Nicht mehr Meer, sondern mehr Solidarität!

Zum Schiedsspruch aus Den Haag

130 Jahre hat es gedauert, bis Ende Januar diesen Jahres die Peruaner und Chilenen ihren Grenzstreit beilegen konnten.Die Richter des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag entschieden am 27. Januar 2014 über eine zwischen Chile und Peru strittige Meeresgrenze. Peru hatte  6 Jahre zuvor  eine Grenzziehung nach internationalem Recht beantragt, während Chile sich auf frühere Fischereiabkommen zwischen Chile und Peru berief.  Das Urteil aus Den Haag war ein salomonisches: die Peruaner bekamen die Hoheit über 50 000 Seemeilen weit draussen im Pazifik neu zugesprochen; den Chilenen durften  die fischreichen Meeresgründe nahe der Küste behalten.  Sowohl der peruanische Präsident Ollanta Humala als auch der chilenische Präsident Piñera nahmen das Urteil an und versprachen damit ein Ende der seit 1883 andauernden Animositäten zwischen den beiden Ländern.

Jedes Land hat ein verbindendes Ereignis in der Vergangenheit, das Identität nach innen stiftet und das für Aussenstehende nie zur Gänze nachvollziehbar ist.  Vor allem dann nicht, wenn es sich um ein traumatisches Erlebnis handelt. Für Peruanerinnen und Peruaner gibt es zwei identitätsstiftende traumatische Erlebnisse: die Conquista durch die Spanier ist ein Urtrauma,  das  vor allem die indigene Bevölkerung bis heute prägt. Das traumatische Ereignis für die mestizischen Küstenbewohner geschah fast 300 Jahre später: im sogenannten Salpeterkrieg belagerten die Chilenen 1979 – 1883 zwei Jahre lang Lima und eroberten einen grossen Teil des damals peruanischen und bolivianischen Gebietes. Am 8. Oktober 1879 unterlagen die Peruaner den Chilenen in der Seeschlacht von Angamos.

Von diesem Trauma für die Peruaner – bzw. Triumph für die Chilenen – hat sich das peruanisch-chilenische Verhältnis bis heute nicht gelöst. Die noch offene Meeresgrenze war eine letzte offene Wunde dieses alten Zwists.

Der Schiedsspruch aus Den Haag bildet die Grundlage für eine Normalisierung des politischen Verhältnisses zwischen den Völkern, so wie sie sich in der wirtschaftlichen Integration seit langem zeigt: Chile und Peru haben  grosse Investitionen in jeweiligen Nachbarland; beide sind Teil der Pazifik-Allianz, die als wirtschaftsliberales Gegenmodell zum Mercosur in Südamerika gegründet wurde. Bereits wenige Tage nach dem Schiedsspruch kündete der peruanische Energieminister an, dass Peru nun auch Energie nach Chile – und nicht nur nach Brasilien – verkaufen könne.

Genau hier ist der Punkt, in dem internationale Solidaritätsarbeit auch mit solch national besetzen Themen zu tun hat: immer wieder aufmerksam  zu machen darauf, wer von der neuen peruanisch-chilenischen Freundschaft profitiert, und wer vom Profit und den Entscheidungen ausgeschlossen werden soll. Und wer und was sich hinter dem Deckmantel der nationalistischen Attitüde, die – ebenso wie ein Fussballspiel – die Emotionen anspricht und den Verstand vernebelt, in Wirklichkeit tut.

Die peruanische Historikerin Cecilia Méndez hat dies so ausgedrückt:

“ Ich möchte nicht noch mehr Meer, wenn die Peruaner, die es von den Chilenen fordern, dieses Meer nachher nicht mit anderen teilen; wenn sie das Meer, das wir bereits haben,  mit Zäunen und Seilen abtrennen, damit die Armen und die Farbigen nicht reinkommen; wenn sie das Meer hemmungslos plündern, jedesmal wenn der Preis für Sardellen in die Höhe geht. Der falsche Patriotismus steht mir bis zum Hals, der Patiotismus, der nur scheinheilige Hülsen liefert, während er die grossen Drogenhändler aus den Gefängnissen entlässt und seine Bewohner weiterhin in Bürger erster und zweiter Klasse einteilt. Das Meer ist für den, der es zu bewahren weiss, und wenn es ein anderes Land als Peru besser schützt, dann ist das auch gut.

Nein, ich werde mir am 27. Januar  (dem Tag der Urteilsverkündung aus Den Haag, d.R.) keinen Samt umlegen. Ich werde nicht beim Balkon-Nationalismus mitmachen. Die Heimat wird nicht durch ein paar Kilometer Meer oder Land mehr oder weniger grösser, sondern dann,  wenn sie die Ressourcen, die sie bereits hat, schützt.  Angefangen bei ihren Menschen.”

Hildegard Willer