©Sandra Arellano

“Trotzdem war meine Meinung nichts wert”

Die Juristin und Lateinamerikanistin Sandra Arellano Cruz erzählt von ihrem Ankommen in Deutschland.

In einer losen Reihe „Peruaner*innen in Deutschland“ stellen wir Migrant*innen aus Peru vor, die sich in Deutschland engagieren.

Dieses Mal erzählt uns Sandra Arellano Cruz aus Berlin über ihre Erfahrungen in Peru und in Deutschland. Sie engagiert sich bei der Lateinamerikanischen Fraueninitiative in Neukölln e.V (LAFI). Dabei begleitet und unterstützt sie Frauen im Rahmen verschiedener Projekte. Der Anfang in Deutschland war allerdings schwer.

Das Interview führte Jonas Emrich.

InfoPeru: Woher aus Peru kommst du und wie war dein Leben dort?

Sandra Arellano Cruz: Ich selbst bin Limeña und meine Eltern kommen aus der Provinz, aus dem Norden. Das hat auch ein bisschen mein Leben in Lima geprägt, denn ich bin als Kind an dem Ort aufgewachsen, an den sie gelandet sind, dem Distrikt Rímac. Ableichzeitig wollten sie, dass ich auf eine Schule gehe, die mir so viele Möglichkeiten wie möglich eröffnet. Deswegen bin ich auf die deutsche Humboldt-Schule gegangen. Von Rímac sind wir in einen anderen Stadtteil, Los Cipreses, gezogen, der auch ein Viertel der Mittelschicht war. Daher lebte ich ein Stück weit in zwei Welten: Die eine war die der aufstrebenden Mittelschicht meines Stadtteils. Die andere die einer Privatschule mit deutschen Mitschüler*innen und Lehrkräften. So bin ich aufgewachsen. Ich bin auf die Humboldt-Schule gegangen, weil mein Vater Philosophie studiert hatte und er deutsche Philosophie sehr mochte. Ich habe versucht, die beiden verschiedenen Welten für meine eigene Identitätsbildung miteinander zu verbinden. Ich wollte mich nicht zweiteilen müssen. Ich wollte, dass das alles in mir zusammenpasst. Ich glaube, das ist mir gelungen ist.  Beiden Sphären habe ich mich zugehörig und dort wohl gefühlt.

InfoPeru: Aus welchem Grund kamst du nach Deutschland?

Meine Schwester war bereits viel früher nach Deutschland gekommen. Ich hatte damals schon mein Studium in Peru abgeschlossen. Ich wollte früher immer schon im Ausland studieren, aber da ich in Peru Jura studiert habe, erschien mir ein Jura-Master in Deutschland etwas viel. Und am Ende eines längeren Prozesses wollte ich auch nicht mehr als Anwältin arbeiten. Ich hatte bis dahin schon einige Jahre als Anwältin für Menschen- und indigene Rechte gearbeitet. In meiner Arbeit zu den Rechten Indigener hatte ich bereits viel über Anthropologie und Soziologie erfahren, also entschloss ich mich, mich beruflich zu verändern und Sozialwissenschaften zu studieren. Deswegen war dann auch Deutschland eine Option, weil es dort das Lateinamerikanische Institut der Freien Universität Berlin gab, das ein stark sozialwissenschaftlich geprägtes Studienprogramm anbot. Als ich mich dort zum ersten Mal bewarb erhielt ich eine Absage, weil meine Studienleistungen vor allem in Jura waren. Nachdem ich dann mein Diplom in Indigenen-Rechten und Interkulturalität gemacht hatte, wurde ich von der FU Berlin angenommen. Nachdem ich das letzte Seminar meines Masters beendet hatte, ging ich in die Niederlande, um für ein Jahr an einem Trainingship in einer Forschungsgruppe für Migration an der Universität Maastricht teilzunehmen. Dieses Trainingship diente meiner Vorbereitung für meine Masterarbeit über Identitätswandel peruanische Migrant*innen in Berlin. Während dieses Jahres musste ich andauernd zwischen Maastricht und Berlin pendeln. Kurz nachdem ich die Arbeit beendet hatte, kam die Pandemie, und ich sagte meinem Mann, der Niederländer ist, dass mir Berlin besser gefiel und dass ich dorthin zurück wollte. Berlin ist ein multikultureller Raum und in Europa der Ort, an dem ich mich zu Hause fühle. So sind wir dann wieder hier gelandet.

