Post-Extraktivismus oder Fortschritt mit Bergbau: eine Debatte

Der Postextraktivisums-Denker Eduardo Gudynas und der peruanische Wirtschaftler Germán Alarco debattieren darüber, ob Peru  Bergbau braucht oder nicht. Spannend!

In Peru debattieren „Öko-Linke “ und „Progressisten“ über die richtigen Diagnosen und Strategien für die Entwicklung der heimischen Wirtschaft. Es gibt sowohl Überschneidungspunkte als auch signifikante Unterschiede in der Auffassung darüber, welche Rolle die Ausbeutung von Rohstoffen und die extraktiven Industrien im Land spielen sollen. Es ist ein international heiß diskutiertes Thema, das nun auch lokal zu Streit führt. Es regt dazu an, die eigenen Vorschläge anzupassen und zu verfeinern. Entscheiden Sie selbst.

Vielen Dank dem Nord-Süd-Forum München für die deutsche Übersetzung der beiden Texte.

 

PRO: Der Widerstand zu den Rechten der Natur zeigt die Spannungen zwischen der Linken und dem Progresismo.[1]

Von Eduardo Gudynas

 

In den letzten Monaten wurden die Alternativen zum Extraktivismus (insbesondere Bergbau und Erdölförderung) sowie der Respekt vor der Natur hart kritisiert. Einige Kritikpunkte wurden von politisch konservativen Akteuren geäußert und sind dadurch wohlbekannt; andere Kritikpunkte sind neuer und werden von sogenannten Progressisten geäußert. Letztere interpretieren die Rechte der Natur falsch. Ebenso sind sie jener alten Vorstellung verhaftet, dass Wachstum durch den Export von Rohstoffen gefördert werden sollte.

Am interessantesten ist jedoch, dass diese Kritiken eine Entwicklung widerspiegeln, die in anderen Ländern zu deutlichen Unstimmigkeiten zwischen dem Progresismo und der Linken geführt hat.

 

Die Kritik an den Rechten der Natur

Ein gutes Beispiel für jene neuen Kritiker an der Umweltbewegung ist Germán Alarco. Er ist Ökonom der Universidad del Pacífico und Mitarbeiter in den technischen Arbeitsgruppen des Frente Amplio. In einem Artikel in der peruanischen Tageszeitung „Gestión“, beschreibt Alarco die Verteidigung der Rechte der Natur als „fragwürdig“ und qualifiziert die post-extraktiven Alternativen als „radikal“ (1).

In diesem Artikel argumentiert der Ökonom mit zahlreichen Mythen: z.B. dass der Schutz der Natur mit einem Primitivismus und Rückschritt einhergeht, dass es ein „Modell“ der Mutter Erde und der Apus gibt dem „alle“ folgen müssten und auch, dass Rohstoffexporte für das Wirtschaftswachstum zwingend notwendig sind (1, 2).

Alarco argumentiert in seiner Kritik an den Rechten der Natur, dass es maßlos übertrieben sei, die Förderung von Rohstoffen aufgrund ihrer negativen Wirkungen auf Menschen und Umwelt zu kritisieren. Er sagt also: es ist bloß eine Übertreibung der „Radikalen“, wenn negative Konsequenzen des Extraktivismus angeprangert werden  und nach Alternativen gesucht wird. Um nicht als „radikal“ zu gelten, sollte man weder jene negativen Auswirkungen anklagen, noch nach Alternativen suchen.

 

Die Kritiken beziehen sich auf zahlreiche Ideen aus meinem Buch „Die Rechte der Natur“ (3). Dabei stellen sie sogar den Gedanken infrage, dass die Natur in erster Linie zur Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse verwendet werden sollte. Ich möchte klarstellen, dass die „biozentrischen“ Positionen aus meinem Buch nicht eine unberührte Natur verteidigen. Die Rechte der Natur bedeuten lediglich eine Beschränkung im Gebrauch der Rohstoffe um das Aussterben weiterer Spezies zu verhindern. Anders gesagt geht es darum, die Umwelt innerhalb ihrer eigenen Reproduktions- und Regenerationszyklen zu nutzen.

