Die Ärztin

Deutsche Sozialarbeiter, Entwicklungshelfer und Missionare gehen in die sog. Dritte Welt, um den Ärmsten zu   „ helfen“.  Jenny De la Torre hat den umgekehrten Weg gewählt. Die peruanische Ärztin kümmert sich in Berlin um die Ausgestossenen der deutschen Gesellschaft. 

Eines hat Jenny De la Torre mit der mächtigsten Frau der Welt gemeinsam.  Beiden hätten das wichtigste historische Ereigniss vor ihrer Haustüre beinahe verschwitzt. Angela Merkel gibt an, an jenem 9. November 1989 in der Sauna gewesen zu sein, während Jenny De la Torre in einem Ost-Berliner Schwimmbad als einzige Schülerin ihre Schwimmprüfung absolvierte. Nach 13 Jahren in der DDR, einem Land, das Schwimmweltmeisterinnen in Serie produzierte, wollte Jenny De la Torre nun selber von den Besten lernen und ihren Schwimmstil verbessern. Die Berliner Mauer fiel ausgerechnet  an diesem Tag; das Leben der Jenny De La Torre nahm eine Wendung, die sie zu den Ärmsten der Gesellschaft und schließlich in die Pflugstrasse 12 in Berlin-Mitte brachte.

Das Haus in der Pflugstrasse 12 ist ein roter Backsteinbau in einer Strasse, die sich bisher den Sanierern entzogen hat. Keine 100 Meter weiter stand einst die Mauer,  das ehemalige Randgebiet ist nun mitten im hippigen Berlin angesiedelt. „Gesundheitszentrum für Obdachlose“ steht über der zweiflügligen alten Holztür.  Eine knapp 1, 60 Meter grosse Frau mit einfacher Rundhaarfrisur in weisser Hose und Kittel  öffnet die Tür.  Dr. Jenny De la Torre ist die Chefin des Gesundheitszentrums für Obachlose.  Ihr Sprechzimmer ist nüchtern und zweckmässig eingerichtet, keine Familienfotos. Auch kein Kreuz, keine Che Guevara- Portrait  oder Symbole, die auf ein Glaubensbekenntnis hinweisen, schmücken die Wände. Nur eine grosse Tafel mit dem Eid des Hippokrates:

“Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.”

Ihre Kindheit in den peruanischen Anden hat Jenny De la Torre gezeigt, wie wichtig es sein kann, rechtzeitig einen Arzt zu finden.

Puquio

Es war schwer in Puquio einen Arzt zu erreichen. Der hochgelegene Ort in den peruanischen Anden war vor 50 Jahren nur auf einer mehrtägigen Reise auf einem Holperweg zu erreichen. Jenny De la Torre war 6 Jahre alt, als ihre Mutter schwer erkrankte, und die Familie den einzigen Arzt des Kreises von weit her zu sich kommen liess. Auf einmal klopfte es an der Tür, und ein tränenüberströmter 13-jähriger Junge stürmte herein. “Der Arzt soll zu meinem Vater kommen,  er ist krank, schnell”, bettelte der Junge. Die kleine Jenny erklärte, dass der Arzt jetzt bei ihrer Mutter sei und nicht sofort zum Vater des anderen Jungen weggehen könne. “Ich fühlte mich so schlecht, als wir beiden Kinder um den Arzt stritten”, erinnert sie sich noch 50 Jahre später an dieses, ihr Schlüsselerlebnisis. Damals reifte eine Erkenntnis in ihr heran: Es gibt zu wenig Ärzte in Peru für die arme Bevölkerung.  Und dass sie Ärztin werden möchte, um diesem Mangel abzuhelfen.

Im zweiten Stock

Im zweiten Stock des Gesundheitszentrums vermischt sich der sterile Krankenhausgeruch mit dem Geruch warmen Essens und dem Geruch ungewaschener Kleidung auf ungewaschener Haut, vermischt mit leichtem Alkoholdunst.  Es ist Winter in Berlin, die Strassen sind nass bis eisglatt, die Temperaturen kaum je über Null grad. Im Winter auf der Strasse zu überleben, ist brutal. Die Obdachlosen, die in die Pflugstrasse 12 zum Mittagstisch oder zum Aufwärmen kommen, haben sich mehrere Tage nicht gewaschen. Jürgen G.  hat immer seine Sporttasche dabei,  in der sich seine Habseligkeiten befinden, will einen Schlafplatz. Neben ihm sitzt ein Mann, der mit seinem zotteligen grauen Haar und langen Bart, und dem  von Kälte oder Alkohol geröteten Gesicht ebenso gut 50 wie 70 Jahre alt sein kann. Er überragt die Frau Doktor, wie er sie nennt, um zwei Kopfeslängen. Sein Knie macht ihm Beschwerden. Jenny De la Torre beraumt eine Untersuchung für ihn bei einem Orthopäden an, einem pensionierten Kollegen, der wie alle Ärzte und Psychologen, hier freiwillig Dienst tut.  „Zu uns kommen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, Obdachlosigkeit kann jeden treffen“, erzählt Jenny De la Torre.  „Auch in einem Sozialstaat, wie Deutschland“.