InfoPeru: Wie lief für dich die Ankunft in Deutschland? Was waren deine ersten Eindrücke?

Ich hatte eine sehr spezielle Vorstellung davon, wie Deutschland sein würde, da ich ja in der Humboldt-Schule in einem Umfeld gewesen war, von dem ich dachte, es wäre wie Deutschland. Meine Schule war für mich ein sehr sicherer Ort, an dem ich sehr glücklich war. Wir hatten an der Schule zum Beispiel Wahlen zur Schüler*innenvertretung. Wir waren Teil der Schulversammlung. Ich habe mich super gut gefühlt, dass ich diese partizipative und demokratische Bildung genießen durfte. Daher war das für mich Deutschland. Auch meine Schwester, die damals schon in München wohnte, bevor ich nach Deutschland kam, erzählte mir immer tolle Geschichten von ihrem Leben dort. Ihre Migrationsgeschichte war aber auch ein bisschen anders als meine. Sie war damals sehr jung, 18 oder 19 Jahre alt, ich hingegen war schon 34, als ich nach Deutschland kam. Also beobachtete ich viele Dinge. Ich bemerkte, dass es in der deutschen Gesellschaft ein hohes Maß an konstruierter Andersartigkeit gibt. Dieses Konstrukt basiert auf dem Denken, dass es „uns Deutsche“ und „euch Andere“ gibt. Diese Andersartigkeit drückte sich auf verschiedene Weisen aus. Ich hatte viele Leute, die mir halfen und meine Freundinnen wurden. Das war anfangs schwierig, weil ich das Gefühl hatte, dass mit den deutschen Freund*innen, die ich habe, Freundschaften sehr ernst sind, in jeder Hinsicht. Ernst in dem Sinn, dass es nicht immer wahnsinnig spaßig ist, aber auch hinsichtlich gegenseitiger Verpflichtungen in einer Freundschaft. Also ist es eine unterschiedliche Art der Freundschaftsbildung. In Freundschaften habe ich mich damit sehr wohlgefühlt, aber von der Gesellschaft im Allgemeinen habe ich auch das andere erlebt. Ich war immer wieder einem gewissen Paternalismus ausgesetzt, auch in der Universität. Ich kam um meinen Master zu  machen, aber ich war damals ja schon 35 Jahre alt, hatte bereits einen Master in Verfassungsrecht und hatte schon über zehn Jahre gearbeitet. Trotzdem war laut meiner Professor*innen meine Meinung nichts wert. Das was sehr hart. Aber Berlin ist meine Stadt, weil ich lateinamerikanische Freund*innen beziehungsweise Freund*innen aus verschiedensten Teilen der Welt und sehr engagierte deutsche Freund*innen habe. Also bin ich glücklich hier.

InfoPeru: Wie kamst du dazu dich bei der Lateinamerikanischen Fraueninitiative Neukölln (LAFI) zu engagieren? Was sind eure wichtigsten Anliegen?