 

Die Nutzung der Umwelt zur Befriedigung der Grundbedürfnisse bedeutet, dass es legitim ist, Nahrungsmittel zu produzieren. Es ist auch legitim, Minerale und Energie zu fördern, um national und regional einen bestimmten Lebensstandard zu sichern. Umgekehrt ist es jedoch verwerflich, Gold im Tagebau, mit all seinen negativen Auswirkungen, abzubauen. Denn dieses Gold wird für Schmuck in China oder Indien verwendet (weltweit sind 90% der Gold-Nutzung nicht-industriell; von diesen wiederum landen 45% in der Schmuckproduktion, vor allem für die neuen wohlhabenden Oberschichten in Asien). Insoweit bejaht der Biozentrismus die Beseitigung der Armut und der Gewährleistung von Wohlstand. Er stellt sich gegen nutzlosen Reichtum.

 

Entwicklung und  Post-Extraktivismus

Ich schreibe diesen Artikel um zu verdeutlichen, dass die Kritiken an den Rechten der Natur und den Post-Extraktivismen auf Irrtümern und oberflächlicher Lektüre der relevanten Literatur basieren. Sie verwechseln Bergbau mit Extraktivismus, Degrowth mit Post-Extraktivismus. Sie haben Angst davor, dass Naturschutz uns zurück in die Steinzeit wirft. Sie hinterfragen ein Ölfördermoratorium und vergessen dabei den unermesslichen Schaden, den diese Aktivität dem Amazonas und dem globalen Klima zufügt.

 

Positionen wie jene von Alarco zeigen, dass sie in konventionellen Vorstellungen von Wachstum gefangen sind. Es ist interessant, dass er als Ökonom trotz allem zugibt, dass Indikatoren wie das Bruttosozialprodukt nur eingeschränkt gültig sind. Er unterscheidet sich auch von konservativen und neoliberalen Ökonomen, indem er sagt, dass Wachstum nicht das einzige Ziel einer Wirtschaftspolitik sein kann.

 

Trotzdem verteidigt Alarco Wachstum, dieses sollte jedoch „nachhaltig“ sein. Die von ihm vertretene Nachhaltigkeit hat jedoch nichts mit dem ökologischen Ursprung dieses Wortes zu tun. Vielmehr bezieht er sich auf ein Wachstum, das durch gesteigerte Exporte ermöglicht wird. Mehr Exporte bedeuten jedoch gleichzeitig den gesteigerten Abbau von Rohstoffen. Damit einhergehend werden sich die Konflikte und negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen verstärken und wiederholen.

 

Keine der Kritiken an den Rechten der Natur und dem Post-Extraktivismus hat wirklich valide Argumente. Vielmehr ähneln sie den Ablenkungen der Konservativen. Und dies ist eine weitere Entwicklung die ich hier hervorheben möchte: auch Alarco bezeichnet die Post-Extraktivisten als „Radikale“.

Zahlreiche Führungspersönlichkeiten der  peruanischen Regierung Humalas, Unternehmer und unzählige Konservative haben den Post-Extraktivismus als „radikal“ beschrieben. Oft wurden wir in den letzten Jahren als „radikale Bergbaugegner“ [mineros radicales] beschuldigt. Ähnliche Adjektive wiederholen sich auf dem ultrakonservativen Nachrichtenportal Lampadia.

 

Wir sind also an einen Punkt gelangt, wo der Post-Extraktivismus und die Rechte der Natur sowohl von einigen progressiven Akteuren als auch von der konventionellen Rechten in Frage gestellt werden. Mangels Argumenten sind sie gezwungen zu adjektivieren, und alles was ihnen nicht gefällt wird somit als „radikal“ bezeichnet.

 

Die Linke und der Progresismo: zwei Positionen zu Entwicklung und Natur

Damit komme ich zum dringendsten Thema dass ich hier kommentieren möchte. Die Positionen zum Extraktivismus und den Rechten der Natur waren die Hauptgründe für die Spaltung zwischen Linken und Progressisten in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Kritiken, wie oben beschriebene, werden in unseren Nachbarländern oft geäußert. Damit machen sie den Unterschied zwischen den politischen Strömungen des Progresismo und denen einer pluralistischen und offenen Linken deutlich.

