassende Sexualerziehung zu garantieren.

Rückschritte beim Recht auf Abtreibung

Ex-Präsident Castillo vergaß sein Versprechen aus dem Wahlkampf, sich für die Opfer der Zwangssterilisierungen einzusetzen. Gegenüber dem fundamentalistisch geprägten Kongress kämpft die feministische Bewegung für eine geschlechtersensible Schulbildung und gegen die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, das ohnehin einzig beim Vorliegen medizinischer Gründe gilt. Junge Mädchen, die Opfer einer Vergewaltigung werden, haben kein Recht auf Abtreibung. Sie stoßen auf ein Justiz- und Gesundheitssystem voller rassistischer und von Machismus geprägter Widerstände. Medizinisches Personal weigert sich oft, eine Abtreibung vorzunehmen. Und dies ist kein individuelles Problem, es handelt sich nicht um Einzelfälle.

Die Vereinten Nationen in Peru berichteten am 21.April 2022, dass jeden Tag 16 Mädchen und junge Frauen Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Zwischen 2020 und 2021 stiegen die Fälle von jugendlicher Mutterschaft bei Kindern unter 15 Jahren von 1.158 auf 1.438.

Im Februar 2023 hatte ein zehnjähriges Mädchen, das sexuell missbraucht wurde, eine Frühgeburt in einem Krankenhaus in Piura, bei der sie einem Kaiserschnitt unterzogen wurde. Das Baby starb. Ihr wurde die Abtreibung verweigert, obwohl therapeutische Abtreibung in Peru seit 1924 legal ist.

Gesetze gegen geschlechtsspezifische Gewalt

Perus Gesetze entsprechen den internationalen Standards zur Entwicklung von Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Im Jahr 2003 ist das Gesetz Nr. 27942 zur Verhinderung und Bestrafung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in Kraft getreten. Aber in öffentlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen machen die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen aus Angst vor Stigmatisierung, Arbeitsplatzverlust und Gerichtskosten kaum von diesem Recht Gebrauch. Aber es gibt Ausnahmen. So  der Fall des Abgeordneten der Partei Allianz für den Fortschritt (APP), der im Juli 2022 von einer Mitarbeiterin des Parlaments angezeigt wurde, nachdem diese in einem der Büros in Jirón Azangaro im Zentrum Limas von ihm vergewaltigt worden war.

Peruanische „Machokratie“

Obwohl die peruanische Regierung im Jahr 2015 das Gesetz Nr. 30364 zur Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Familienmitgliedern und das Gesetz Nr. 30314 zur Verhinderung und Bestrafung sexueller Belästigung im öffentlichen Raum verabschiedete, haben die 2016 in Kraft getretene nationalen Aktionspläne bis heute wenig Wirkung gezeigt.

Der Machismus ist so sehr in dem Land verankert, dass die Mehrheit der Männer ihre Partnerinnen als ihr Eigentum betrachten, d.h. sie ohne Skrupel misshandeln, vergewaltigen und sogar töten.

Die „Machokratie“ (María Galindo 2020) übernimmt die öffentlichen Plätze und übt Gewalt gegen Frauen aus, von der Belästigung auf der Straße bis zur Ausübung sexualisierter Gewalt. Pfeifen, aufdringliche Blicke, anzügliche Äußerungen, Gesten, obszöne Witze, Verfolgen oder Bedrängen, sexuelle Aufforderungen, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind Übergriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung der Betroffenen. Es geht bei dieser Form der Gewaltausübung nicht um die sexuelle Befriedigung des Täters. Vielmehr wird Sexualität als Waffe verwendet, um Macht zu demonstrieren und die andere Person zu erniedrigen. Die Täter werden in der Mehrheit der Fälle nicht angezeigt und ihre Taten bleiben ohne strafrechtliche Konsequenzen. Besonders in den Urwaldregionen des Amazonas und in den Anden, wo die Justiz kaum anwesend ist, sind Analphabetinnen, Indigene, andine Frauen und Mädchen sehr von Gewalt betroffen.

Die Koordinatorin des Menschenrechtsprogramms des Frauenzentrums Flora Tristán wies im November 2022 darauf hin, dass von allen Frauen, die in irgendeiner Form von Gewalt betroffen sind, nur 25 % eine Anzeige bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft erstatten, da die Fälle straffrei bleiben und die Justizbeamten kein Einfühlungsvermögen haben“.

