Paradies unter der Armutsgrenze

Der Deutsch-Peruaner Sebastian Ritter hat nach Abschluss seines Abiturs im Jahr 2016 ein Praktikum bei der Menschenrechts- und Umweltsorganisation CooperAcción im Geburtsort seinen Großvaters in Tambobamba/Apurímac  absolviert und dort ein ganz anderes Leben vorgefunden.

In einem Zeitraum von 3 Monaten konnte ich das Leben in der Dorfgemeinschafht Chullupata kennenlernen. 30 Autominuten von meinem Einsatzort in der Bezirkshauptstadt Tambobamba entfernt, fand ich dort eine vollkommen andere Lebensrealität vor. Während ich also die Frauen, Männer und Kinder bei Ihren alltäglichen Aufgaben begleitete, warfen sich viele Fragen zu meiner (westlichen) Auffassung von Armut auf. Die Zeit, die ich in dieser Dorfgemeinschaft verbringen durfte, hat mir verdeutlicht, dass Geld oder der Mangel an Geld niemals als Gradmesser für die wirkliche Lebensqualität dienen kann.

Eine Dorfgemeinschaft ist im Grunde genommen ein Dorf, dass sich wie eine Eigentümergenossenschaft organisiert. Hauptmerkmal ist wohl, dass der Grund Gemeingut ist und die Verteilung sowie alle weiteren für das Zusammenleben relevanten Dinge innerhalb der Gemeinschaft auf basisdemokratische Weise entschieden und geregelt werden. Auch wenn die Organisation innerhalb einer solchen Dorfgemeinschaft eine sehr interessante soziale Form des Zusammenlebens darstellt und weit in die vorkoloniale Zeit zurück geht, möchte ich in vom Leben in der Dorfgemeinschaft erzählen, vom Alltag der Menschen, den ich für diese Zeit ein wenig mitleben durfte.

Die Arbeit der Frauen

Die Menschen in der Dorfgemeinschaft von Chullupata arbeiten in und leben auschließlich von der Landwirtschaft. Sie bauen Getreide, Kartoffeln und Gemüse an und züchten Schafe. Einige besitzen Kühe oder Pferde. Während die Männer sich um die Arbeiten am Haus kümmern und die meiste Zeit die etwas höher gelegenen und klimatisch kälteren Felder bestellen, wo Kartoffeln wachsen, kümmern sich die Frauen um das Gemüse und den Mais in der Nähe des Dorfes. Ausserdem kümmern sich die Frauen um das Weiden ihrer Schafe. Damit sich Schafe ausreichend ernähren, müssen Sie fast den ganzen Tag lang weiden. Morgens gegen 8 Uhr werden die Schafe freigelassen. Jede Familie im Dorf besitzt etwa 30 Tiere. Den Weg zu den unterschiedlichen Weideplätzen kennen die Herden selbst. Nichtdestotrotz gilt es aufzupassen, dass sich die Herden nicht mischen, einzelne Tiere verloren gehen oder von Füchsen angegriffen werden. Die Frauen nehmen ausgerüstet mit einer Steinschleuder ihre Kinder dabei auf dem Rücken in einem Tragetuch mit. Mit der Steinschleuder kann man die Schafe antreiben und Füchse verscheuchen.

Beim Weideplatz angekommen, kann man die Schafe sich selbst überlassen. Sie weiden und wandern lansam in eine Richtung. In dieser Zeit widmen sich die Hirtinnen anderen Aufgaben. Manche weben sich einen Gürtel, andere bessern ihre Textilien aus. In den Dorfgemeinschaften werden vor allem unter der älteren Bevölkerung viele Traditionen noch weiter praktiziert. So wird die Kleidung  selbst hergestellt. Ein ständiger Wegbegleiter ist deshalb der Huso, eine Spindel, mit der die Schafswolle beim Gehen gesponnen werden kann. Wenn die Kleidung alt und unbrauchbar ist, dann wird sie auf das Feld gelegt und kompostiert dort.

Nach einiger Zeit gilt es, die Schafe wieder einzusammeln und zurück zu treiben. Das macht man mit der Steinschleuder, lautem Rufen und indem man sozusagen einmal um die Herde herumgeht und dann zusammentreibt. Oft nehmen die Frauen ihr Mittagessen mit. Grundnahrungsmittel im Hochland ist der Chuño – kältegetrocknete Kartoffel. Dazu kommt gekochtes Meerschweinchen und manchmal Zwiebelsalat und ein Maisgetränk, die Chicha. Alle Zutaten für diese Lebensmittel wachsen und leben sozusagen vor der Haustür. Das Meerschweinchen wurde mit hoher Wahrschienlichkeit erst an diesem Morgen getötet, ausgenommen und gekocht.