In der Tat wurden die politischen Umwälzungen seit Beginn des neuen Jahrtausends in vielen Ländern von einer pluralistischen, offenen und demokratischen Linken vorangetrieben. Sie basierten auf sozialen Bewegungen und stellten konventionelle Vorstellungen von Wachstum in Frage. Sie kritisierten jene exportorientierte Wirtschaftsform, die auf Kosten des nationalen ökologischen Erbes allein den Konsum anderer Länder und der lokalen Eliten befriedigte. Dies war die Geburtsstunde der Suche nach post-extraktiven Gesellschaften.

 

Diese pluralistische Linke, welche die Regierungen eroberte, verwandelte sich über die Jahre hinweg in den Progresismo (4). Sie verteidigt nun ein Entwicklungsmodell, das auf intensivem Rohstoffabbau beruht. Der Staat verfällt dabei der Illusion, dass er mit den abgeschöpften Gewinnen den Armen helfen kann. In seinen Diskursen wiederholt er die Idee eines „nachhaltigen“ Wachstums.

 

Die Regierungen Boliviens, Ecuadors und Argentiniens wurden kontinuierlich extraktiver, also progressiver. Dabei entfernten sie sich immer weiter von den Linken Bewegungen die sie an die Macht gebracht hatten. Sie waren so abhängig von den Rohstoffexporten, dass sie ihre eigenen Wege fanden um Mega-Bergbauprojekte und Ölförderung im Amazon auch gegen Widerstand durchzusetzen. Sie flexibilisierten ihre sozialen und ökologischen Standards und verletzten die Rechte von Indigenen und Campesino Gemeinschaften. Diese Regierungen wiederholen ständig, dass die Rechte der Natur dem Fortschritt im Weg stehen und dass der Post-Extraktivismus gefährlich ist.

 

Diese Faktoren gehörten zu den Hauptgründen, wieso einige Progresismos heftigen öffentlichen Widerstand erfuhren (zum Beispiel in Ecuador und Bolivien) und wieso andere kollabierten (Argentinien). Ich schreibe diesen Artikel auch, da es scheint dass die politische Diskussion in Peru diese Tatsachen übersieht. Vielleicht ist es nicht so klar, dass die Korruptionskrise in Brasilien auch vor progressiven Netzwerken und ihren Unterstützern im staatlichen Ölkonzern  nicht halt machte. Je mehr Extraktivismus desto mehr Progresismo und desto weniger Linke.

 

Wir können also in den nicht-konservativen sozialen und politischen Bewegungen zwei Strömungen ausmachen: die progressive verteidigt eine extraktive Entwicklungspolitik mit größerer staatlicher Kontrolle und der Integration in den Weltmarkt; die neue Linke hingegen sucht nach Alternativen um nicht weiterhin vom Export von Primärprodukten abhängig zu sein.

Der Pluralismus dieser offenen Linken bedeutet auch, dass sie ihre auf Wirtschaftswachstum fokussierten GenossInnen akzeptiert. Sie wissen natürlich, dass nicht alle Entwicklungsmodelle gleich sind und dass nur manche ökologische und soziale Gerechtigkeit fördern. Sie wissen auch, dass der Weg zu Veränderung hier nicht endet, und man weitergehen muss. Die Erfahrungen in den Nachbarländern zeigen jedoch auch, dass ein Großteil der Progresismos nicht pluralistisch sind und dass ihr Machthunger die offene und pluralistische Linke zerstört. Nichtsdestotrotz ist genau diese Linke unabdingbar für einen realen Wandel der sowohl konzeptionell als auch praktisch durchführbar ist.

 

 

Quellen:

  1. Crecimiento económico: ¿lo único importante?, Germán Alarco, Gestión, Lima, 4 julio 2016, http://blogs.gestion.pe/herejias-economicas/2016/07/crecimiento-economico-lo-unico- importante.html
    2. Petroperú y la seguridad energética en la mira, Diario Uno, Lima, 28 febrero 2016, http://diariouno.pe/columna/petroperu-y-la-seguridad-energetica-en-la-mira/
    3. Derechos de la Naturaleza. Etica biocéntrica y políticas ambientales, Eduardo Gudynas. RedGE, CooperAcción, PDTG, y CLAES. Lima, 2014.
    4. 10 tesis sobre el “divorcio” entre izquierda y progresismo en América Latina, E. Gudynas. Ideas, Página Siete, La Paz, Bolivia, 9 febrero 2014, http://www.paginasiete.bo/ideas/2014/2/9/tesis-sobre- divorcio-entre-
  2. izquierda-progresismo-america-latina-13367.html