Die Zeit in den Niederlanden war für mich ziemlich schwierig. Denn meine erste Erfahrung als Migrantin machte ich in Berlin. Berlin ist eine große und harte Stadt, ich komme auch aus einer solchen Stadt. Deswegen fühlte ich mich mehr oder weniger heimisch. Auch auf Demonstrationen von Peruaner*innen ging ich hier. Als ich dann in die Niederlande ging, hatte ich nichts.  Außerdem hatte ich dort auch meine erste Arbeitserfahrung. Zum ersten Mal erlebte ich, was Kolleg*innen sind. In Peru sind Kolleg*innen auch Freund*innen, aber hier nicht. Hier sind Kolleg*innen einfach nur Kolleg*innen. Daher fühlte ich mich sehr einsam. Des Weiteren gab es dort keinen politischen Aktivismus. Deshalb sagte ich mir, dass ich dort nicht hingehöre und dass ich zurück ins politische Berlin gehe. Dann zeigte mir meine Schwester ein Video der LAFI. Daraufhin schickte ich ihnen eine Bewerbung und sie luden mich zu einem Auswahlgespräch ein. Mir gefiel ihre feministische, intersektionale, antirassistische, antiimperialistische und dekoloniale Positionierung. Die LAFI ist inhaltlich sehr kohärent. Was mich am meisten motivierte, war, dass man sich in Deutschland vor allem mit den größten und problematisierten Minderheiten auseinandersetzt und sie erforscht. Über die Peruaner*innen in Deutschland weiß man fast nichts. Deswegen wollte ich mehr über meine Gemeinschaft lernen, auch über die Sozialwissenschaften.

Einige unserer Leitthemen sind politische Einflussnahme, die Begleitung der lateinamerikanischen Frauen mit Blick auf sexuelle und reproduktive Gewalt, die gemeinschaftliche Kunst zur Vermittlung von Sichtbarkeit der Erfahrungen sowie als Handlung der Ermächtigung. Ein weiteres Leitthema ist die Selbstsorge durch beispielsweise Yoga oder Workshops zum Menstruationszyklus. Wir wollen in Zukunft häufiger Selbstsorge-Workshops für Aktivistinnen anbieten, weil wir uns zu sehr mit den Erlebnissen anderer Menschen belasten. Wir verbinden die gemeinschaftliche Kunst mit der Forschung, also wir machen eher qualitative als quantitative Forschung. Unsere Workshops zur gemeinschaftlichen Kunst erfüllen zwei Aufgaben gleichzeitig. Sie dienen einerseits zur Forschung, anderseits entstehen dabei natürlich auch Kunstwerke zum Ausstellen. Seit neustem begleiten wir auch Frauen, die Opfer von sexueller und reproduktiver Gewalt waren. Darüber wollen wir zukünftig auch forschen, um Zahlen über lateinamerikanische Frauen zu erhalten, die so etwas auch hier erleben. Viele Frauen verlassen ihre Heimat in Lateinamerika genau aus diesem Grund und es gibt auch in Deutschland ähnliche Fälle. Deswegen wollen wir die Dimensionen dieses Problems erforschen.

InfoPeru: Welche Aspekte Deiner peruanischen Kultur haben Dir hier in Deutschland geholfen?

Ich glaube, dass mir besonders geholfen hat, flexibel zu sein. Wir Peruaner*innen sind mit vielen ungewissen Situationen konfrontiert. Man rechnet mit A, aber bekommt B. Damit muss man lernen umzugehen. Ich habe den Eindruck, dass ich in vielen Situationen mit der deutschen Bürokratie eine Widerstandsfähigkeit hatte, weil ich Peruanerin bin. In Peru muss man sich auf alle Eventualitäten vorbereiten, man weiß nie was passieren wird. Selbst die Geographie des Landes, die so unvorhersehbar ist, es kann beispielsweise jederzeit zu einem Erdbeben kommen, macht uns für den Plan B bereit. Da die Regierung dir in einer solchen Situation nicht hilft, musst du das selbstständig regeln. Deswegen sind wir immer für einen Plan B und Eigeninitiative vorbereitet, um unsere Probleme zu lösen. Mein Empfinden ist, dass die Idee deutscher Effizienz ein falsches Narrativ ist. Das hat sich auch in der Corona-Krise gezeigt. Vielleicht sage ich das aber auch nur, weil ich in Berlin lebe. Dieser Teil meiner peruanischen Kultur, dass wir immer versuchen Lösungen für Probleme zu finden, dass wir vorbereitet sind und uns nicht zu sehr ärgern, wenn ein Zug fünf Sekunden zu spät kommt (lacht). Das, glaube ich, hilft mir sehr.