Ostbahnhof

Als Dr. Jenny De la Torre1994 begann,  ärztliche Sprechstunden für Obdachlose am Berliner Ostbahnhof abzuhalten, war dies die vorläufige Endstation einer für sie langen Odyssee: 1976 kam die junge Medizinstudentin nach Leipzig; „ Aus Zufall“,  sagt die Ärztin ,  „Eine Kommilitonin mit einem Stipendium der DDR  studierte in Rostock und gerade wurde im Seminarraum der Universität Ica eine Postkarte von ihr vorgelesen. Ich dachte, das könnte ich auch probieren“.  Es gelang ihr ebenfalls ein Stipendium zu bekommen ,  und nach Beendigung ihres Studiums in den 80-er Jahren kehrte sie nach Peru zurück. Aber sie hatte nicht mit der peruanischen Bürokratie gerechnet. Bis heute haben es Ärzte schwer, ihr im Ausland absolviertes Medizinstudium in Peru anerkennen zu lassen. Nach fast einem Jahr vergeblichen Ämterlaufs gab Jenny De la Torre auf und ging in die DDR zurück, machte ihren Facharzt in Kinderchirurgie.  Kurz nach dem Mauerfall ein zweiter Anlauf in Peru – vergeblich, die peruanische Ärztekammer verlangte immer neue Papiere. Das Land, das so dringend Ärzte braucht, macht es ihnen nicht leicht.

Jenny De la Torre ging wieder zurück in das Land, in dem sie nun seit 14 Jahren lebte. War eine von vielen arbeitslosen Ost-Ärzten im eben wiedervereinigten Deutschland.

Die Ärztekammer Berlins bot ihr schliesslich einen Projektplatz an: eine Arztpraxis für Obdachlose am Ostbahnhof aufzubauen.

„Wir hatten für die Artzpraxis nur einen 12 m²-kleinen fensterlosen Raum neben dem Speiseraum“, erinnert sich Jenny De la Torre an ihren ersten Arbeitsplatz, an dem sie mit Obdachlosen zu tun hatte. „Ich habe Krankheiten gesehen, von denen ich nicht erwartete, sie hier zu sehen. Der katastrophale Zustand meiner Patienten hat mich stark beeindruckt. Krätze, Läuse, offene Beine und angewachsene Socken waren an der Tagesordnung. Ich habe mich in der DDR auf mein Land vorbereitet, weil ich nicht wissen konnte wo ich eingesetzt werde. Alle diese Erfahrungen konnte ich nun auch hier für meine Patienten nutzen“.

Eine Option treffen

Nach zwei Jahren Obdachlosenmedizin am Berliner Ostbahnhof bekam Jenny De la Torre andere Jobangebote.  Sie lehnte ab und blieb.

„Was ist wichtiger: Leben oder Geld? Geld kann man überall verdienen, aber hier werde ich am meisten gebraucht“.

Nicht nur als Medizinerin war Jenny De la Torre gefragt.  Wenn man Obdachlose betreut, müßte man auch ein wenig Rechtsanwalt, Sozialarbeiter und Psychologe sein. Die Ärztin hat gesehen, wie schnell man als Obdachloser aus allen Systemen des Sozialstaates herausfällt und wie schwer es ist, wieder reinzukommen. “In Deutschland gibt es ein Sozialhifesystem, vielleicht sogar eins der besten der Welt. Und trotzdem fallen hier Menschen durch das soziale Netz. Wenn man arm wird, auf der Strasse landet, ist man meist ganz allein. Es betrifft nicht nur arme, sondern auch andere Schichten, die durch einen Schicksalsschlag obdachlos geworden sind”

Nach und nach kam die öffentliche Anerkennung für Jenny De la Torres medizinisches und soziales Engagement.  Die Charité verlieh ihr den Ehrendoktor.  Im Jahr 2002 bekam sie den Medienpreis „Goldene Henne“. Das Preisgeld bildete den Grundstock für ihre eigene Jenny- De la Torre- Stiftung, in der sie sich bis heute  um Berliner Obdachlose kümmert.

Dass sie, als Peruanerin aus einem „Entwicklungsland“  kommend, sich nun um die Randständigen einer reichen Gesellschaft kümmert, verwundert Jenny De la Torre nicht.   “Es ist nicht wichtig wo man lebt, sondern was man tut. Es spielt keine Rolle, ob man nun Peruaner, Chinese oder was immer ist. Man muss einfach helfen.“ 

Dr. Jenny De la Torre bezeichnet sich nicht als guten Mensch vom Dienst, sondern sie hilft, weil sie genau das gerne tun möchte. Helfen als Selbstverwirklichung.  Und als Nehmen und Geben – „wir sind alle voneinander abhängig. Die Hilfe, die ich gebe, kommt zurück. “

Vielleicht hat sie dies nicht nur an der medizinischen Fakultät gelernt, sondern in ihrer Kindheit in den Bergen von Puquio. „Reciprocidad“ – das Gleichgewicht von Geben und Nehmen ist Grundlage der andinen Sicht von Solidarität, die Dr. Jenny De la Torre  an die Ränder der  deutschen Gesellschaft geführt hat.

Hildegard Willer