 

Dieser Artikel erschien im spanischen Original in Eduardo Gudynas. Post Desarrollo, veröffentlicht auf La Mula, 21. September 2016. (https://postdesarrollo.lamula.pe/2016/09/21/en-la-oposicion-a-los-derechos-de-la-naturaleza-asoma-la-divergencia-entre-izquierda-y-progresismo/egudynas/?fb_comment_id=1280403978660777_1285990404768801)

 

CONTRA: Der mögliche Wandel und der Post-Extraktivismus: Eine Antwort auf Eduardo Gudynas

von Germán Alarco

Vergangene Woche hat Eduardo Gudynas, Forscher des Centro Latino Americano de Ecología Social (CLAES) und vehementer Verteidiger des Post-Extraktivismus, zahlreiche Artikel meines Blogs kommentiert. Er tat dies, um zu zeigen, dass ich seinen Text Die Rechte der Natur (2014) missinterpretiere und dass ich den veralteten Vorstellungen von Wachstum durch Export von Rohstoffen verhaftet sei. Auch schreibt er, dass meine Haltung in anderen Ländern zu einem deutlichen Bruch zwischen der Linken (repräsentiert durch ihn) und dem durch mich repräsentierten Progresismo geführt hat. Seine Kritik wurde im Onlinemagazin LaMula am 21. September 2016 veröffentlicht. Hier antworte ich ihm und greife dabei auf einige Absätze und Elemente zurück, die wir bereits in der Zeitschrift Poder (November 2015) veröffentlicht haben. Dort haben wir seine Konzepte zu den Rechten der Natur mit der Laudato Si von Papst Franziskus verglichen.

 

Eingangs möchte ich hervorheben, dass der Schutz unserer Umwelt über die klassischen Parteigrenzen hinweg wichtig ist. Die Zerstörungen aus der Vergangenheit und Gegenwart sind schwerwiegende und bedrohen das Überleben der Menschheit. Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels machen deutlich, dass Peru weltweit zu den Ländern gehört, die am heftigsten von seinen Folgen betroffen sein werden. Das Problem existiert, es ist real und es beeinträchtigt uns seit Jahrzehnten. Die Gletscherschmelze in den Anden ist wohl die sichtbarste Folge des Klimawandels. Mittel- und Langfristig sind dies die größten globalen Herausforderungen: der Demografische Wandel, die Auswirkungen des Technologischen Wandels, der Klimawandel, die Zerstörung der Biodiversität (Verlust von Arten), die Energiekrise und die strukturelle Wirtschaftskrise (Alarca, 2012). Zweitens brauchen wir eine stärkere Demokratie in unserem Land. Hierfür benötigen wir Parteien die stärker institutionalisiert sind und klare Positionen haben. Meiner Meinung nach ist die Einheit der Linken unabdingbar. Die progressiven Kräfte, Umweltbewegungen, Föderalisten, Bewegungen der Zivilgesellschaft müssen zusammen arbeiten. In den Worten des peruanischen Politikers R. Prialé: „Wir müssen uns zusammenschließen, die Kräfte bündeln und uns nicht spalten.“

 

Die Vielfalt und Tragweite der Umweltprobleme

Eduardo Gudynas’ Perspektive auf Themen der Umwelt ist nicht ganzheitlich. Er konzentriert sich auf einen wichtigen Aspekt, aber ich glaube nicht, dass dies der bedeutendste ist. Ich gebe zu, dass er eine klar strukturierte These hat. Sein Ausgangspunkt ist die Bedeutung der Rechte der Natur, um von hier zu den schweren Schäden zu kommen welche die extraktiven Aktivitäten (Bergbau und besonders Erdölförderung) auf die Umwelt haben. Seine Lösung für diese Probleme ist die Gestaltung und Umsetzung einer Post-Extraktiven Wirtschaft (oder des „Buen Vivir“ welches den Menschen mit der Natur verbindet). Aber wo ist seine Analyse der Auswirkungen der Treibhausgase, des sauren Regens der urbanen Probleme wie Müllentsorgung? Wo analysiert er exzessive Verschwendung, die Probleme von Trink- und Abwasser, Entwaldung, illegalen Bergbau, Lärm- und Sichtverschmutzung?