Nach Zahlen des Nationalen Zentrums für Epidemiologie, Prävention und Krankheitsbekämpfung (CDC Peru) aus dem Jahr 2022 sind Fälle von Gewalt häufiger bei erwachsenen Frauen (40,12 %), jungen Frauen (25,55 %) sowie bei alleinstehenden Frauen (43,05 %), in Lebensgemeinschaften lebenden Frauen (36,16 %), Frauen mit Sekundarschulabschluss (26,09 %) und Frauen, die keiner bezahlten Arbeit nachgehen (72,15 %).

Das CDC Peru gab ebenfalls bekannt, dass 83 % der Angreifer männlich sind. 39,94 % haben die Sekundarschule abgeschlossen, 51,57 % haben eine bezahlte Arbeit und 39,23 % haben keine bezahlte Arbeit.

Schließlich stellte CDC Peru fest, dass die häufigste Art von Gewalt psychologischer Natur ist (57,90 %, die in allen Arten von Gewalt vorkommt), gefolgt von körperlicher Gewalt (29,90 %) und Streitigkeiten über Familienangelegenheiten (33,90 %) und Eifersucht (27,30 %).

Die Feministinnen Maria Ysabel Cedano und Tarcila Rivera haben die Situation der Frauen in Peru auch bei einer Online-Veranstaltung der Infostelle Peru kommentiert.

Eine Frau als Präsidentin mit autoritärer Agenda

Präsidentin Dina Boluarte, betont in ihren Reden immer wieder, dass sie die erste weibliche Präsidentin Perus ist. Doch die feministische Bewegung fühlt sich von ihr nicht repräsentiert und bezeichnet sie als erste Diktatorin Perus. Die Präsidentin hat in nur drei Monaten Regierungszeit mehr als 60 Tote, hunderte Verletzte und dutzende Verhaftungen zu verantworten. Sie regiert auf der Grundlage willkürlicher Repression, da sie den Ausnahmezustand und damit die Rechtsstaatlichkeit gebrochen und die Menschenrechte verletzt hat.

Die autoritäre Regierung der Präsidentin Boluarte gleicht einem stillen Bündnis mit einem Kongress, der von der Bevölkerung delegitimiert wurde. Sie reproduziert die gleichen Mechanismen eines patriarchalischen politischen Verhaltens, welches die Aufrechterhaltung der Hierarchien zum Ziel hat. Militarisierung, Gewalt, Tote und die Schrumpfung der öffentlichen Räume für Proteste sind ein Beweis dafür, dass Frausein keine Garantie für die Entwicklung einer feministischen Agenda ist.

Am 6. März 2023 beleidigte und demütigte Bildungsminister Oscar Becerra in seinen Presseerklärungen die Aimara-Frauen, die an den Demonstrationen in Lima für den Rücktritt der Präsidentin Boluarte, die Schließung des Kongresses und die Forderung nach Gerechtigkeit für ihre Toten teilnahmen. Der Minister verglich sie mit Tieren und beschuldigte sie, dass die Kinder, die sie auf ihrem Rücken trugen, „sicher gemietet waren“. Die Frauenministerin hat noch eins daraufgesetzt,, als  sie darauf hinwies, dass alle Mütter auf die Gesundheit ihrer Kinder achten und sie nicht den Demonstrationen aussetzen sollten. Die Repression ignoriert das Recht der Aimara- und Quechua-Frauen auf politische Teilhabe . Am 7. und 8. März wurden die Aimara- und Quechua-Frauen und Frauen von feministischen Organisationen von der peruanischen Nationalpolizei mit Tränengasbomben angegriffen. Peru hat es mit einem ultra-konservativen Regime zu tun, welches das Recht auf Protest kriminalisiert und eine Anti-Rechts-Agenda für Frauen führt.

Maßnahmen gegen häusliche Gewalt

Das Ministerium für Frauen und vulnerable Bevölkerungsgruppen MIMP bietet seine Dienste gegen geschlechtsspezifische Gewalt über die Zentren für Frauen in Not (Centros de Emergencia Mujer – CEM) an. In 2022 bekamen die CEM 154.202 Anzeigen. Davon waren 43% der Anzeigen von psychischer Gewalt (Beleidigungen, Lächerlich-Machen und Anschreien in der Öffentlichkeit, Einschüchterungen, Demütigungen, Drohungen), während 39% der Anzeigen von physischer Gewalt (Ohrfeigen, Faustschläge, Stöße, Tritte, Fesseln, Würgen, Angriffe mit Gegenständen oder Waffen) und 18% von sexueller Gewalt waren. Betroffen waren 33.923 Frauen zwischen 18-29 Jahren und 56.923 Frauen zwischen 30-59 Jahren.