InfoPeru: Als Peruanerin, was hat dich am Leben und den Menschen in Deutschland überrascht?

Ich habe es schon so erlebt, dass ich hier „die andere“ war. Das ist paradox, weil Berlin ja als die multikulturelle Stadt Deutschlands gilt. In dem multikulturellen Diskurs in Deutschland sind die Lateinamerikaner*innen kaum sichtbar. Als ich damals in Kontakt mit der Ausländerbehörde war, gab es von vielen Dokumenten keine spanische Übersetzung. Die gibt es erst seit kurzem immer mehr.

Außerdem hat mich noch der Paternalismus überrascht. Ich hatte oft das Gefühl, dass oft davon ausgegangen wurde, ich wüsste Dinge nicht, die ich aber wusste. In der Uni zum Beispiel fand ich es unfassbar, dass sie mir von der Geschichte meiner Region und meines Land erzählten. Manchmal intervenierte ich und hatte dann das Gefühl, ich würde nicht ernst genommen. Oft sagten sie mir Dinge wie „wir sind in Deutschland, hier läuft das so nicht“. Das fing schon bei der Mülltrennung an. Als ich in einer WG lebte, wurde bei falscher Mülltrennung immer angenommen, ich wäre das gewesen, obwohl ich es nicht war. Und das war eine super progressive WG. Das hat mich überrascht. Aber ich wurde auch auf positive Weise überrascht. Es gibt viele Leute, die Peru kennen und sich dafür interessieren und neugierig sind. Viele von ihnen sagen dann so: „Sandra, erzähl mal!“ Und nicht so von wegen „Ich habe dort Urlaub oder mein Praktikum gemacht und erzähle dir jetzt mal, wie es dort so läuft.“ Das ist mir nämlich auch schon passiert.

InfoPeru: Was sind Deine weiteren Pläne?

Es war mitten in der Pandemie, als ich nach Berlin zurückkam. Ich war keine Studentin mehr und suchte Arbeit. Also war es echt schwierig, auch persönlich. Denn in Peru wütete die Pandemie. Ich lebe in sowas wie einem transnationalen sozialen Raum Peru-Berlin. Daher erlebte ich das, was in Peru während der Pandemie geschah, auf eine sehr harte und emotionale Weise, fast so, als wäre ich dort. Ich könnte nicht einmal an meinen Händen abzählen, wie viele Menschen, die ich in Peru kannte, gestorben sind.  In Berlin hingegen ist niemand gestorben, den*die ich kannte. Deswegen war das eine ganz schöne Herausforderung für mich, Arbeit zu suchen und zu finden. Ich habe bisher eine sehr bunte Karriere, da ich Jura studiert habe, aber hier kann ich nicht als Juristin arbeiten. Und hier habe ich Lateinamerikastudien studiert, aber hier interessiert die lateinamerikanische Gemeinschaft niemanden (lacht). Also musste ich schauen, wohin ich mich mit meinem Profil passe. Mein Plan für die Zukunft ist damit weiterzumachen, sozio-kulturelle und Entwicklungsprojekte für Lateinamerikaner*innen zu entwickeln. Das passt am besten zu meinen Fähigkeiten. Das sind meine Pläne, ich will hier weitermachen, weil ich gerne in dieser Stadt (Berlin) lebe. Beruflich will ich weiterhin Projekte und Workshops entwickeln, mit denen wir Frauen unterstützen. Vielleicht werde ich mich nächstes Jahr für einen Ph.D. bewerben.

Info Peru: Viel Glück für die Bewerbung und all deine anderen Projekte!

Übersetzung und Redaktion: Jonas Emrich