 

Der Biozentrismus von Gudynas basiert auf der Annahme, dass die Umwelt und alle Lebewesen unabhängig vom Menschen eigene, intrinsische Werte haben (S. 33). Das bedeutet, dass alle Lebewesen gleich wichtig sind und dass alle es verdienen, geschützt zu werden.  Gudynas sagt, wir müssten versuchen sowohl die nützlichen als auch die Unnützen Arten schützen, jene die einen Geldwert haben als auch jene die wirtschaftlich irrelevant sind, sowohl die schönen als auch die abstoßenden. Auch wenn er einen Egalitarismus unter allen Lebewesen verteidigt, so heißt dies nicht dass alle gleich sind: der Biozentrismus erkennt sowohl die Heterogenität und Vielfalt und sogar bestimmte Hierarchien zwischen den Lebewesen und Ökosystemen an (S. 55-56). Hier wird behauptet, dass alle Ökosysteme beschützt werden müssen, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Nutzen, ihrem Ästhetischen Reiz und unabhängig von ihrem Werbe-Effekt (S. 120). Dabei wird auch ausgeschlossen, dass dies eine primitive oder anti-technologische Ansicht ist (S. 57).

 

Das Konzept des Buen Vivir wird als pluralistisches Konzept im Entstehungsprozess beschrieben. Ausgehend vom Biozentrismus kritisiert es jenes Konzept von Entwicklung, das auf Kosten der Umwelt geht. Der Gegenentwurf zielt darauf ab, die Lebensqualität der Menschen zu sichern und den Verschwenderischen Konsum zu beenden (S. 181). Im Prolog des Buches steht, dass es eine gemeinschaftliche Weltanschauung vorstellt die sich signifikant von der kapitalistischen, westlichen unterscheidet (S. 17).

 

Die radikalen Elemente

Gudynas vertritt den Standpunkt, dass alle Arten ihre eigenen Lebensentwürfe entwickeln sollen (S. 48), und wir glauben er übertreibt damit. In diesem Zusammenhang hebt er die ecuadorianische Verfassung hervor. In dieser ist festgeschrieben, dass die Natur das Recht hat in ihrer Existenz respektiert zu werden. Sie hat ein Recht darauf, dass ihre Regenerationszyklen, ihre Funktion und ihre Entwicklungsprozesse geschützt werden (S. 76-77). Gleichzeitig klagt Gudynas die Regierung Boliviens an, da sie die Ausbeutung von Rohstoffen (wie Minerale und fossile Brennstoffe) ausdrücklich unterstützt und negative soziale und ökologische Auswirkungen dabei billigend in Kauf nimmt. Dies verletze die Rechte der Natur (S. 114). Er kritisiert die Regierung auch, weil in der bolivianischen Verfassung die industrielle Ausbeutung der Bodenschätze festgeschrieben ist (S. 116). Aus seiner Perspektive heraus kann der Mensch die Natur nutzen um seine “Grundbedürfnisse“  zu befriedigen (die Anführungsstriche sind unsere [Alarco]). Er sagt, dass der Mensch keine Hierarchisierung der Arten vornehmen darf, gleichzeitig stellt er klar dass die Rechte der Natur nicht über denen des Menschen stehen (S. 116). Gudynas’ ist ein vehementer Verteidiger der Nachhaltigkeit. Dieser Standpunkt bringt ihn dazu, ein Moratorium der Ölförderung im Amazonasgebiet zu fordern (S. 173). Er möchte die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzflächen verhindern, denn diese sei der Grund für die aktuelle Umweltkrise (S. 193).