Die Rufnummer 100 ist ein kostenloser Telefondienst und Chat 100 ist ein personalisierter Internetdienst des nationalen Programms gegen häusliche Gewalt und sexuelle Gewalt.  170.780 Telefonanrufe wurden 2022 wegen Gewalt an Frauen gemeldet.

Die 22 Frauenhäuser (Hogar de Refugio Temporal-HRT) beherbergen landesweit Frauen, die mit dem Tode bedroht werden. Das bedeutet, dass es im Durchschnitt weniger als ein Frauenhaus pro Region in den insgesamt 25 Regionen Perus gibt. Diese können unmöglich den landesweiten Bedarf decken.

Der  Strategieplan (Estrategia Rural-ER) zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt auf dem Land besteht aus 63 Teams, die in 271 Gemeinden in 48 Provinzen und 23 Regionen Perus tätig sind.

Frauenmorde haben zugenommen

Das grausamste Gesicht der Gewalt gegen Frauen ist der Femizid. Die Gewalt fängt an bei psychischem Druck und reicht von emotionaler Erpressung über körperliche und sexualisierte Gewalt bis hin zu Frauenmorden. Nach dem Bericht ‚Was ist mit ihnen passiert?‘ der staatlichen Ombudsstelle Defensoría del Pueblo fanden im Jahr 2022 in Peru 137 Frauenmorde, ca. 7% mehr als 2021, statt. Alle Opfer wurden entweder von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet. Dazu kamen 51 gewaltsame Todesfälle und 111 versuchte Frauenmorde.

Demo “Ni una menos” – “Keine darf fehlen” ©Teatro Vichama

Einige Frauen sind spurlos verschwunden. Die Vermisstenanzeigen werden von der Polizei selten aufgenommen und die Betroffenen werden nicht regelmäßig gesucht. Die staatliche Ombudsstelle  berichtet von mehr als 5.380 Anzeigen von verschwunden Frauen im Jahr 2022. Davon betrafen 34% der Anzeigen erwachsene Frauen und 66%  verschwundene Minderjährige. Lima, Callao und die Regionen Arequipa, Cusco und Piura haben die höchsten Vermisstenraten.

Wo sind die verschwundenen Frauen und Mädchen, die bis jetzt nicht aufgetaucht sind? Wie viele der verschwundenen Frauen wurden umgebracht oder zur Prostitution gezwungen? Ihre Verwandten haben die Suche in die eigene Hand genommen oder suchen weiter über Dritte. Manche suchen seit vielen Jahren, in der Hoffnung eines Tages ihre Tochter oder Schwester zu finden.

Forderungen, um die Gewalt gegen Frauen zu stoppen

Die Forderungen der Frauenorganisationen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen in Peru sollen auch von einer feministischen Aussenpolitik Deutschlands  zur Wahrung der Menschenrechte unterstützt werden. Folgende Ziele sind gesetzt:

1) Eine länderübergreifende Solidarität, dass Frauen überall ihre individuellen und kollektiven Rechte erhalten und Zugang zum Rechtssystem haben. Neben der Solidarität zählt auch die Wachsamkeit der deutschen Frauenbewegung: Wohin fließen Gelder der Entwicklungszusammenarbeit? Wem nützen sie? Kommen gut ausgestattete Programme tatsächlich bei den betroffenen Frauen in den indigenen Gemeinden an oder sorgen sie nur für gute Löhne von Mitarbeiter*innen in den Provinzhauptstädten?

2) Finanzierung von Zufluchtshäusern für Frauen und Mädchen, die von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

3) NEIN zu Frauenmorden! NEIN zur Gruppenvergewaltigung! Anklage gegen die Täter sollen von der Justiz schneller bearbeitet, verurteilte Täter zeitnah bestraft werden.

4) Die Notdienstzentren/Servicio de Atención Urgente (SAU) und Zentren für Frauen in Not/Centro de Emergencia Mujer (CEM) sollen in allen Regionen Perus personell und finanziell ausgebaut werden.

5) Aufnahme der Aufklärungsarbeit in das nationale Schulprogramm, Unterricht zum Thema Sexualität sowie über häusliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen.

6) Kostenloser Schwangerschaftsabbruch bei Vergewaltigung für Mädchen unter 16 Jahren.

7) Konsequente Registrierung und Nachverfolgung von verschwundenen Frauen durch die Polizei.

8) Fortbildungen für Richter*innen, Staatsanwält*innen, Polizeibeamt*innen, Gerichtsmediziner*innen durch Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, insbesondere um sie für das Thema häusliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren.

Dr. Norma Driever, Vorstandsfrau der Informationsstelle Peru e.V.