Zurück ins Gehege kommen die Schafe nachmittags gegen 4 oder 5 Uhr. Aus allen Richtungen sieht und hört man dann die Herden zurückkommen. EinenTag mal nur Schafe zu weiden, das sei für Sie Entspannung, erzählt mir eine Comunera. Denn die Frauen müssen sich auch um die Felder kümmern. Abends müssen dann noch die (freilaufenden) Pferde gesucht werden und die Lebensmittel für das Abendessen geerntet und gekocht werden.

Die Arbeit und tägliche Routine als Comunero in einer Dorfgemeinschaft ist keine leichte Arbeit, das merkte ich an diesem Tag vor allem in den Beinen und Füßen. Aber wie viel schöner ist es doch, den ganzen Tag an der frischen Luft zu sein, als in einem engen Büro. Wie unschätzbar reich muss man sich schätzen, sein Essen aus den Nahrungsmitteln herzustellen, die vor der eigenen Haustür wachsen und welche keinerlei künstliche Zusatzstoffe beinhalten, und wie wertvoll ist das Wissen und die Fertigkeit, seine eigene Kleidung herstellen zu können, mit der Wolle der eigenen Schafe.

Ein Leben fast ohne Geld

Nichtdestotrotz, zählen die Menschen in den Dorfgemeinschaften wie Chullupata statistisch zu den Ärmsten Perus und der Welt. Geldeinkünfte haben sie, indem sie das, was von der Ernte übrig bleibt, auf dem Markt verkaufen. Die Landwirtschaft wird auf Grund des schwierigen Geländes mit der Hand ausgerichtet und ist deswegen wenig effizient. Geld erwirtschaften die Comuneros also fast keines. Geld, das brauchen Sie jedoch normalerweise auch nicht. Außer natürlich, wenn ein Familienmitglied erkrankt oder die Kinder eine Schule oder Universität besuchen wollen. In diesem Fall müssen die Tiere verkauft werden, die in der Tat eine Art lebendes Kapital darstellen. Besonders habe ich diese materielle Armut an Weihnachten bemerken können. Keines der Kinder hat von seinen Eltern ein Weihnachtsgeschenk erhalten können. Die Kinder sind zudem von Mangelernährung gefährdet, da manche Lebensmittel und bestimmte Nährstoffe in Chullupata auf 3000 Metern nicht wachsen. Trotz allem haben diese Kinder sonst ein wunderschönes Leben. Zum Dorf führt nur eine Schotterpiste, und Autos oder Fremde kommen fast nie. Nach der Schule – in Chullupata gibt es nur eine Vorschule mit Kindergarten – spielen Sie also unbehelligt im Dorf, klettern auf Bäume oder helfen ihren Eltern auf dem Feld. Kinder im Schulalter gibt es in Chullupata aber nicht, denn die nächste Schule liegt zwei Stunden Fußmarsch entfernt in Tambobamba. Diese Kinder kommen nur selten unter der Woche und auch nur am Wochenende. Eine Folge davon ist, dass sie sich von dem Leben in der Dorfgemeinschaft entfremden.

Die Dörfer sterben aus

Viele Dorfgemeinschaften leiden unter Bevölkerungsschwund. Außer der Landwirtschaft gibt es in einer Dorfgemeinschaft keine Perspektiven. Darüber hinaus macht der Klimawandel den Comuneros zu schaffen, und wer in der Dorfgemeinschaft lebt, wird nach monetären Maßstäben immer sehr arm bleiben.

Natürlich, als Außenstehender sehe ich die Dinge anders und neige vielleicht zur Idealisierung. Ich habe die Wahl und das Privileg auf meinen Wunsch hin die Lebensrealität hier kennenzulernen, die so anders ist, als das, was ich immer erfahren habe. Der Besuch eines Comunero nach Deutschland mit eigenen Mitteln wäre unmöglich. Es gibt viele strukturelle Probleme und insbesondere Dorfgemeinschaften ohne jegliche technische Ausrüstung sind mit Blick auf den Klimawandel besonders prekär. Trotz ihrer körperlich schweren Arbeit haben die Menschen hier fast kein Geld geschweige denn Reserven.

Dennoch: die Originalität, die Routine und Ursprünglichkeit, die Unbehelligtkeit und die Einfachheit des Lebens, das ich in der Dorfgemeinschaft erfahren habe, machen es in so vieler Hinsicht  viel reicher als das Leben, dass ich lebe. Lebensqualität und Glück lassen sich also (glücklicherweise) wohl nicht mit Geld aufwiegen.


Sebastian Ritter Choquehuanca ist Deutsch-Peruaner und wird im Herbst 2017 sein Jura-Studium in Berlin aufnehmen.