 

Gudynas vereinfacht grob wenn er sagt, dass jegliche anthropozentrische Vision  schlecht ist.  Papst Franziskus hingegen spricht von der Notwendigkeit einer anthropozentrischen Perspektive die nicht willkürlich zur Natur ist. Für ihn bedeutet der Biozentrismus eine Beziehung zur Natur, welche isoliert wäre von der Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott. Dies wäre ein romantisierender Individualismus, der sich als unberührte Natur verkleidet und uns in der Immanenz erstickt (119). Eine Rückkehr zur Natur darf nicht auf Kosten der Freiheit und der Verantwortung der Menschen gehen. Die Menschen sind teil der Erde und sie müssen ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln um die Natur zu beschützen und um ihre Potenziale zu entfalten (78). Der Mensch ist der Autor, der Kern und das Ziel jeglichen sozio-ökonomischen Lebens (127).

 

 

Offene Probleme

Gudynas und Papst Franziskus eint das Ziel, die Armut zu besiegen. Beide befürworten eine sparsame Wirtschaft [crecimiento austero]. Ersterer jedoch kritisiert die konventionelle, auf Wachstum basierende Wirtschaft radikaler und drängt auf eine post-materialistische Ordnung in der Wirtschaftswachstum nicht mehr wichtig sei. Die sparsame Wirtschaft bezieht sich auf die entwickelten Ökonomien, welche weniger Rohstoffe konsumieren würden. Wachstumsrücknahme [decrecimiento] könnte die Rahmenbedingung für die Reduzierung der Wirtschaft von z.B. Deutschland, Frankreich oder von Konsum-Schichten im globalen Süden sein (S. 181). Dieses Ziel kann jedoch nicht für Lateinamerika gelten. Ist es überhaupt möglich, dass ein Linksbündnis [Frente Amplio] an die Regierung kommt, ohne dem Ziel von Wirtschaftswachstum? Könnte dies jemals nachhaltig sein?

 

Gudynas übersieht die große Zerstörung unserer Umwelt und sieht bloß die kleinen und mittleren Verschmutzer. Ökosysteme haben sich bereits vor der Existenz des Menschen verändert. Diese teils zerstörerischen Entwicklungen der Natur geschehen seit Millionen von Jahren.  Was ist der „Urzustand“ den wir erhalten sollen? Der von heute? Von vor 10.000 Jahren, einer Million oder von vor 100 Millionen Jahren? Haben andere Arten tatsächlich eigene Lebensentwürfe? Wer hat die Kultur geschaffen? Das Rezept der Nichteinmischung in die Prozesse der Natur kommt verspätet und meistens braucht es das genaue Gegenteil um Schäden zu lindern und zu beheben. Wir brauchen mehr menschliche Intervention, im Gegenteil zu dem was Gudynas vorschlägt. Wir alle kennen die Exzesse der Konsumgesellschaft, aber daraus auf Wachstumsrücknahme zu schließen ist ein Sprung ins Ungewisse. Wer würde solch einen Wandel vorantreiben und gestalten? Wer würde dann noch die Rohstoffe und Dienstleistungen der Entwicklungsländer konsumieren? Wie können wir verhindern, dass wir nach dieser Rückkehr zur Natur nicht wieder zu primitiven Gesellschaften verkommen? Wer ersetzt uns die Steuereinnahmen welche nach solch einem Wandel entfallen werden?

 

Regulierung oder Beendigung jeglicher extraktiver Aktivitäten?

Man muss wirklich kein neoliberaler Ökonom sein, um zu wissen dass verfügbare Devisen wichtig für jedes Land sind. Der keynesianische Ökonom A. Thirlwall  hat dargelegt, dass das Produktpotenzial von der für den Export bestimmten Produktion sowie von der Import-Produkt Elastizität abhängt. Um wirtschaftlich zu wachsen muss man exportieren und den Anstieg der Importe kontrollieren. Um uns zu entwickeln bedarf es mehr als Wirtschaftswachstum, aber ohne Wachstum ist es wirtschaftlich, sozial und politisch unmöglich. Wir sollten Wirtschaftswachstum nicht verherrlichen, aber ohne geht es auch nicht. Welcher Ökonom widersteht heute der Theorie von Waren und Devisen? Ist es möglich die Produktivkräfte jeglicher Wirtschaft zu verwandeln wenn Mangel und Schwarzmärkte an der Tagesordnung sind?

 

Leider ist die Abhängigkeit nach ausländischen Devisen zu einer gefährlichen Sucht geworden. Die schlechte Wechselkurspolitik und die zahlreich unterzeichneten Freihandelsabkommen haben zu einer Aufwertung unserer Währung geführt und dies verschlimmert unsere Lage. Die Überwindung jeglicher Sucht ist schmerzhaft, eine Darlegung der notwendigen politischen Schritte übersteigt jedoch das Ausmaß dieses Artikels. Wir brauchen sowohl die Devisen-Einnahmen aus dem Rohstoffsektor und gleichzeitig eine Diversifikation der Exporte und der Wirtschaft. Eine Wirtschaft die allein auf dem Export beruht funktioniert nicht, eine die auf ihn verzichten möchte genauso wenig. Erstere führt zu hohen Deviseneinnahmen, wenig Arbeitsplätze und aufgrund der perversen Effekte der Holländischen Krankheit zu einem Rückgang der lokalen Produktion. Letztere Option führt auch zum wirtschaftlichen Stillstand, zu Arbeitslosigkeit und Warenknappheit. Wir brauchen eine multisektorielle Perspektive. Die neoliberalen Ökonomen sprechen immer noch von den absoluten und vergleichbaren Wettbewerbsvorteilen. Wir dagegen sprechen von den dynamischen Wettbewerbsvorteilen.

 

Die produktive Diversifikation ist eine dringende Aufgabe, gerade weil die mittel- und langfristige Perspektive der globalen Märkte nicht rosig ist. Wir müssen jedoch auch realistisch bleiben, denn solch ein Wandel geschieht nicht von einem Tag auf den anderen.  Es wird Jahre dauern und wir werden dabei aus unseren Fehlern lernen müssen. Es gibt eine internationale wissenschaftliche Debatte, wie man diesen Prozess gestalten kann. Auch viele von uns in Peru tragen theoretisch und praktisch zu dieser Diskussion bei, aber es wird noch lange dauern bis wir Ergebnisse sehen. Wir glauben jedoch auch, dass wir bereits wichtige Voraussetzungen zur Entwicklung haben. Hierfür müssen wir die lokalen Wirtschaftsprojekte fördern: Ökologischer und gemeinschaftlicher Tourismus, Bioproduktion, Biotechnologie, familiäre Landwirtschaft, biologische Landwirtschaft, Genossenschaften, Fairtrade, Umweltdienstleistungen. Bis solche Projekte funktionieren, dauert es jedoch mindestens drei bis fünf Jahre. Wir dürfen nicht Illusionen verbreiten. Die Liste der Aufgaben um das Wachstum und die Entwicklung voranzubringen ist lang. Hierzu gehören die Reform der staatlichen Institutionen, makroökonomische Stabilität, die Reduzierung der extremen Ungleichheit sowie die Beseitigung der extremen Armut. Wir müssen unsere Infrastruktur verbessern, Ernährungs- und Energiesicherheit gewährleisten, Arbeitsrechte sichern, qualitativ hochwertige Arbeitsplätze und ein System zur finanziellen Unterstützung der Produktivkräfte schaffen.

 

Indem wir sagen, dass wir die exportierenden Sektoren brauchen, heißt dies nicht dass sie machen dürfen was sie wollen. Über die letzten Jahre haben wir über die zahlreichen wirtschaftlichen Probleme jener Sektoren geschrieben. Die Liste ist lang, dazu gehören die Umweltprobleme, eingeschränkte Produktionsketten und wenig Arbeitsplätze; negative Auswirkungen auf andere produzierende Sektoren der Wirtschaft, auf andere Personen und Gemeinschaften; hoher Ausstoß von Treibhausgasen; die holländische Krankheit und die Abhängigkeit von den Preisen auf dem Weltmarkt. Hinzu kommen andere soziale und politische Auswirkungen die wir mit dem richtigen Augenmaß bewerten müssen, denn es gibt auch maßlose Übertreibungen. Als die globale Nachfrage und die Weltmarktpreise auf ihrem Höhepunkt waren, haben wir vorgeschlagen die Produktionsmengen zu regulieren (Alarco, 2011).

 

Kurz gesagt schlagen wir vor, dass jegliche Aktivität im Öl- und Bergbausektor für die Umwelt mittel- und langfristig verträglich ist. Wir müssen uns auch um die Zeit nach der Schließung von Förderstätten kümmern. Ebenso sollte die Zivilgesellschaft in die Überwachung von Umweltstandards einbezogen werden und formelle Konsultationsverfahren etabliert werden. Die lokalen und regionalen Regierungen müssen von Beginn an in die Prozesse der Umweltstudien eingebunden sein, Transparenz und Rechenschaftspflicht ist wichtig; Strategische Umweltstudien wenn nötig; die lokale und regionale Wirtschaft muss von extraktiven Projekten mehr profitieren und falls möglich eine verbesserte Flächennutzungsplanung umgesetzt werden.

 

Im Laudato si beschreibt Papst Franziskus die nötigen Voraussetzungen, um die ökologischen Auswirkungen solcher Projekte besser voraussehen zu können: transparente politische Prozesse die stets den Dialog fördern. Entscheidungen sollten stets zwischen möglichen Risiken und Profiten abwägen wie z.B.: Lärm,  visuelle Verschmutzung oder dem Verlust von kulturellen Werten. Papst Franziskus schlägt mehrere Fragen vor, die wir uns immer stellen sollten wenn wir ein Projekt bewerten dass zur Entwicklung beitragen soll: Für was? Warum? Wo? Wann? Wie? Für Wen? Welche Risiken gibt es? Wie viel kostet das? Wer trägt wie die Kosten? (184, 185).

 

Reflexion

Es ist legitim das „Buen Vivir“ zu verinnerlichen, zu praktizieren und umzusetzen. Besser gefällt mir aber Alberto Acostas Konzept des „Guten Zusammenlebens“ [Buenos Convivires]. Die peruanische Gesellschaft setzt sich aus vielen Kulturen zusammen. Kulturen aus dem Amazonasgebiet und den Anden sind zentral, sie sind jedoch nicht alles. Wir müssen unsere tausendjährige Vergangenheit erhalten und hervorheben, aber der Weg zurück bringt nichts. Uns gefallen Spaziergänge, die uns neue Orte zeigen und uns große Strecken zurücklegen lassen. Uns gefallen die kleinen Schritte, welche weniger Risiken bergen. Viele kleine Änderungen können große Wirkungen haben. Mir gefallen weder die Utopien noch die Etiketten. Ich weigere mich zu sagen, dass das Wirtschaftssystem gewechselt werden muss. Vielmehr denke ich, dass es realistisch, angebracht und möglich ist es zu ändern. Iñigo Errejón hat in einer Diskussion mit Pablo Iglesias vor ein paar Tagen gesagt, dass es darum geht das Volk zu verführen da es uns noch nicht vertraut (durch Überzeugungsarbeit und der Schaffung von Konsens). Ich stimme voll und ganz zu, dass die politische Ökonomie die Lebensqualität der Menschen verbessern und ihren Entscheidungsspielraum vergrößern sollte. Ich habe sicher nicht das ideale Modell des Zusammenlebens für alle Menschen unserer Gesellschaft. Es wäre anmaßend und nahezu totalitär so etwas zu behaupten. Es geht darum in komplexen nationalen und internationalen  Umständen ein Gleichgewicht zu finden. Es ist wichtig zu träumen, aber dabei darf man nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Dies sind die größten Herausforderungen. Laudato Si und die Doktrin der Katholischen Kirche bieten gute Lösungen für unser heutiges Peru. Nach allem was ich gesagt habe, werden sie bestimmt wieder sagen dass ich ein Progressist oder ein Sozialdemokrat bin. Sollen sie doch.

Quelle: German Alarco/Herejías Económicas, Gestión, Perú: 26. September 2016. (http://blogs.gestion.pe/herejias-economicas/2016/09/la-transformacion-posible-y-el-post-extractivismo-una-respuesta-a-eduardo-gudynas.html)

(Anmerkung: Übersetzung des spanischen Textes mit dem Wunsch, auch die nicht spanisch Sprechenden an dieser Diskussion teilhaben zu lassen.  Diese Fassung ist als Beitrag zur Diskussion gedacht. Abdruckgenehmigungen sind nur bei den Autoren einzuholen. München –November 2016, Nord Süd Forum e.V. und AK München-Asháninka. Kontakt: )

[1]                      Progresismo bedeutet auf spanisch Fortschrittlichkeit. In Lateinamerika wird der Begriff für sogenannte Fortschrittliche Bewegungen verwendet.